Tag Archives: USA

Steph Cha – Brandsätze

Ein erschossener schwarzer Jugendlicher. Polizeigewalt, Proteste, Black Lives Matter. Es ist kaum möglich, näher an die amerikanische Gegenwart heranzukommen als in diesem Roman. Steph Cha erzählt in Brandsätze von zwei Familien, deren Schicksal durch eine verhängnisvolle Tat miteinander verknüpft ist. Und von Rassismus und Gewalt, die eine ganze Nation nicht zur Ruhe kommen lassen (übersetzt von Karen Witthuhn).


Es herrscht eine feindselige und aufgeheizte Stimmung in Los Angeles dieser Tage. Ein schwarzer Junge wurde erschossen. Die Polizei behauptet, der Junge wollte in eine Wohnung einbrechen. Dabei hatte er die Schlüssel für seine Wohnung vergessen und wollte an der Rückseite des Gebäudes in seine Wohnung einsteigen. Nach dem gewaltsamen Tod kocht nun die Stimmung über. Polizeigewalt, struktureller Rassismus, Proteste vonseiten der Black Lives Matter-Bewegung. Was sich wie eine Blaupause der jüngsten Vorfälle in Kenosha oder Wisconsin liest, hat sich die amerikanische Autorin Steph Cha in Wahrheit schon 2019 ausgedacht und veröffentlicht. 2019 spielt auch der Hauptteil ihres Romans Brandsätze, der um zwei ganz unterschiedliche Familien kreist.

Steph Cha - Brandsätze (Cover)

Da ist die Familie von Grace Park. Koreanische Einwanderer, die sich mit einem kleinen Laden im koreanischen Bezirk der Stadt eine eigene Existenz aufgebaut haben. Und da ist die Familie von Shawn Matthews. Die beiden Familie verbindet eine Bluttat, die sich kurz vor den Rodney King-Unruhen 1991 in Los Angeles zutrug.

Shawn sollte zusammen mit seiner Schwester Ava Milch für die Familie besorgen. Seit Monaten herrschte in der Stadt eine angespannte Lage zwischen den verschiedenen Ethnien, insbesondere zwischen Koreaner und Schwarzen. Nach einem Handgemenge im Laden erschoss die Ladenbesitzerin Ava, die das benötigte Geld noch in der Hand hielt, mit einer Handfeuerwaffe. Bei der Ladenbesitzerin handelte es sich um Grace Parks Mutter, die nach dem Vorfall mit einer Bewährungsstrafe davonkam.

Zwei gegensätzliche Familien

Diese Geschichte erfährt Grace erst stückweise, nachdem ihre Mutter niedergeschossen wurde. Der oder die Täter sind flüchtig. Für die Polizei steht aber schnell fest, wo sie nachforschen muss. Die Matthews geraten in das Blickfeld der Polizei, insbesondere, da man in Shawns Familie schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Derweil nehmen die Spannungen in Los Angeles immer weiter zu, nicht zuletzt auch aufgrund des eingangs geschilderten Todes eines weiteren schwarzen Jungen.

Abwechselnd blickt Steph Cha in ihrem Roman immer wieder auf die beiden gegensätzlichen Familien. Da die Familie Matthews, die mit Rassismus und einem schweren Erbe hadert. Und da die Familie Park, die sich anpassen und den amerikanischen Traum zu ihrem eigenen machen wollte, die aber auch trotz aller Assimilierungsversuche mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Steph Cha selbst hat einen Migrationshintergrund, vermeidet in ihrem Roman allerdings geschickt, für eine der beiden Familien Partei zu ergreifen. Sie erzählt ihre Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit basiert, völlig ausgewogen und weckt für beide Seiten dieser Tragödie Verständnis. Das ist erzählerisch ungemein klug gemacht und besitzt eine Relevanz, die dieser Tage immer größer zu werden scheint. Ein literarisch gut ausbalancierter Sprung mitten hinein in die Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen. Ein souveränes Buch, das auch Leser*innen von Celeste Ng, Alexi Zentner oder Leonard Pitts jr. begeistern dürfte. Diese Brandsätze haben es in sich!

Das sieht auch Marcus Müntefering bei Spiegel Online so. Und auch die Frankfurter Rundschau ist vom Roman begeistert. Jetzt dürften gerne noch ein paar Blogger*innen nachziehen. Das Buch hätte es verdient!


  • Steph Cha – Brandsätze
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-7472-0115-2 (Ars Vivendi)
  • 336 Seiten. Preis: 22,00 €

Desert Noir

James Anderson – Desert Moon / Lullaby Road

Es gibt ja vielgestaltige Ausprägungen des Noir-Krimis, also jenem Krimigenre, in dem besonders gerne in die dunklen menschlichen Abgründe geblickt wird und in dem so etwas wie Hoffnung meist völlig fehl am Platz ist. Da gibt es unter anderem das Genre des Domestic Noirs, wie es beispielsweise Paula Hawkins oder Gillian Flynn bedienen. Die Abgründe hinter den scheinbar gutbürgerlichen Fassaden sind hier Thema. Oder etwa der Country Noir, wie er von Daniel Woodrell oder Matthew F. Jones bespielt wird. Die Hoffnungslosigkeit der Provinz, abgehängte Menschen und zumeist Morde und Totschlag, für die sich kaum jemand interessiert. So die Grundzutaten für diese Spielart des Krimis. Und dann gibt es noch James Anderson, dem schon mit seinem Debütroman Desert Moon das Kunststück gelang, sich eine ganz eigene Nische zu schaffen, nämlich den Desert Noir. Mit seinem zweiten Roman Lullaby Road hat er sich diese Nische jetzt komfortabel ausgebaut.

Was zeichnet diese beiden Bände aus und was macht sie zu einem Desert Noir? Das will ich im Folgenden ergründen.

In der Wüste Utahs

Band Nr. 1: Desert Moon

Da ist zunächst das Setting, das James Anderson mit leichter Hand entwirft. Er siedelt seine Geschichten um den Trucker Ben Jones im Hochland Utahs an. Dort durchzieht der Highway 117 die salztrockene und staubige Landschaft. Eine unwirtliche Wüste, die so manches mal fast außerirdisch wirkt. Kein Netz, der nächste Rettungshubschrauber hunderte von Meilen entfernt positioniert. Entlang dieser Route haben sich verschiedene Menschen niedergelassen, die alle ihre Gründe für ihre Abgeschiedenheit haben. Ben beliefert sie mit seinem Truck und sammelt damit hunderte von Meilen in der Woche, die er da draußen in der Wüste zusammenbringt. Liest man Desert Moon und Lullaby Road, meint man förmlich den Staub und die Einsamkeit auch in Bens Fahrerkabine zu spüren. Dies gelingt Anderson durch eine bildhafte Sprache und die Gabe, frische Vergleiche und Sprachbilder zu kreieren. Auch die Übersetzung durch Harriert Fricke hat daran ihren Anteil.

Auch die Handlung kann in beiden Büchern überzeugen. So ist es in Andersons Debüt ein abgeschiedenes Haus und eine darin befindliche Frau, die Ben Jones per Zufall entdeckt. Eigentlich möchte er nur ganz dringend austreten – und gerät dann in den Bannkreis dieser Frau, die im Haus Cello spielt. Die Faszination für die Frau lässt Jones im ganzen Roman nicht los und er entdeckt einige Geheimnisse dieser Menschen, die sich eigentlich an die 117 zurückgezogen haben, um genau das zu vermeiden: dass ihre Geheimnisse aufgedeckt werden.

Ein Trucker als stimmiger Held

Band Nr. 2: Lullaby Road

In Lullaby Road gelingt es ihm nun, an den Erzählkosmos des ersten Bandes nahtlos anzuschließen. Diesmal wird Jones wider Willen zum Aufpasser für ein kleines Mädchen, das nicht spricht. Nur ein Hund begleitet sie. Das weckt Jones‘ Beschützerinstinkt. Daneben gibt es noch weitere Episoden um die schon aus dem Vorgängerband bekannten Figuren. Doch auch ohne die Kenntniss des vorhergehenden Bandes ist der Genuss dieses Buchs uneingeschränkt zu empfehlen. Denn wie Anderson seine Geschichten aus der Wüste erzählt, das kann ich nicht anders als gekonnt nennen.

Und dann wäre da nicht zuletzt einer der Hauptfaktoren eines guten Romans – gerade wenn dieser noch dazu aus der Ich-Perspektive erzählt wird: der Protagonist. Und dieser Ben Jones, der ist stimmig gezeichnet, besitzt Ecken und Kanten und das Herz am rechten Fleck. Er ist kein Held, hat in der Vergangenheit Fehler gemacht. Beziehungen scheiterten, sein Job ist alles andere als glamourös und bringt erst recht kein vernünftiges Gehalt ein. Aber da wo er sitzt, hinter dem Steuer seines geleasten Trucks, da ist er an der richtigen Stelle. Die Krimihandlungen, die sich entfalten, entstehen aus dem Zufall heraus und auch Ben Jones‘ Agieren wirkt zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt oder forciert. Und so entsteht aus diesem realistisch geschilderten Truckerleben in Verbindung mit der Wüste und der poetischen Prosa das, was ich nur eines nennen kann: große Desert-Noir-Literatur auf erstaunlich hohem und konstantem Niveau.


  • James Anderson – Desert Moon
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricket
  • ISBN 978-3-945133-67-5 (Polar-Verlag)
  • 344 Seiten, Preis: 18,00 €
  • James Anderson – Lullaby Road
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • ISBN 978-3-948392-10-9 (Polar-Verlag)
  • 374 Seiten, Preis: 22,00 €

Sh*t oder große Show?

Richard Russo – Sh*tshow

Richard Russo ist einer der großten Analytiker der amerikanischen Seele. Seine Romane sind immer zugleich Vermessungen Amerikas und dessen Befindlichkeiten. Mithilfe seiner Durchschnitts-Protagonisten gelingt ihm ein genauer Blick auf Milieus und deren Themen. Nun erscheint nur wenigen Monate nach seinem Roman Jenseits der Erwartungen gleich noch ein Buch. Es trägt den schönen Titel Sh*tshow und ist der Gattung Kurzgeschichte zuzuschlagen. Auf knapp 70 großzügig gesetzten Seiten (übersetzt von Monika Köpfer) erzählt Russo darin von einem Akademikerpärchen, bei dem nicht nur der häusliche Frieden in Schieflage gerät. Es bleibt die Frage: Sh*t oder große Show?

Enttäuschte Akademiker*innen und ein Shitstorm

Alles beginnt mit einem Abendessen. Drei Paare befreundeter Akademiker*innen wollen sich nach dem Wahlsiegs des „orangefarbenen“ Präsidenten Donald Trumps zum geselligen Austausch treffen.

Da wir, noch immer fassungslos, das Bedürfnis nach tröstender Gesellschaft hatten, luden Ellie und ich am Morgen nach den Wahlen die Schuulmans und die Millers zum Abendessen ein.

Russo, Richard: Sh*tshow, S. 7

Doch bei aller Verbundenheit müssen die drei Paare feststellen, dass sie sich über die Jahre doch etwas auseinandergelebt haben. Man versteht sich noch, die Sympathien für die vermeintlich gute und anständige Seite ist aber nicht mehr bei allen Freund*innen ungeteilt da. Am selben Abend macht dann Ich-Erzähler David, der uns die kurze Geschichte erzählt, eine äußerst unappetitliche Entdeckung. Im hauseigenen Pool schwimmen menschliche Ausscheidungen. Und bei der einen Attacke bleibt es nicht. Aus unerfindlichen Gründen finden sich David und seine Frau Ellie im Zentrum eines wirklichen Shitstorms wieder, der sich nicht nur auf ihren Pool beschränkt. Ihr Privatleben und die Balance zwischen ihnen beiden gerät zunehmend in Schieflage.

Auch Richard Russo schreibt sich den Frust von der Seele

Es ist eine hochinteressante Entwicklung, die sich auf dem Buchmarkt seit einiger Zeit beobachten lässt. Es scheint, als hätten die zumeist männlichen Autoren meinen vor einiger Zeit hier publizierten Aufruf, mehr Politik zu wagen, zu Herzen genommen. So schreiben sie sich ihren Frust über gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends zumeist in satirischer Form von der Seele. Ian McEwan tat dies zuletzt betreffend den Brexit (und scheiterte auf ganzer Linie), Howard Jacobson nahm sich in Form einer Satire Donald Trump zur Brust. Auch in Richard Russo muss es gegärt haben, weshalb er 2019 diesen Text publizierte.

Richard Russo - Sh*tshow (Cover)

Allerdings scheitert auch Russo an der monströsen Realität und an einem Präsidenten, der Politik konsequent in eine Art TV-Show der Absurditäten überführt hat. Was angesichts der Laufzeit der knapp 70 Seiten zu befürchten war, bewahrheitet sich im Lauf der Geschichte. Russo schafft es in Sh*tshow nicht, einen neuen Blick auf den Komplex Donald Trump und die amerikanische Gesellschaft anzubieten. Die (von mir) erhoffte Analyse der Gesellschaft bleibt aus.

Dass Trump auch aus akademischen Milieus Unterstützung erfuhr oder dass Hillary Clinton eher als kleineres Problem denn wirkliche demokratische Wunschkandidatin angesehen wurde, das sind doch inzwischen eher Gemeinplätze. Auch Russos Stärke der Auslotung von Milieus und Gesellschaftsschichten greift hier nicht wirklich. Seinen Charakteren fehlt die Plastizität, die seine Roman sonst so besonders macht. Das verwundert nicht, umfassen seine Bücher doch ansonsten auch schon gerne einmal deutlich über 700 Seiten. Ein bisschen enttäuscht hat es mich aber dann doch. Auch die Auflösung des Geheimnisses hinter dem Shitstorm bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück.

Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück

Richard Russo hat es sicher gut gemeint mit seiner Kurzgeschichte. Hier wird aber lediglich eine etwas banale Story, die ansonsten in einem Kurzgeschichtenband erschienen wäre, auch durch das Marketing mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie nicht hat. Es wäre spannend zu lesen gewesen, was etwa Yasmina Reza oder Jonathan Coe aus dieser Ausgangslage gemacht hätten. Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück. Und so liegt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einmal mehr dazwischen: Kein Shit, aber leider auch keine große Show.


  • Richard Russo – Sh*tshow
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8144-4 (Dumont)
  • 80 Seiten, 10,00 €

Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €

Lily King – Writers & Lovers

In ihrem neuen Roman erzählt Lily King von der Suche nach künstlerischem Ausdruck, vom Wunsch zu schreiben und dem Kreativitätshemmer Schulden. Ein durchaus moderner amerikanischer Roman mit klarer Botschaft.


Edith Wharton wurde als Kind von ihrer Mutter ausgeschimpft, wenn sie allein sein wollte, um sich Geschichten auszudenken, und durfte keine Romane lesen, bis sie verheiratet war. Als ihre Mutter starb, schickte Wharton ihren Mann zur Beerdigung; sie selbst blieb zu Hause und schrieb. Sie war fünfundvierzig, ein Jahr später erschien ihr erster Roman.

King, Lily: Writers & Lovers, S. 90

Es sind weitere biographische Vignetten, die Lily King in diesem kurzen Einschub in Writers & Lovers aufführt. Bei den Recherchen für ihren Roman stößt die Ich-Erzählerin Casey auf Namen wie Virginia Woolf, George Eliot oder Marcel Proust. Ihnen allen ist der unbändige Wunsch zu Schreiben zueigen. Doch die Faktoren, die dieses Schreiben verhindern, sind vielfältig. Mal wird Proust in einer Nervenklinik das Schreiben untersagt, mal verbietet das häusliche Umfeld Schriftsteller*innen ihr Tun. Immer jedoch entstand trotz der Hemmnisse am Ende große Literatur, die die vorher erlebten Einschränkungen vergessen machte und die Zeiten bis heute überdauert.

Es ist der Wunsch nach künstlerischem Ausdruck, der auch Casey umtreibt. Literatur zu schaffen, die gelesen wird, die in Menschen etwas auslöst. Ihr größtes Hemmnis heißt allerdings Schulden. Diese Schulden sitzen mit erdrückender Macht in ihrem Nacken. Ein Zustand, mit dem Casey nicht alleine ist. Alleine unter jungen Studenten beträgt das Schuldenvolumen in Amerika derzeit circa 1,6 Billionen Dollar.

Auch die 31-jährige Casey ist in die Schuldenfalle geraten, mit mehreren zehntausend Dollar befindet sie sich in den Miesen. Mit Kellnern in einem Restaurant auf dem Gelände der Harvard-Uni hält sie sich über Wasser.

Ich habe Schulden. Ich habe so schwindelnd hohen Schulden, dass Marcus mir jede Mittags- und Abendschicht dieser Welt geben könnte, und ich könnte sie trotzdem nicht abbezahlen. Meine Kredite fürs College und für den Master sind während meiner Spanienjahre in Verzug geraten, und bei meiner Rückkehr hatte sich der anfängliche Betrag durch Strafen, Gebühren und Inkassokosten fast verdoppelt. Jetzt schaffe ich es mit Hängen und Würgen, den Status quo zu halten, das Minimum abzustottern, bis – ja, bis was? Und bis wann? Darauf gibt es keine Antwort. Das ist Teil des bedrohlichen schwarzen Lochs, das meine Zukunft ist.

King, Lily: Writers & Lovers, S 16

Wenn Schulden die Kreativität hemmen

Diese Schulden dominieren Caseys Alltag. So etwas wie ein Auto besitzt sie nicht. Stattdessen schleppt sie sich Schicht um Schicht in das Restaurant, wird von tyrannischen Köchen gepiesackt und kämpft darum, wenigstens etwas Oberwasser in ihrem Leben zu behalten. Denn ihren großen Traum hat sie nicht aus den Augen verloren. Sie will schreiben. Der Great American Novel, er ist auch ihr Ziel. Und so zwackt sie von ihrem hektischen Alltag immer wieder ein paar Stunden ab, um in der Garage, die als ihr Zuhause fungiert, oder in der Bücherei ein paar Zeilen aufs Papier zu bringen. Aber wie soll man die Kreativität, die für ein solches Projekt vonnöten ist, finden, wenn doch die Schulden einem Damoklesschwert gleich über einem schweben?

Lily King - Writers & Lovers (Cover)

Darum dreht sich Writers & Lovers. Lily Kingt rückt mit Casey eine leicht chaotische junge Frau in den Mittelpunkt, deren Leben exemplarisch für das von Millionen junger Menschen in Amerika (und nicht nur dort) steht. Wie will ich meinen Träumen und Bestimmungen folgen, wenn Schulden das alles eigentlich verhindern? Wenn die Kreativität nicht kommen mag, fast niemand an einen glaubt? Und ist die zumeist wenig erträglichere Schriftstellerei tatsächlich ein Weg, um den Schulden zu begegnen?

In einer direkten, fast ein wenig schmucklosen und weniger farbigen Sprache (Übersetzung Sabine Roth) als zuletzt in Euphoria rückt Lily King diese Fragen in den Mittelpunkt des Buch.

Ein amerikanischer und moderner Roman

Es ist ein im Kern sehr amerikanischer und moderner Roman, den sie mit Writers & Lovers da geschrieben hat.

Modern, da das Scheitern, die Unsicherheiten und chaotischen Liebesverhältnisse einem Memoir gleich ausgestellt und unbarmherzig beleuchtet werden. Modern auch, weil King relevant existierende Probleme wie eine mangelhafte Sozialversicherung oder die Probleme von Studienkrediten literarisiert. Amerikanisch, weil sie das Beharren auf den eigenen Traum in den Mittelpunkt rückt (der dann schlussendlich – Spoileralarm! – auch märchengleich belohnt wird).

Das ist dabei auch der Punkt, den man an dem Buch am ehesten kritisieren könnte. Dass alle Puzzleteile am Ende genau in die richtigen Stellen fallen, an die sie hingehören – diese Realitätsferne steht in Kontrast zur gesamten zuvor geschilderten Realitätsnähe.

Ich persönlich möchte hier allerdings nicht so streng sein. Denn was gibt es Schöneres, als in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine ermutigende Botschaft zu senden namens „Schreibe und verfolge deinen Traum – es kann sich lohnen!“? Eben!


  • Lily King – Writers & Lovers
  • aus dem Englischen von Sabine Roth
  • ISBN 978-3-406-75698-6 (C. H. Beck)
  • 319 Seiten, 24,00 €