Tag Archives: USA

Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Lily King – Writers & Lovers

In ihrem neuen Roman erzählt Lily King von der Suche nach künstlerischem Ausdruck, vom Wunsch zu schreiben und dem Kreativitätshemmer Schulden. Ein durchaus moderner amerikanischer Roman mit klarer Botschaft.


Edith Wharton wurde als Kind von ihrer Mutter ausgeschimpft, wenn sie allein sein wollte, um sich Geschichten auszudenken, und durfte keine Romane lesen, bis sie verheiratet war. Als ihre Mutter starb, schickte Wharton ihren Mann zur Beerdigung; sie selbst blieb zu Hause und schrieb. Sie war fünfundvierzig, ein Jahr später erschien ihr erster Roman.

King, Lily: Writers & Lovers, S. 90

Es sind weitere biographische Vignetten, die Lily King in diesem kurzen Einschub in Writers & Lovers aufführt. Bei den Recherchen für ihren Roman stößt die Ich-Erzählerin Casey auf Namen wie Virginia Woolf, George Eliot oder Marcel Proust. Ihnen allen ist der unbändige Wunsch zu Schreiben zueigen. Doch die Faktoren, die dieses Schreiben verhindern, sind vielfältig. Mal wird Proust in einer Nervenklinik das Schreiben untersagt, mal verbietet das häusliche Umfeld Schriftsteller*innen ihr Tun. Immer jedoch entstand trotz der Hemmnisse am Ende große Literatur, die die vorher erlebten Einschränkungen vergessen machte und die Zeiten bis heute überdauert.

Es ist der Wunsch nach künstlerischem Ausdruck, der auch Casey umtreibt. Literatur zu schaffen, die gelesen wird, die in Menschen etwas auslöst. Ihr größtes Hemmnis heißt allerdings Schulden. Diese Schulden sitzen mit erdrückender Macht in ihrem Nacken. Ein Zustand, mit dem Casey nicht alleine ist. Alleine unter jungen Studenten beträgt das Schuldenvolumen in Amerika derzeit circa 1,6 Billionen Dollar.

Auch die 31-jährige Casey ist in die Schuldenfalle geraten, mit mehreren zehntausend Dollar befindet sie sich in den Miesen. Mit Kellnern in einem Restaurant auf dem Gelände der Harvard-Uni hält sie sich über Wasser.

Ich habe Schulden. Ich habe so schwindelnd hohen Schulden, dass Marcus mir jede Mittags- und Abendschicht dieser Welt geben könnte, und ich könnte sie trotzdem nicht abbezahlen. Meine Kredite fürs College und für den Master sind während meiner Spanienjahre in Verzug geraten, und bei meiner Rückkehr hatte sich der anfängliche Betrag durch Strafen, Gebühren und Inkassokosten fast verdoppelt. Jetzt schaffe ich es mit Hängen und Würgen, den Status quo zu halten, das Minimum abzustottern, bis – ja, bis was? Und bis wann? Darauf gibt es keine Antwort. Das ist Teil des bedrohlichen schwarzen Lochs, das meine Zukunft ist.

King, Lily: Writers & Lovers, S 16

Wenn Schulden die Kreativität hemmen

Diese Schulden dominieren Caseys Alltag. So etwas wie ein Auto besitzt sie nicht. Stattdessen schleppt sie sich Schicht um Schicht in das Restaurant, wird von tyrannischen Köchen gepiesackt und kämpft darum, wenigstens etwas Oberwasser in ihrem Leben zu behalten. Denn ihren großen Traum hat sie nicht aus den Augen verloren. Sie will schreiben. Der Great American Novel, er ist auch ihr Ziel. Und so zwackt sie von ihrem hektischen Alltag immer wieder ein paar Stunden ab, um in der Garage, die als ihr Zuhause fungiert, oder in der Bücherei ein paar Zeilen aufs Papier zu bringen. Aber wie soll man die Kreativität, die für ein solches Projekt vonnöten ist, finden, wenn doch die Schulden einem Damoklesschwert gleich über einem schweben?

Lily King - Writers & Lovers (Cover)

Darum dreht sich Writers & Lovers. Lily Kingt rückt mit Casey eine leicht chaotische junge Frau in den Mittelpunkt, deren Leben exemplarisch für das von Millionen junger Menschen in Amerika (und nicht nur dort) steht. Wie will ich meinen Träumen und Bestimmungen folgen, wenn Schulden das alles eigentlich verhindern? Wenn die Kreativität nicht kommen mag, fast niemand an einen glaubt? Und ist die zumeist wenig erträglichere Schriftstellerei tatsächlich ein Weg, um den Schulden zu begegnen?

In einer direkten, fast ein wenig schmucklosen und weniger farbigen Sprache (Übersetzung Sabine Roth) als zuletzt in Euphoria rückt Lily King diese Fragen in den Mittelpunkt des Buch.

Ein amerikanischer und moderner Roman

Es ist ein im Kern sehr amerikanischer und moderner Roman, den sie mit Writers & Lovers da geschrieben hat.

Modern, da das Scheitern, die Unsicherheiten und chaotischen Liebesverhältnisse einem Memoir gleich ausgestellt und unbarmherzig beleuchtet werden. Modern auch, weil King relevant existierende Probleme wie eine mangelhafte Sozialversicherung oder die Probleme von Studienkrediten literarisiert. Amerikanisch, weil sie das Beharren auf den eigenen Traum in den Mittelpunkt rückt (der dann schlussendlich – Spoileralarm! – auch märchengleich belohnt wird).

Das ist dabei auch der Punkt, den man an dem Buch am ehesten kritisieren könnte. Dass alle Puzzleteile am Ende genau in die richtigen Stellen fallen, an die sie hingehören – diese Realitätsferne steht in Kontrast zur gesamten zuvor geschilderten Realitätsnähe.

Ich persönlich möchte hier allerdings nicht so streng sein. Denn was gibt es Schöneres, als in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine ermutigende Botschaft zu senden namens „Schreibe und verfolge deinen Traum – es kann sich lohnen!“? Eben!


  • Lily King – Writers & Lovers
  • aus dem Englischen von Sabine Roth
  • ISBN 978-3-406-75698-6 (C. H. Beck)
  • 319 Seiten, 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

#büchergegenrassismus

Mit großer Sorge blicke ich in die USA, in denen sich momentan Szenen abspielen, die fassungslos machen. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd scheinen die Gräben zwischen den Gesellschaftsschichten tiefer als je zuvor. Der Protest gegen Polizeigewalt und omnipräsenten Rassismus bricht sich nun Bahn. Die Demonstrationen und Aufstände sind die Auswirkungen eines lang schwelenden Konflikts in der amerikanischen Gesellschaft, der bis zurück in die Gründungsjahre der Nation reicht. Es begann mit der Versklavung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und führt in einer Linie bis ins Jetzt, in dem ein Präsident munter Benzin ins Feuer gießt, indem er die Spaltung seiner Bevölkerung vorantreibt. George Floyd ist nur ein Symptom von vielen.

Aber auch wir in Deutschland brauchen uns nichts vormachen. Rassismus, Ausgrenzung und Polizeigewalt existieren hier ebenso. Das beweisen nicht zuletzt Fälle wie der von Oury Jalloh, Amir Ageeb oder Rooble Warsame. Mag die Lage hier mit der in den USA kaum vergleichbar sein – massive Probleme mit Rechtsextremismus, Antisemitismus oder rassistische Tendenzen gibt es auch in diesem Land.

Bücher – eine stumpfe Waffe?

Können Bücher da etwas bewirken? Können sie dem Rassismus und Extremismus begegnen? Obwohl ich ja ein großer Enthusiast bin, was das geschriebene Wort angeht, würde ich sagen: eher nein. Schließlich sind diese ganzen Probleme, vor denen wir stehen, altbekannte. Schon im 19. Jahrhundert entstanden Romane wie etwa Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte, die sich mit Rassismus und dem Schicksal von Afroamerikaner*innen auseinandersetzten. Die Probleme sind also bekannt. Seitdem ist nicht viel geschehen. Das geschriebene Wort ist eine stumpfe Waffe, was den Kampf gegen Ungerechtigkeiten angeht.

Eine Waffe, die aber trotzdem ihre Berechtigung hat. Denn wenngleich Bücher konkret wenig an herrschenden Verhältnissen verändern, so ist es doch das Denken, auf das sie einen großen Einfluss haben können. Bücher können Sachverhalte vor Augen führen, Privilegien sichtbarmachen oder Diskurse anstoßen. Freilich: ohne einen aufgeschlossenen Geist wird das alles nichts – aber bei den Leser*innen der Buch-Haltung gehört eine solche Offenheit ja eh zur Grundeinstellung.

Insofern möchte ich an dieser Stelle unter dem Schlagwort #büchergegenrassismus auf ein paar Bücher hinweisen, die mir die Augen geöffnet haben oder Themen des Rassimus auf besondere Art und Weise verhandeln.

#büchergegenrassismus

Da sind zunächst einmal einige Titel aus der Schönen Literatur, die sich ungeschminkt dem Rassismus, seinen Ursprüngen und Auswirkungen widmen:

Ein Gigant der Literatur, der bei uns nun sukzessive wiederentdeckt wird, ist James Baldwin. Wie er in Beale Street Blues die Liebe eines jungen afroamerikanischen Paares und die Widerstände, mit denen sie zu kämpfen haben, inszeniert, das ist meisterhaft (Übersetzung Miriam Mandelkow). Ebenso meisterhaft ist Ann Petrys nun wiederentdeckter Roman The Street – Die Straße, der die Kämpfe einer jungen alleinerziehenden Frau in den Straßen Harlems beschreibt. Wie sie sich gegen das Patriarchat durchsetzen muss, das beeindruckt (übersetzt von Uda Strätling).

Auch Colson Whitehead vermittelt unglaublich eindrücklich, wie es sich als schwarzer junger Menschen damals in den USA anfühlte (und wohl bis heute noch tut). In Die Nickel Boys erzählt er von einem Jungen, der in einer Besserungsanstalt in Abgründe blickt. In Underground Railroad (für den er ebenfalls den Pulitzer Preis zugesprochen bekam), erzählt er von einem geheimen Fluchtnetzwerk. Dieses ermöglichte Sklaven aus dem Süden der USA in den Norden zu fliehen, wo die Sklaverei schon abgeschafft war.

Beeindruckend auch die Memoiren von Maya Angelou. Sie erzählt von ihrer Kindheit, der Angst vor dem Ku-Klux-Klan und dem Weg bis hin zur ersten schwarzen Straßenbahnschaffnerin. Das Streben nach Bildung und der omnipräsente Rassismus, den sie schon als Kind erfuhr, sind Themen.

Auch Krimis beleuchten die Lage

Auch Spannungsautor*innen nehmen sich der sozialen Ungerechtigkeit und des strukturellen Rassismus an. So zählen die Bücher von Ryan Gattis, Thomas Mullen oder Leonard Pitts jr. zu den Büchern, die ich unbedingt empfehlen würde.

Gerade In den Straßen die Wut klingt wie der Buchtitel der Stunde. Darin erzählt der Amerikaner von den Rodney King-Unruhen, die Los Angeles 1992 erfassten. Rassistische Polizisten, Gangs, die alte Rechnungen begleichen und eine Stadt im Ausnahmezustand. Wie sich das gerade anfühlen muss in den USA, hier kann man es erleben (übersetzt von Ingo Herzke).

Genauso verdient Grant Park (Deutsch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck) eine uneingeschränkte Empfehlung. Leider ziemlich untergegangen erzählt der Roman des Kolumnisten Leonard Pitts jr. von zwei zentralen Ereignissen der afroamerikanischen Geschichte. Nämlich der Ermordung Martin Luther Kings und der Inauguration Barack Obamas.

Auch A.G. Lombardos Graffiti Palast ist ein Roman, der in Zeiten wie diesen prophetisch wirkt – obwohl er doch eigentlich im Jahr 1965 spielt. Er erzählt im Buch von Monk, einem Mann zwischen Schwarz und Weiß, der sich der Entschlüsselung von Graffitis verschrieben hat. Im Buch möchte er eigentlich nur nach Hause marschieren. Doch dann brennt Los Angeles. Aufstände beginnen, die schwarze Bevölkerung wehrt sich gegen die Unterdrückung. Und Monk mittendrin (übersetzt von Jan Schönherr).

In den Süden der USA entführen auch zwei andere Tipps. In Paris Trout erzählt Pete Dexter vom gleichnamigen weißen Ladenbesitzer, der ein schwarzer Mädchen erschießt. Er weigert sich das Unrecht einzusehen und niemand aus der lokalen Bevölkerung wagt es, Gerechtigkeit einzufordern. Ernst ein Anwalt versucht es und löst eine Katastrophe aus. (Übersetzt von Jürgen Bürger).

Und beim (auch verfilmten) Klassiker In der Hitze der Nacht von John Ball ist es ein schwarzer Detective, der gegen Widerstände ein Verbrechen im Süden der USA aufklärt, möchte ich eine dringende Empfehlung aussprechen, wenngleich das Buch nur noch antiquarisch erhältlich ist (übersetzt von Beate Felten-Leidel).

Sachbücher

Und auch viele Sachbücher, die sich mit dem Rassismus und seinen Facetten beschäftigen, sind in letzter Zeit auf dem Buchmarkt erschienen. Was Sachbücher anbelangt, empfehle ich diese hier besonders: Alice HastersWas weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen (aber wissen sollten). Ebenso ist Reno Eddo-Lodges Buch Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche (übersetzt von Anette Grube) eines der Bücher der Stunde.

Für die amerikanischen Verhältnisse und Ursprünge empfiehlt sich auch dieses Buch: Gebrandmarkt. Darin schildert Ibrahim X. Kendi die Geschichte des Rassismus in Amerika. Auch wartet das Buch mit bedrückenden Fakten auf. So ist etwa die Wahrscheinlichkeit, als Schwarzer von der Polizei erschossen zu werden, 21 mal höher als die für Weiße (übersetzt von Susanne Röckel und Heike Schlatterer).

Und nicht zuletzt sorgte dieses Buch in Deutschland für viel Aufsehen. In Eure Heimat ist unser Albtraum schreiben Autor*innen wie Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo oder Olga Griasnowa über ihre Erfahrungen mit Deutschland, Rassismus und der Frage von Heimat und Identität. Augenöffend.

Was sind eure #büchergegenrassismus? Was habt ihr gelesen oder was hat euch die Augen geöffnet? Kommentiert gerne und ergänzt meine kleine Auflistung!

Diesen Beitrag teilen

Alexi Zentner – Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

I said if you’re thinkin’ of being my brother, it don’t matter if you’re black or white.

Diese Worte aus der 1991 erschienen Single „Black or White“ von Michael Jackson klingen knapp 30 Jahre seit Erscheinen so falsch wie selten zuvor. Während Rassismus und Ausgrenzung grassieren, ist Ideal von der friedlichen Koexistenz von Schwarz und Weiß in weite Ferne gerückt. Besonders in den USA lässt sich das beobachten. Verband man mit Barack Obama noch die Hoffnung auf Einheit und Überwindung der gesellschaftlichen Risse, so ist mit der Wahl Donald Trumps diese Hoffnung völlig zunichtegemacht. Im Gegenteil – Rassismus ist geradzu wieder hoffähig geworden. Eine Verrohung in der Sprache und im Denken ist feststellbar, Bewegungen wie Black Lives Matter sind Symptom eines gefährlichen Auseinanderdriftens zwischen den gesellschaftlichen Schichten des Landes.

Wie tief die Risse in der amerikanischen Gesellschaft sind, das beleuchtet der kanadische Autor Alexi Zentner in seinem Roman Eine Farbe zwischen Liebe und Hass eindrücklich. Ein Roman über White Supremacy und die Frage, welche Eigendynamik eine Lüge im aufgeheizten gesellschaftlichen Klima dieser Tage entfalten kann.


Die Motivation für seinen Roman erklärt Alexi Zentner im Vorwort seines Buchs. So waren seine Eltern Aktivisten gegen Antisemitismus und Rassismus, wofür sie auch angefeindet wurden. Trauriger Höhepunkt dessen war ein Anschlag, bei dem auf das Haus der Eltern ein Brandbombenanschlag durch eine Gruppe von Neonazis verübt wurde. Bis heute haben ihn die Erinnerung an die damaligen Ereignisse nicht losgelassen.

Mit diesem Roman wollte ich näher untersuchen, wie sich, während wir heranwachsen, unser Moralbewusstein verändert und festigt. Ich wollte erkunden, wie Hass die Liebe verkompliziert, wie ide Liebe uns blind machen kann für die Gefahren um uns herum, und wie Rassismus und Hass auch in den Leben derer wirken, die denken, sie haben sich auf niemandes Seite geschlagen.

Zentner, Alexi: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass, S. 7

Zwischen Schule und Kirche

Das ist ihm – um das gleich einmal vorwegzunehmen – wirklich gelungen. Denn Zentner schafft es, die Widersprüche und Verwerfungen die Familie, Liebe und Loyalitäten verursachen können, mit seinem Roman erfahrbar zu machen. Ihm gelingt das, indem er den Jugendlichen Jessup in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Zusammen mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und zwei weiteren (Halb-)Geschwistern wohnt er in Cortaca in Upstate New York in einem Trailerpark. Auch wenn die Übersetzung (Werner Löcher-Lawrence) faktisch richtig von einem Wohnwagen spricht, ist es vielmehr eine mobile Wohnung mit mehreren Zimmern, die Jessups Familie dort in Cortaca bezogen hat.

Die Stadt gilt eigentlich als liberal, eine Ivy-League-Universität sorgt für einen regen Zulauf von Studenten und einen intellektuellen Nährboden. Doch auch in Cortaca ist nicht alles Gold, was glänzt.

Die Universität entwickelt ihre eigene Schwerkraft. Sie ist der größte Arbeitgeber der Stadt, aber sie ist nicht alles. Es gibt da noch die ganz andere Welt derer, die durch den Rost gefallen sind. Fünfunddreißig Prozent der Bevölkerung des Countys leben unterhalb der Armutsgrenze. Es gab mal jede Menge gute Jobs, aber es ist überall das Gleiche im Rust Belt des Landes.

Zentner, Alexi: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass, S. 37

Sein Stiefvater schlägt sich als Klempner durch, die Mutter geht schwarz putzen, um die Familie irgendwie zu ernähren. Gerade sind die Zeiten noch härter, da Jessups Bruder Ricky und sein Stiefvater nicht da sind. Sie sitzen im Gefängnis ein. Sein Bruder hat zusammen mit seinem Vater vor einer Bar zwei schwarze Studenten getötet. Notwehr sagen sie, das Gericht sagt etwas anderes. Vor allem, da Videoaufzeichnung von der Tat vorliegen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Jessups Stiefvater mit seiner Familie ein Anhänger der Heiligen Kirche des Weißen Amerikas ist. Eine Art KuKluxKlan mit pastoralem Anstrich und nur etwas weniger radikalen Auftreten. Aber ebenso strikt in der Trennung von Weiß und Schwarz, rassistisch und fremdenfeindlich. Wenngleich man das natürlich nicht zugibt und sich stattdessen lieber Ethnorealist nennt. Die Worte mögen sich unterscheiden, die Ansichten sind die gleichen

Zwischen Liebe und Hass

In diesem Umfeld wächst der 17-jährige Jessup heran. Halt findet er im Sport und in der Liebe. Auf dem Feld wird er von Coach Diggins beim Football trainiert. Er erweist sich als talentierter Footballer (wovon ein eingangs episch geschildertes Match Zeugnis ablegt). Heimlich liebt er die Tochter von Coach Diggins, Deanne. Die Liebe verheimlicht er allerdings dem Coach und seiner Familie. Denn Deanne ist schwarz. Und wenngleich Jessup die Heilige Kirche des Weißen Amerikas schon vier Jahre nicht mehr besucht hat – seine Herkunft wird man doch nicht so einfach los.

Dann wird Jessup auch noch auf einer Party von Freunden und Mitspielern in einen tödlichen Unfall verwickelt. Er beschließt, vor der Verantwortung davonzulaufen und seine Tat zu vertuschen. Und damit setzt er Ereignisse in Gang, die schon bald eine fatale Eigendynamik entwickeln. Bald muss er sich der Frage stellen, ob Liebe oder Hass in seinem Leben stärker sind. Wem gilt seine Loyalität? Und kann man das überhaupt – vor seiner Verantwortung davonlaufen?

Es sind komplexe Fragen, die Alexi Zentner in seinem Buch aufwirft. Und es spricht wirklich für ihn, dass er es sich nicht zu leicht macht. Denn mit Jessup erleben wir ein wirkliches Wechselbad der Gefühle. Da ist die heimliche Liebe zu Deanne, die den 17-jährigen euphorisiert. Dann ist da aber auch die Schuld nach dem Unfall, die immer drückender auf seinen Schultern lastet. Und auch wenn Jessup seinen Stiefvater eigentlich verachtet, muss er doch anerkennen, wie sehr dieser für seine Familie kämpft und diese beschützen will. All diese Widersprüche (auch in den Figuren selbst) vermittelt Zentner glaubhaft und plastisch. Ihm gelingt es, dass man sich selbst in der moralischen Zwickmühle wiederfindet. Wem gehört meine Loyalität? Was ist für mich das wichtigste? Wie hätte ich entschieden? Und kann man das wirklich? In Schwarz und Weiß denken?

Zwischen Gesellschaft und Familie

Mit seinem Buch gelingt Alexi Zentner ein präziser Blick sowohl auf Familie als auch auf Gesellschaft. Wie funktioniert Ausgrenzung und Rassismus? Wie vertiefen Menschen die Gräben zwischen Schwarz und Weiß und welcher Instrumente bedienen sie sich dabei? Seine Schilderungen besitzen dabei etwas Allgemeingültiges und sind vielfach anwendbar. Und auch Jessups Familie besitzt viel Symbolkraft. Wie die Patchwork-Familie mit ihren unterschiedlichen Ansichten Probleme löst, aber auch verursacht, das demonstriert Zentner in seinem Buch auf sehr glaubwürdige Art und Weise. Da verzeiht man dem Autoren auch locker das missglückte Ende.

Wenngleich es der Übersetzung manchmal an Präzision fehlt und es sich das Cover für meinen Geschmack zu einfach macht, so ist Eine Farbe zwischen Liebe und Hass doch ein eindrucksvolles Leseerlebnis. Diese Milieu- und Gesellschaftsstudie aus dem Hinterland der USA zielt mitten hinein in unsere heutigen Debatten. Ein Buch, das ich aufgrund seiner rasanten und gelungen Erzählweise und seinem Helden auch schon Jugendlichen dringend ans Herz legen möchte. Ein kluger Debattenbeitrag, der Alexi Zentner da gelungen ist. Denn es spielt oftmals eben doch eine Rolle, ob man schwarz oder weiß ist. Und ob man die Welt dann auch so sieht, oder auch empfänglich für ihre Grautöne ist.

Diesen Beitrag teilen

Angie Kim – Miracle Creek

Von den kleinen Lügen, die Großes bewirken, erzählt Angie Kim in ihrem Roman Miracle Creek. Ein Gerichtsroman darüber, was Lügen auslösen können und wie weit man gehen sollte, um die Wahrheit hinter dem Berg zu halten.


Eine Lüge kann manchmal wie ein Streichholz sein. Es bedarf nur eines kleinen Reibens über die Zündfläche, und das Streichholz steht in Flammen. Und wenn man damit nicht aufpasst, kann am Ende ein ganzes Haus in Flammen aufgehen. Und das alles nur mit einer ursprünglich ganz winzigen Aktion.

Angie Kim - Miracle Creek (Cover)

Ein Streichholz ist es auch, das im Roman Miracle Creek (Übersetzung von Marieke Heimburger) eine Katastrophe auslöst. Dieses Miracle Creek ist eigentlich ein typisches amerikanisches Durchschnittskaff, in dem nichts passiert. Doch plötzlich ist alles anders. Das Gericht tagt, Elizabeth Ward muss sich vor der Justiz verantworten. Der Vorwurf: sie hat bei einer sogenannten HBO, einer Hyperbaren Oxygenierung, also einer Sauerstoffbehandlung bei Überdruck in einer abgeschlossenen Kammer, Feuer gelegt. Zwei Menschen sind dadurch zu Tode gekommen, darunter Elizabeths eigener Sohn, der sich während des Feuers in der Kammer befand. Die Spurenlage ist eindeutig. Schon lang trug sie sich mit dem Gedanken, die Therapie abzubrechen. Zudem verzweifelte sie des Öfteren an ihrer Rolle als Alleinerziehende mit einem autistischen Sohn. Für die Öffentlichkeit steht es schon vor dem Prozess fest: Elizabeth ist ein Monster, eine Mutter, die ihren eigenen Sohn durch Brandstiftung getötet hat. Alles klar also?

Mitnichten. Denn dass das mit der Wahrheit eine komplizierte Angelegenheit ist, das zeigt sich in Miracle Creek schon bald. Nachdem uns Angie Kim im Prolog an der Katastrophe teilhaben lässt, die sich in der Scheune in Miracle Creek ereignete, als die HBO-Druckkammer und mit ihr die Patienten in Flammen aufging, geht es dann im Hauptteil des Buchs um die Gerichtsverhandlung. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, die sich mit ihrer Rolle als Schuldige abgefunden hat. Staatsanwälte, Richter, Verteidigung, alle sind bereit, um über sie Recht zu sprechen. Sogar eine Hinrichtung als Schuldspruch steht im Raum.

Lügen über Lügen

Doch dann beginnt Angie Kim damit, die verschiedenen Lagen aus Lüge, die sich um die Wahrheit gruppiert haben, langsam abzutragen. Auf Basis des Gerichtsprozesses kommen verschiedene Personen zu Wort. Da ist der Arzt, der mit den zwei Müttern und ihren autistischen Kindern in der Druckluftkammer saß. Da ist die koreanische Familie, die die Druckluftkammer und Scheune eigentlich betreuen sollte. Elizabeth selbst ist auch Teil der Wahrheit. Je weiter die Befragungen durch den Staatsanwalt und die Verteidigerin voranschreiten, umso klarer zeigt sich, dass in Miracle Creek gar nichts klar ist. Wie in einer Rückwärts-Kamerafahrt gelangen wir als Leser*innen von Angie Kim angeleitet langsam vom Scheunenbrand bis zurück zum Streichholz, das die Katastrophe auslöste.

Jede Figur hat ihre eigenen Geheimnisse. Untreue, Missgunst, Hoffart – die sieben Todsünden könnte man in diesem kleinen amerikanischen Kaff wunderbar durchexerzieren. Geschickt schafft es Angie Kim, die Widersprüche im Verhalten und die großen und kleinen Lügen Stück für Stück zu enthüllen. Eingeteilt in die vier Prozesstage wechselt sie immer wieder die Perspektiven und behandelt eine Vielzahl an Themen. Die Bewahrung der eigenen Identität in einem fremden Land, Anpassung, die Rolle als Mutter, der Wunsch nach Kindern – das alles sind Themen, die in Miracle Creek angerissen werden. Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden in meinen Augen aber Missverständnisse und Lügen im Miteinander, die Kim uns zeigt.

Im Strudel der Unwahrheiten

Er versuchte mehrfach, Marys Blick zu fangen, sie zu warnen, ihm nicht zu widersprechen, aber sie starrte weiter auf den vollen Teebecher. Als Pak fertig war, herrschte längeres Schweigen, dann sagte Young: „Du hast nichts weggelassen? Das ist wirklich die ganze Wahrheit?“ Ihre Miene war gefasst, aber in ihrer Stimme schwang ein leises Flehen mit, eine Traurigkeit, umhüllt von verzweifelter Hoffnung, und er wünschte, er könnte sagen, selbstverständlich hatte er nichts ausgelassen, sie würde ihn doch kennen, sie wüsste doch, dass er kein Mann war, der für Geld das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzte.

Aber das sagte er nicht. Manche Dinge waren einfach wichtiger als Ehrlichkeit, selbst der eigenen Frau gegenüber. Er sagte „Ja, das ist die ganze Wahrheit.“ und redete sich ein, dass es nur zu ihrem Besten war. Denn die wirkliche Wahrheit würde sie nicht verkraften.

Kim, Angie: Miracle Creek, S. 457

Angie Kims Buch ist ein Gerichtsthriller, aber auch ein Familienroman, der trotz des klassischen Settings näher an Celeste Ng als an John Grisham ist. Natürlich hält sie mit immer neuen Enthüllungen und Twists die Geschichte am Laufen. Aber im Kern ist Miracle Creek in meinen Augen ein Familiendrama, das eindringlich die möglichen Konsequenzen von fehlender Kommunikation und psychologischen Eigendynamiken belegt. Ein Blick tief hinein in einen Strudel aus Unwahrheiten und Lügen, der sich spannend und psychologisch glaubhaft liest.

Diesen Beitrag teilen