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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

Meine Abermillionen Papiere vermache ich meinen Kindern, Rakel und Elis Berg, mögen sie das Erbe gut verwalten. Meine Notizbücher, all die Romananfänge. Die zu neunzig Prozent fertiggestellte Magisterarbeit in Literaturwissenschaften. Die Aufzeichnungen, die womöglich irgendwann eine verdammt gute Biografie des zu Unrecht vergessenen Schriftstellers William Wallace ergeben hätten. Bitte sehr, liebe Kinder. Die gesammelten Werke eures Vaters.

Lydia Sandgren – Gesammelte Werke, S. 815

Was für ein Ziegelstein! Mit Gesammelte Werke legt Lydia Sandgren ihr Debüt im mare-Verlag vor. Übersetzt von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig lässt sich auf fast 900 Seiten das genau ausgeleuchtete Porträt eines schwedischen Verlegers bestaunen, der doch viel lieber Schriftsteller geworden wäre.

Sandgren gelingt ein Buch, das vom Scheitern und Suchen erzählt, von prägenden Freundschaften, Göteborg und der Verlagsbranche. Ein echt Schmöker für den Herbst!


Würde man in der Literatur nach einem Klischee-Schweden suchen, Martin Berg wäre ein heißer Kandidat. Als Verleger leitet er den eigenen kleinen Buchverlag Berg&Andrén, privat lebt er mit seinen beiden Kindern in Göteborg in einer Wohnung wie aus dem IKEA-Katalog, Dachzimmer inklusive. Diese Bilderbuchfassade trügt allerdings – denn von Martin Bergs Frau fehlt jede Spur. Sie verließ Martin nach der Geburt des zweiten Kindes und wurde seitdem nicht mehr gesichtet. Berg hat sich ganz gut mit dem Verlust arrangiert, seine Tochter lässt das Verschwinden der Mutter allerdings nicht los.

Als sie im Auftrag ihres Vaters ein Gutachten für einen deutschen Bestseller verfassen soll, den er zu verlegen überlegt, meint sie in diesem Roman ihrer Mutter zu begegnen. Sie beginnt mit der Übersetzung des Buchs, um möglicherweise Infos über deren Verbleib zu sammeln. Währenddessen erinnert sich Martin seiner Jugend und Studentenzeit, in der er Freundschaft mit Gustav Becker schloss, der später zum gefragten Künstler avancieren sollte. Auch der Anfang der Beziehung zu seiner späteren Frau Cecilia gründet in dieser Phase seines Lebens.

Das minutiöse Buch einer Freundschaft zu dritt

Lydia Sandgren - Gesammelte Werke (Cover)

Lydia Sandgren erzählt minutiös genau das Leben dieses Martin Bergs nach. Sein Werdegang, seine prägenden Freundschaft, die in eine lebenslange Verbundenheit münden sollten, Studienjahre in Paris, Urlaube zu dritt in Antibes, all das fächert Sandgren weitestgehend chronologisch auf. Immer wieder werden diese Erinnerungen durch ein fiktives Interview und die erzählte Gegenwart durchbrochen. In dieser kommt Martins Tochter Rakel die zweite tragende Rolle zu, die das Verschwinden ihrer Mutter zu verstehen versucht. Aus der Parallelmontage dieser Stränge, die auf die Frage zulaufen, was hinter Cecilia Bergs verschwinden liegt, zieht der Romanen seinen Reiz.

Für die Lauflänge von neunhundert Seiten wäre das allerdings etwas wenig, andere Autorinnen wie etwa Claire Fuller, Richard Russo oder Idra Novey haben für ganz ähnliche Bearbeitung dieses Motivs deutlich weniger Seiten benötigt, um überzeugende Romane zu kreieren. Gesammelte Werke ist darüber hinaus allerdings auch das Porträt einer Freundschaft zu dritt, die in ihrer Detailgenauigkeit schon fast an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben gemahnt. Dass Gustav, ein entscheidender Teil des Dreigestirns, später als Künstler mit nahezu fotorealistischen Werken triumphieren soll, lässt sich auch auf Sandgrens Erzählkonzept selbst übertragen.

An einer Stelle des Romans heißt es, dass die gefeierten Werke Gustavs als eine Art Gegenentwurf zu Monet sind. Aus der Nähe wirken seine Werke fotorealistisch, aus der Ferne lösen sich die Klarheiten auf. Das trifft die Freundschaft und das Erzählen in diesem Buch selbst auch sehr präzise. Was in der Mikroebene des Buchs manchmal fast ein wenig zu detailliert und langatmig wird, ist in der Rückschau über das gesamte Buch dann doch ein faszinierendes Leseerlebnis, da Sandgren ihren Protagonist*innen sehr nahekommt.

Von der Suche nach Inspiration

Auch ist Gesammelte Werke ein Buch über die Suche nach Inspiration und künstlerischer Verwirklichungen, die den Protagonist*innen dann aber doch versagt bleibt. Alle drei Freunde müssen mit diesen Erkenntnissen umzugehen lernen. Während Gustav seine Herkunft aus dem Geldadel stets negiert und sich in Alkohol und Parties flüchtet, hadert Martin mit seinem Wunsch, doch ein Schriftsteller zu sein. Doch die Themen fehlen ihm genauso wie die Ansätze, seine Ideen weitzerzuentwickeln. Cecilia brilliert mit einem Essayband, fällt aber nach der Geburt ihres zweiten Kindes in eine tiefe Depression und kann die verheißungsvolle Karriere, die ihr bestimmt schien, nicht mehr weiterverfolgen.

Wie man mit dem Scheitern arrangiert, wie die Erwartungen im Laufe eines Lebens geschliffen werden, das zeigt Gesammelte Werke eindrücklich. Auch für Leser*innen, die sich für die Buch- und Verlagsbranche interessieren (was nicht wenige sein dürften, immerhin haben sie bereits zu einem dicken Wälzer aus einem kleineren Verlagshaus gegriffen) hält Gesammelte Werke viele Themen bereit. Messeparties, das Arbeiten mit Manuskripten, die Entwicklung von Autor*innen, der unverhoffte Bestsellererfolg, das stets mögliche Scheitern eines solchen Verlags, all das lässt sich ebenfalls in Sandgrens ziegelsteinstarkem Buch nacherleben.

Fazit

Mit Gesammelte Werke ist Lydia Sandgren ein nicht nur aufgrund seines Umfangs außergewöhnlicher Roman gelungen. Das genaue Porträt einer Freundschaft zu dritt, das Scheitern von Lebensentwürfen und der Umgang damit, das Verschwinden einer Frau, der Blick in das Innere eines Verlags und Verlegers. All das umkreis Sandgrens Buch mit großer Genauigkeit und Erzählfreude. Ein Debüt, das aus dem Rahmen fällt und das vor allem nun während der grauen Herbsttage vortrefflich unterhält.


  • Lydia Sandgren – Gesammelte Werke
  • Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig
  • ISBN 978-3-86648-661-4 (mare)
  • 880 Seiten. Preis: 28,00 €
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Tana French – Der Sucher

Einmal mehr tritt Tana French mit Der Sucher den Beweis an, dass nicht Blutbäder und Metzelorgien die Qualität bestimmen, sondern gelungene Spannungsliteratur auch ganz anders aussehen kann. Während sich andere Autoren daran weiden, Figuren in Häckslern zu zerkleinern oder grausamst zu pfählen und das Ganze voyeuristisch ausschlachten, setzt Tana French auf die Kraft des Untergründigen. Bei ihr gerät ein pensionierter Cop an eine Dorfgemeinschaft, die er mit seinem erlernten Handwerkszeug kaum zu knacken bekommt. Dabei wäre das von höchster Dringlichkeit, denn ein Junge ist verschwunden.


Tana Frenchs titelgebender Sucher hört auf den Namen Cal Hooper. Er ist ein pensionierter Streifenpolizist aus Chicago, der sich in der irischen Provinz niedergelassen hat. Er hat sich ein kleines renovierungsbedürftiges Haus in der Nähe des Dorfs Ardnakelty gekauft. Ein paar Farmen, Wohnhäuser, ein Pub, dessen eine Hälfte der Dorfladen ist, viel mehr ist dort nicht. Genau das Richtige für Cal, der sich nach Ruhe und einem unspektakulären Leben sehnt. Doch mit der Ruhe ist es nicht weit her. Immer wieder hat er das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Und tatsächlich kann er den Eindringling schon bald stellen. Es handelt sich um Trey, einen Jungen aus der Nachbarschaft.

Nachdem sich die beiden etwas angenähert haben, fasst Trey Vertrauen und zieht Cal zu Rate. Sein Bruder Brendan ist verschwunden – allerdings scheint dieses Verschwinden niemanden zu irritieren oder gar zu interessieren. Treys Mutter sieht keinen Grund zur Beunruhigung und auch die lokale Garda pflegt eher eine unaufgeregte Arbeitsweise. Cals Alarmglocken hingegen schrillen – und so beschließt er, selber noch einmal aktiv zu werden. Er beginnt sich umzuhören – beißt sich aber an der verschworenen Dorfgemeinschaft seine Zähne aus.

Ruhiger Aufbau und untergründige Spannung

Tana French - Der Sucher (Cover)

Das ist die Rahmenhandlung von Tana Frenchs Buch, das sich durch viel (vordergründige) Ruhe auszeichnet. French nimmt sich die Zeit, ihr Szenario ausgiebig zu entwickeln. Sie beschreibt detailliert Cals handwerkliche Tätigkeiten, seinen rituellen Tratsch mit dem Nachbar und das soziale Gefüge, das sich im Pub offenbart. Auch die Annäherung von Trey und Cal inszeniert sie behutsam und mit viel Raum für genaue Beobachtungen. Als mit blutigen Metzelorgien sozialisierter Leser kann man da schon mal die Geduld verlieren. Bis es hier zu Toten kommt (die zunächst auch nur tierischer Natur sind) vergeht viel Zeit.

Zeit, die sich lohnt, da man mit feinen Beschreibungen und Beobachtungen belohnt wird und die Spannung stets untergründig vorhanden ist. Mit Der Sucher balanciert Tana French wie gewohnt auf der Spannungsgrenze von Roman und Kriminalliteratur – ohne abzustürzen oder von ihrem eingeschlagenen Erzählpfad abzukommen.

Mit minimalen Mitteln erzielt sie hier großen Ertrag. Stets schwebt über allem ein Gefühl der Bedrohung, selbst wenn eigentlich nur wenig passiert. Egal ob Cal sich nach dem verschwundenen Jungen umhört oder im Pub eigentlich harmlose Gespräche und Frotzeleien stattfinden – man hat das Gefühl, als könnte die sich die irische Erde jeden Moment öffnen, um einen Blick auf das echte Grauen freizugeben. Dieses Erzeugen von Furcht und Argwohn ist literarische Kunst, die Tana French hier einmal mehr eindrucksvoll gelingt. Ihr ländliches Irland, die verschworene Dorfgemeinschaft, die Hartnäckigkeit Cals – all das ist großartig eingefangen und wird stets von einem Gefühl der Bedrohlichkeit grundiert, was man so erst einmal hinbekommen muss.

Fazit

Mit der Lektüre dieses Krimis ist es wie mit dem Besuch bei einem Gourmetrestaurant, nachdem man sich zuvor über lange Zeit mit Fastfood und Geschmacksverstärkern den Magen vollgeschlagen hat. Hier lässt sich wieder entdecken, wie Spannungsliteratur auch sein kann. Eben nicht platt voyeuristisch, voller Blut und Metzeleien – sondern so ganz anders als der Fitzek’sche Mainstream. Spannungsreiche Ruhe, einige punktuelle Andeutungen, Zeit für Entwicklung – das sind die Zutaten, mit denen Tana French in Der Sucher beste Spannungsqualität produziert.

Ein Buch, das die Natur Irlands genauso gut einfängt, wie die verschworenen und verschwiegenen Dorfgemeinschaften, denen man auf der Insel begegnen kann. Ein eindrucksvoller Beweis, dass es bei guten Krimis eben nicht die Leichendichte, sondern das literarische Handwerkszeug die Qualität ausmacht.


  • Tana French – Der Sucher
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN: 978-3-651-02567-7 (S. Fischer)
  • 496 Seiten. Preis: 22,00 €
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Kyle Perry – Die Stille des Bösen

Krimis aus Übersee findet man in den Buchhandlungen en masse, auch Australien als Handlungsort ist schon gut erschlossen. Krimis aus Tasmanien hingegen sind bislang Mangelware. Generell ist Tasmanien ja ein literarischer Schauplatz, der außer von Richard Flanagan zumindest auf dem hiesigen Buchmarkt kaum bespielt wird. 68.000 Quadratmeter umfasst die Insel, deren größter Teil unter Naturschutz steht und die zumindest für uns Europäer schon fast den Rand der Welt darstellt. Nun betritt mit Kyle Perry ein Krimiautor die Bühne, der mit Die Stille des Bösen ein formidables Debüt vorlegt. Ein Debüt, dessen nichtssagender deutscher Titel noch der schwächste Aspekt des Buchs ist.


Im Original trägt Perrys Buch den Titel The Bluff. Ein stimmiger Titel, geht es doch um Täuschung, Manipulation und das Spiel mit Erwartungen und Öffentlichkeit. Ausgangspunkt ist der Schulausflug einer Gruppe von Schüler*innen in die Great Western Tiers, eine im Herzen Tasmaniens gelegene Region. Bei diesem Ausflug verschwinden vier Schülerinnen spurlos, eine betreuende Lehrerin wird vor Ort verletzt. Die beiden Polizisten Cornelius „Con“ Badenhorst und Gabriella Pakinga übernehmen die Ermittlungen und versuchen den Verbleib der Mädchen in der Wildnis Tasmaniens zu klären.

Besonders brisant wird das Verschwinden durch die Legende des „Hungermanns“. Dieser forderte schon einmal im Jahr 1985 Opfer, als Schülerinnen ebenfalls verschwanden. Seitdem wurde ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse gebreitet und die Legende des „Hungermanns“ war tabu. Doch mit dem Verschwinden der jungen Frauen taucht die Legende wieder auf, befeuert durch das Agieren ihrer Mitschülerin Madison. Diese betätigt sich als reichweitenstarke Influencerin und verfügt dadurch über ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument, nämlich die öffentliche Wahrnehmung.

Gezielt streut sie Informationen und hält andere wichtige Beobachtungen zurück, mobilisiert durch ihre Videos die lokale Bevölkerung in Limestone Creek und manipuliert ihre Mitmenschen und die Polizei. Eine echte Blufferin also, die die Suche nach ihren Mitschülerinnen als Spiel begreift.

Aufruhr in Tasmanien

Kyle Perry - Die Stille des Bösen (Cover)

Um seinen Krimi zu erzählen wählt Kyle Perry drei Perspektiven, aus denen er hauptsächlich erzählt. So erlebt man die Ermittlungen aus Sicht von Con Badenhorst. Für den Aspekt der lokalen Bevölkerung ist Murphy zuständig, er ist der Vater eines der verschwundenen Mädchen versorgt als Drogenproduzent halb Limestone Creek. Und einen Einblick in die Schulklasse erhält man durch die Lehrerin Eliza, die beim Klassenausflug niedergeschlagen wurde und die vier Mädchen als letzte Zeugin sah. Diese drei Personen sind aufeinander angewiesen, um das Verschwinden der Mädchen zu klären. Doch nicht jeder von ihnen ist ein verlässlicher und ehrlicher Zeuge, auch hier greift der Originaltitel des des Buchs.

Kyle Perry gelingt es, Stück für Stück die Wahrheit über das Verschwinden der Mädchen zu enthüllen. Er schildert die von Madisons Agieren ausgelösten Dynamiken und treibt das Buch in gutem Tempo voran. Immer wieder wechselt er die Blickwinkel, erzählt von der komplizierten Suche im unzugänglichen tasmanischen Hinterland und inszeniert diese Kulisse mit tollen Bildern. Man meint förmlich, sich in dort in den Great Western Tiers zu befinden, die dschungelartige Natur dort voller Berge, Grünzeug und Gumpen gemeinsam mit Badenhorst und Co zu durchstreifen. Das, was das Cover verheißt, liefert Kyle Perry dann im Inneren uneingeschränkt. Suspense und Natur, es ist hier alles drin.

Fazit

Vertrügen auch einige der Figuren noch ein Mehr an Profil und Hintergrund, ist das Buch doch ein erstaunlich souverän erzählter Krimi, dessen Taktung und Wendungen routiniert wirken. Themen wie das Aborigine-Erbe Tasmaniens, gefährliche Dynamiken der Sozialen Medien und der lokale Drogenhandel werden von Kyle Perry gestreift, ohne dass sie die Handlung beschweren. Der Plot ist gut entworfen, der Schauplatz plastisch eingefangen und die Lektüre von Die Stille des Bösen macht Lust auf mehr. Hier schreibt ein echtes Krimitalent, das Tasmanien mit Verve auf die kriminalliterarische Landkarte packt. Bravo!


  • Kyle Perry – Die Stille des Bösen
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-117-6 (Atrium)
  • 460 Seiten. Preis: 22,00 €
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Samantha Harvey – Westwind

Frage ich hier in der Bücherei suchende Kund*innen nach einem Vergleichstitel für einen historischen Roman, dann fällt schnell der Titel Der Name der Rose. Wie viele der Kund*innen allerdings tatsächlich Ecos sperrigen Roman gelesen haben, als vielmehr Jean-Jacques Annauds Verfilmung des Buchs vor Augen haben, das weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass Samanta Harvey ein Buch geschrieben hat, das erstaunlich viele Berührungspunkte mit Umberto Ecos Roman aufweist. Der Titel des Buchs: Westwind.


Darin erzählt sie die Geschichte des Priesters John Reve. Vier Tage sind es, die uns der Geistliche schildert, oder besser gesagt: beichtet. Denn mit der Beichte kennt er sich aus. Als zuständiger Geistlicher im kleinen Örtchen Oakham sitzt er tagein, tagaus im eigens für die Kirche angeschafften Beichtstuhl und hört sich die Sünden seiner Schäfchen an. Manche bereuen aufrichtig, andere gestehen Quisquilien und noch andere lassen ihre Verfehlungen nicht mehr schlafen. Reve muss sich als Seelsorger um sie alle kümmern und zweifelt so manches mal auch an sich und seinen Fähigkeiten.

Besondere Aufregung herrscht im Dorf am Ende der Faschingszeit, nachdem ein Mitbürger verschwunden ist. Der reichste Mann des Dorfes hatte zuvor die Pläne für einen Brückenbau vorangetrieben. Hat er sich in die Fluten gestürzt? Wurde er ermordet? VierTage lang lauscht Reve den Beichten der Dorfbewohner und befragt sich selbst. Angetrieben wird er dabei auch von seinem Dekan, der extra angereist ist und ihn unter Druck setzt.

Diese vier Tage schildert uns John Reve allerdings nicht chronologisch. Vielmehr wählt Samantha Harvey einen besonderen erzählerischen Clou. Denn die vier Tage werden uns rückwärts erzählt, beginnend beim Fastnachtdienstag, endend am Fastnachtssamstag. Alles beginnt mit der Sichtung der Leiche, alles endet mit dem Verschwinden des Dorfbewohners.

Ein origineller historischer Krimi

Samantha Harvey - Westwind (Cover)

Dadurch weiß sich Westwind von der Fülle anderer historischer Krimis abzusetzen. Auch gelingt es Samantha Harvey eindrücklich, das Dorf und das soziale Leben dort im Mittelalter zu schildern. Die große Armut, die Versuche der Dorfbewohner*innen, sich ein ökonomisches Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen, die dumpfe Enge und intellektuelle Armut in Oakham. All das schildert Harvey eindrucksvoll und lässt so das „dunkle“ Mittelalter noch einmal auferstehen.

Wie ihr Priester tagein, tagaus im Beichtstuhl sitzt, die Geständnisse seiner Mitbewohner*innen entgegennimmt und ihnen die Absolution erteilt, mal gelangweilt, mal abgestoßen, mal interessiert, das vermag sie gut zu schildern. Allerdings ist diese Routine und erzählerische Gemächlichkeit ein Knackpunkt des Buchs, an dem sich die Leseerwartungen scheiden dürften. Denn Westwind ist alles andere als ein vorwärtsdrängender und pulsierender Thriller. Auch ein Ermittlerkrimi ist Harveys Werk nur bedingt.

Ein Bild aus Beichten

Die Spannung in diesem Buch speist sich aus der Frage, was mit dem Verschwundenen passiert ist. Der Wahrheit kommen wir als Leser*innen allerdings nur langsam auf die Spur. So ergeben viele Ereignisse erst in der Rückblende über die vier Tage einen Sinn. Mit dem Rückschritt in der Zeit verbinden sich langsam viele Punkte zu einem Muster. Die verschiedenen Beichten fügen sich langsam zusammen und lassen klarer sehen. Hierfür braucht es aber Geduld, denn die Handlung ergibt sich hier weniger aus der Außenhandlung, denn aus dem geistigen Puzzlearbeit.

In dieser Herangehensweise steht Harvey auch in der Tradition von Umberto Eco. Wie sich sein William von Baskerville unter den Mönchen umhört, mit ihnen spricht und so einen Eindruck gewinnt, das erinnert an die Beichtarbeit des Priesters, wenngleich wir hier anstelle von Adson von Melk die Assistenten sind, die sich ihre Gedanken machen. Das alleine als Analogie wäre allerdings reichlich dünn, eine Vielzahl von Krimis folgen ja diesem erzählerischen Grundmuster. Warum also meine Assoziation zu Der Name der Rose?

Viele weitere Merkmale von Westwind ähneln denen in Ecos Roman. Ein Geistlicher als Ermittler im tiefsten Mittelalter, ein rätselhafter potentieller Todesfall, ein abgeschlossener Kosmos voller Verdächtiger, Menschen, die die Bibel als Leitstern, aber auch als Drohkulisse interpretieren – und aus der Ferne drohen auch noch die Mönche der nahegelegen Abtei, den Grundbesitz der Dörfler zu beschneiden. Das alles sind Elemente von Samantha Harveys Buch, die einen ungewöhnlichen Mittelalterroman verfasst hat.

Fazit

Sollte künftig also wieder der eine Leser oder die andere Leserin nach einem Buch in der Tradition von Der Name der Rose fragen – jetzt habe ich einen guten Vergleichstitel, der durch seine verschachtelte Konstruktion und einen erzählerischen Clou überzeugt. Ein Buch, das das Dorfleben im Mittelalter plastisch beschreibt. Und das zeigt, wie komplex die Suche nach einer vermeintlich einfachen Wahrheit sein kann.


  • Samantha Harvey – Westwind
  • Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
  • ISBN 978-3-85535-077-3 (Atrium)
  • 350 Seiten. Preis: 22,00 €
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