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Heinrich Steinfest – Der betrunkene Berg

Buchhandlungen gibt es viele – und auch an besonderen Orten. Mal sind sie in ehemaligen Kirchen untergebracht, mal in Bahnhöfen, Theatern oder Banken. Aber eine Buchhandlungen, wie man ihr in Heinrich Steinfests neuem Roman Der betrunkene Berg begegnet, die hat man wohl so noch nicht gesehen. Denn bei Steinfest ist es die Buchhändlerin Katharina, die auf nicht weniger als 1765 Metern Höhe auf einem Berg ihre Buchhandlung betreibt mit – natürlich – alpinistischem Buchsortiment. Doch als sie einen Mann im Schnee in der Nähe ihrer Buchhandlung entdeckt, ist es mit der Ruhe vorbei.


Jedes Jahr ist es das gleiche. Die nebenan gelegene Schutzhütte geht in den Winterschlaf und nur Katharina hält alleine auf dem Berg die Stellung in ihrer Buchhandlung. Nach zwei Ehen und zwei Scheidungen und dem infolge der zweiten Scheidung erlangten Kapital hat sie vom Österreichischen Alpenverein eine Winterschutzhütte gepachtet, die sie zur Buchhandlung ausgebaut hat und die ihr Lebensmittelpunkt ist. Sogar Reinhold Messner hat schon einmal aus einem seiner alpinen Bücher dort gelesen, wenngleich es mit Laufkundschaft hier nicht weit her ist.

Besonders im Winter ist die Kundenfrequenz dort oben überschaubar, weswegen Schutzhütte und Buchhandlung schließen. Die Pächter der Hütte begeben sich ins Tal und Katharina sieht dafür im nebenangelegenen Steinhaus nach dem Rechten und nutzt die kalten Tage zwischen den Jahren für eine Inventur ihrer Buchhandlung. Lesen im Sessel, während draußen die Schneeflocken vorbeitreiben, Neusortierung der Bestände und ab und an ein Spaziergang aus dem Haus ins verschneite Freie, frei von Stress und Hektik.

Der Mann aus dem Eis

Eigentlich ein sehr beschaulicher Takt, der auch in diesem Winter wieder das Leben der Buchhändlerin bestimmen sollte. Doch bei einem ihrer Ausflüge ins Freie Ende November macht Katharina einen erstaunlichen Fund. Denn in einer Schneewehe entdeckt sie einen Mann, der nach dem Aufenthalt im Schnee ausgekühlt ist und kaum ansprechbar erscheint. Katharina beschließt, den Mann zu retten und gewährt ihm in ihrer kleinen Buchhandlung Obdach.

Heinrich Steinfest - Der betrunkene Berg (Cover)

Sie weist ihm den Lesesessel zu und pflegt den Mann wieder gesund. Dabei stellt sie fest, dass er sich weder an seinen Namen noch an seine Identität erinnern kann, geschweige denn, wie er auf den Berg ins Schneegestöber kam. Der kurzerhand auf den Namen Robert getaufte will einen Monat bei Katharina bleiben, um Kräfte zu fassen und sich zu erinnern, dann will er wieder ins Tal absteigen. Lesen, schlafen, den Erinnerungen nachspüren. So der Plan für die kommenden Tage. Doch natürlich kommt alles andere als vorhergesehen – wir sind ja schließlich auch bei Heinrich Steinfest.

Der Mann aus dem Eis erweist sich als begnadeter Skulpteur, der aus Schnee Gebilde wie das titelgebende Kunstwerk Der betrunkene Berg erschafft. Doch nicht nur seine bildenden Fähigkeiten, auch seine Kochkünste überraschen, insbesondere seine Zubereitung eines Fisolensalats. Ein Vogel wird ebenfalls in der alpinen Buchhandlung gesundgepflegt. Und dann erfolgt auf dem Berg natürlich das, was schon im Urvater aller Bergromane, nämlich in Thomas Manns Zauberberg, dem jungen Hans Castorp widerfährt. Ein Schneesturm, der Assoziationen wachruft und Erinnerungen bringt. Nur hier wird daraus nicht nur im übertragenen Sinn eine veritable Lawine, die noch eine weiteren Gast in die Buchhandlung am Berg spült.

Überbordende Erzähllust

Der betrunkene Berg ist einmal mehr ein Zeugnis für die überbordende Erzähllust von Heinrich Steinfest. So kreist sein Buch um die Frage von Erinnerung, Flucht vor Erinnerungen und von Schuld, vom Überleben und dem Erleben von Grenzsituationen. Er erzählt von Kidnapping (wobei Steinfests Heldin Lilli Steinbeck einen kleinen Cameo-Auftritt absolvieren darf), von untergehenden Fähren, von Lawinen, von bergsteigenden Pfarrern und noch mehr. Sein Buch ist eine wild sprühende Mischung aus kleinen Miniaturen und skurrilen Begebenheiten, wie sie typisch sind für Steinfests Schreiben.

Die manchmal doch etwas arg disparaten Erzählungen werden durch Steinfests ironische und manchmal leicht barocke Sprache zusammengehalten. Eine Sprache, die Steinfests österreichische Erzählherkunft irgendwo zwischen Wolf Haas und Heimito von Doderer gar nicht verhüllen will und zum Gelingen des Buchs beiträgt.

Dabei ist das wohl wichtigste Kennzeichen seines Buchs das Element der Überraschung. Weiß man bei Steinfest generell selten, woran man wirklich ist, so enttäuscht er auch mit seinem neuen Werk dahingehend nicht. Alles andere als langweilig ist das eigenwillige Personal und die Gegebenheiten, die er in Der betrunkene Berg aufbietet und so allem Erwartbaren zuwiderläuft. Denn auch ein Kammerspiel ist dieses Buch trotz seines Settings eigentlich nicht, immer wieder geschieht etwas Neues, geht es zurück in den Erinnerungen und im Bergsteigerbuch, das sie gemeinsam dort droben auf dem Berg lesen.

Fazit

Wer ein Faible für skurrile Erzähleinfälle hat und Prosa mag, die scharf an der Realität entlangschrammt, den dürfte auch Heinrich Steinfests neues Erzählabenteuer Der betrunkene Berg nicht enttäuschen. Hier treffen Vögel auf Schneeskulpteure auf Buchhändler auf untergehende Fähren auf Lawinen. Gewiss keine weltverändernde Prosa – aber unterhaltsam-überraschende allemal.


  • Heinrich Steinfest – Der betrunkene Berg
  • ISBN 978-3-492-07013-3 (Piper)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Dörte Hansen – Zur See

Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.


Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.

So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.

Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.

Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.

Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.

Die Prägung der Heimat

Dörte Hansen - Zur See (Rezension)

Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.

Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.

Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.

Die Kräfte der Insel

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.

Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.

Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.

Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.

Fazit

Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.

Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.


  • Dörte Hansen – Zur See
  • ISBN 978-3-328-60222-4 (Penguin)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

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Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei

Die Wühlmaus ermittelt. Yonatan Sagiv schickt mit Der letzte Schrei einen neuen Ermittler mit nicht ganz klarer geschlechtlicher Identität und einem Gespür für Fährten, Flirts und Fettnäpfchen auf die Straßen Israels. Auf der Suche nach einem vielversprechenden Teenagerstar blickt er in verschiedene Milieus und lernt die Schattenseiten des Popbusiness kennen.


Prince Connan ist tot. Die größte Gelegenheit meines Lebens rinnt mir durch die Finger, mein Vater betrügt nach siebenundvierzig Ehejahren meine Mutter, überall im Land brennt es, als müsste sich das Erdreich in einem fort erbrechen. Und ich bin hier auf dieser sklerosen Party mit einem Haufen Provinznudeln, die darauf bestehen, Fashion zu sagen statt Mode, und bete wie die allerletzte Miserable, ein Prinz mit flachen Witzen möge kommen und mich aus diesem Elend erretten, in das er mich selbst geworfen hat.

Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei, S. 205

Ja, es sind wirklich einige Fronten, an denen Oded Chefer gefordert ist. Die Wühlmaus lebt gerade in der Wohnung eines Freundes, hat sein eigentliches Apartment untervermietet. Für den PR-Spindoctor Binyamin Direktor soll er dem Verschwinden eines Mädchens klären, das im Begriff steht, der neue Star Israels zu werden. Privat ist sein Familienleben auch recht turbulent – und zudem lässt er sich von Männern sehr schnell den Kopf verdrehen. Eine Tatsache, die seiner Objektivität in Sachen Ermittlungen der verschwundenen Teenagerin nicht unbedingt zuträglich ist.

Und so ermittelt sich Oded mal erfolgreicher, mal reichlich unelegant und tappend durch die Welt der Teenagerin und trifft neben all den Ablenkungen auch durchaus auf Spuren, die ihn auf die Fährte ermordeter Transsexueller, viel falschem Schein und vielversprechender Dates bringen.

Ein Krimi mit LGBTIQA+-Hintergrund

Yonatan Sagiv - Der letzte Schrei (Cover)

Immer wieder wird aus verschiedenen Richtungen die Forderung vorgebracht, die Literatur solle diverser werden und die Pluralität der unterschiedlichsten Lebensformen in den Blick nehmen. Der letzte Schrei trägt diesen Forderungen Rechnung und zeigt ein Israel, das so ganz anders ist als das Bild des religiös geprägten Lands, das in unserem Denken noch vorherrscht. Transsexuelle, Diskussionen über gendergerechte Sprache, die Vielfalt von LGBTIQA+-Leben und dessen Repräsentation in der Öffentlichkeit, all das bildet dieser Krimi ab, was Verfechter*innen konservativer Geschlechterlehre verschrecken dürfte.

So referiert ein Charakter über die Fülle der Identitäten und wirft Oded Dinosaurier-Cisgenderbewusstsein vor, da er die Fülle an agender, non-binären, genderfluiden, queeren, bigender, pangender oder non-conforming-Identitäten ignorieren würde (S. 82).

Was in seiner ganzen Theoriehaftigkeit und dem Demühen um Diversität in literarischen Texten schnell dröge oder überfordernd werden kann, wird von Yonatan Sagiv durchaus unterhaltsam und ironisch in seinen Krimi eingebracht und eingebunden.

Zu den spannendsten Aspekten dieses Buchs gehört auch die geschlechtliche Identität ihrer Hauptfigur Oded Chefer. In seinen Zuschreibungen lässt sich die Wühlmaus nicht ganz eindeutig festlegen und entzieht sich mit seinem Verhalten und seinen Schilderungen einer eindeutigen Zuordnung.

Mein Herz fängt heftig an zu schlagen. Jetzt bin ich geliefert. Jetzt hat er mich. Jetzt werde ich die ganze Wahrheit gestehen müssen. Unmöglich, dass, wenn er meine Angaben noch einmal durchgeht, dieser Polizeioffizier nicht über den Namen stolpert. Oded Chefer – der bekannte und gefeierte Privatdetektiv, der die beiden Mordfälle gelöst hat, die in den letzten zwei Jahren das ganze Land in Atem gehalten hatten. Die brillante Ermittlerin, die Schulter an Schulter mit Oberinspektor Yaron Malka dafür kämpft, die die Kriminalität einzudämmen, die auf den Straßen unseres Landes tobt. Und nicht zuletzt die Spürnase de jour der Reichen und Prominenten. Der Mann und der der Mythos. Die Frau und das Mysterium.

Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei, S. 157

Geschlechtliche Ambiguität im Krimi

Diese Ambiguität zählt zu den interessantesten Aspekten des Buchs und entwickelt den Gedanken fort, den so schon etwa Tom Hillenbrand in Qube oder Stuart Turton in Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle mit ihren Krimis präsentieren, in denen sie geschlechtlich vielfältige Erzähler*innen wählten und ermitteln ließen. Der entscheide Unterschied ist, dass in diesen Titeln ein Erzähler in mehrere Figuren und Körper schlüpfte, ohne selbst die geschlechtliche Vielfalt mitzubringen, sondern diese nur für einen bestimmten Zeitraum anzunehmen und zu erfahren. Hier geht Yonatan Sagiv nun weiter und vereint das Weibliche und Männliche mit schwankenden Ausprägungen in der Figur des Oded Chefer.

Generell ist festzustellen, dass sich der zeitgenössische Krimi auch hier in Deutschland langsam öffnet und auch Figuren jenseits des binären Denkens zeigt, so auch jüngst der Suhrkamp-Verlag mit Candas Jane Dorseys Drag Cop, der eine ambisexuelle Ermittlerfigur in den Mittelpunkt stellt.

Diesbezüglich ist Der letzte Schrei wirklich modern und innovativ. Ansonsten bietet Yonatan Sagivs Krimi eher konventionelle Genreunterhaltung, die über die übliche Variation der Ermittlungstropen und Erzählansätze nicht hinauskommt. Oded Chefer sammelt Spuren, entdeckt die Hintergründe des Verbrechens, ermittelt in Zusammenarbeit mit der Polizei den Täter und überstellt diesen anschließend der Justiz. Das ist nicht schlecht, aber eben auch nicht viel mehr als Krimiunterhaltung von der Stange – eben aber mit einem ungewöhnlichen Protagonisten. Und mit Israel besitzt dieser Krimi einen Handlungsort, der abseits der populären Krimis von Dror Mishani gegenwärtig auch nicht allzu häufig vertreten ist.

Fazit

Der Verlage Kein & Aber weist mit Ayelet Gundar-Goshen, Yishai Sarid oder Noa Yedlin ja ein eh schon spannendes Literaturprogramm aus dem israelisch-palästinensischen Kulturraum auf. Zu diese Stimmen gesellt sich nun auch Yonatan Sagiv, der einen zwar recht konventionellen Krimi vorlegt, dafür aber mit einem originellen Ermittler überzeugen kann, dem man noch weitere Einsätze gönnt.


  • Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei
  • Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
  • ISBN 978-3-0369-5865-1 (Kein & Aber)
  • 400 Seiten. Preis: 25,00 €
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Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
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Greg Buchanan – Sechzehn Pferde

Ist es ein Krimi? Ist es eine Erzählung übers Verschwinden? Ist es ein gelungenes Buch? Ich bin mir bei all diesen Fragen nicht sicher – was ich aber weiß: Sechzehn Pferde von Greg Buchanan ist ein außergewöhnliches Roman, der sich Erwartungen widersetzt und mit vielen Brüchen aufwartet.


Es ist ein grausam-skurriler Anblick, der sich dem Polizeibeamten Alec auf dem morgendlichen Acker eines Bauern in der englischen Einöde bietet. Sechzehn Pferdeköpfe wurden halb in der Erde verbuddelt, sodass eine Auge der Tiere noch in den Himmel blickt, der Rest der Köpfe aber verdeckt ist. Auch die entsprechenden Pferdeschweife finden sich in der Nähe – vom Rest der Körper fehlt allerdings jede Spur. Der Bauer, dem der Acker gehört, hatte noch nie Pferde und wundert sich, wie diese auf seinen Grund gelangt sind und kann Alec nicht weiterhelfen.

Um das Rätsel der Pferdeköpfe zu lösen, wird die Veterinärforensiker Cooper Allen hinzugezogen, die für die überforderte Polizei Licht ins Dunkel bringen soll. Wer hat die Pferdeköpfe vergraben, woher stammen die Tiere und was soll die skurrile Drappierung der Schädel bewirken? Alec und Cooper beginnen im kleinen Städtchen Ilmarsh zu ermitteln, einem von Verfall gekennzeichneten Küstenstädtchen, bei dem die täglichen Bingorunden noch das Spannendste zu sein scheinen.

Irgendwas ist faul im Städtchen Ilmarsh

Schnell stellt sich heraus, dass irgendwas faul im Städtchen Ilmarsh ist. Die Besitzerin einer Pferderanch hütet Geheimnisse, die das Hotel der Stadt gammelt vor sich hin, ein Landstreicher berichtet von zwei Personen, die er am Tatort gesehen hat, eine scheint geweint zu haben. Man findet Kisten mit verwesten Tieren, die verschiedene Buchstaben tragen. Der Fall wird zunehmend verworren und unübersichtlich.

„Nichts passt zusammen“, sagte Cooper und wandte sich dem Meer zu. „Jeder, der uns helfen könnte, ist tot oder lügt oder hat sich aus dem Staub gemacht. Dieser Fall ist vertrackt.“

Greg Buchanan – Sechzehn Pferde, S. 354

Und dann bricht der erste Teil des Buchs auch noch mit einem Paukenschlag ab. Alec hat einen schweren Unfall, sein Sohn verschwindet, alle Beamten, die am Tatort waren, erkranken plötzlich schwer. Die Pferdeschädel waren offenbar mit einer toxischen Anthrax-Variante verseucht, die eine – mehr Aktualität geht nicht – Quarantäne der Bewohner des Städtchens notwendig macht.

In der Folge liegt die Hauptlast der Ermittlungen auf den Schultern von Cooper, die nun alleingestellt das Rätsel dder Pferdeschädel und aller damit verbundenen Ereignisse zu lösen versucht.

Alles andere als konventionell

Greg Buchanan - Sechzehn Pferde (Cover)

Was bis hierhin vielleicht nach einem konventionellen Krimi geklungen hat, entpuppt sich in der Realität als alles andere als das. Oftmals beschlich mich beim Lesen der Eindruck, ich würde hier einem besonders experimentellen Dominik-Graf-Krimi beiwohnen. Das Buch wirkt durch zahlreiche Sprünge in der Betrachtung, eingeschobene Dialogfetzen, kurze Szenen, Chats und unklare Bezüge wie ein wild geschnittener und alles andere als konziser Film, bei dem Leerstellen und unterlassene Erklärungen zum erzählerischen Konzept gehören.

Auch wenn alle Zutaten für einen klassischen Krimi vorhanden sind (das Rätsel der Pferdeschädel, Ermittlerfiguren, eine Auflösung ganz am Ende) – so muss ich sagen, dass das, was Greg Buchanan daraus macht, alles andere als klassisch und nicht einmal zwingend ein Krimi ist.

Denn wo andere Autor*innen ihre Leserschaft an die Hand nehmen, die Figuren, ihre Hintergründe und aktuelle Entwicklungen ausbreiten, wählt Greg Buchanan den Ansatz der Verrätselung. Nichts wird auserzählt, vielmehr reißt er in unzähligen Szenen Dinge an, die ihn für seine Geschichte dann gar nicht weiter interessieren. Die Quarantäne der Stadtbewohner, die biografischen Hintergründe der Figuren, die einzelnen Sprünge nach vorne oder nach hinten werde teilweise nur en passant eingeflochten, nicht aber auserzählt. So etwas wie tiefenscharfe Figuren gibt es nicht, alle Charaktere stehen in Sechzehn Pferde nur lose nebeneinander, ohne große Verbindungen oder Beziehungen.

Schneisen im erzählerischen Dickicht

Zwar gibt es Schneisen in diesem erzählerischen Dickicht, aber diese verlieren sich auch gerne wieder oder enden im Nichts. So serviert uns Greg Buchanan kurz vor Schluss einen Täter und ein Motiv (womit wir wieder beim Krimi sind), schlüssig hergeleitet ist das eher weniger und wird sehr unvermittelt eingeführt. Auch die ganze Umgebung mit ihren Figuren bleibt seltsam nebulös. Es gibt Erpressungen, eine nahegelegene Insel, die mit ihrer Geschichte etwas an die Ostseeinsel Riems erinnert, die Anthrax-Vergiftungen, tote Tiere und verschwundene Menschen und Pferde – es bleibt aber zumindest für meinen Geschmack zu viel im Vagen.

Ich muss gestehen, dass ich mit den Sechzehn Pferden nicht wirklich warm wurde, auch wenn ich die erzählerischen Ansätze und die Weiterentwicklung eines konventionellen Krimis hier durchaus goutiere. Im Ganzen waren es mir dann aber doch einfach zu viele Brüche, Fragen und skizzenhafte Erzählelemente, die unaufgelöst blieben und keinen tieferen Sinn ergaben.

Wer einen Roman irgendwo zwischen Mystery, Krimi und Landschaftsschilderung sucht, der sollte definitiv einen Blick auf Buchanans Debüt werfen. Mich erinnerte das Buch in seinen erzählerischen Ansätzen und meinen eigenen falschen Leseerwartungen an Jon McGregors Buch Speicher 13, das für mich einige Berührungspunkte zu Sechzehn Pferde aufweist. Aber auch an Jon Bassofs Factory Town erinnerte mich das Debüt von Greg Buchanan des Öfteren.

Fazit

Ein mitreißender, linearer und spannender englische Krimi nach klassischer Machart ist das nicht. Vielmehr spielt Greg Buchanan mit Erwartungen, Verschwinden, Chronologie und Einsamkeit und schafft dadurch ein Werk, das in seiner Unangepasstheit und seiner schroffen Schnitt- und Erzähltechnik durchaus bemerkenswert ist. Für Begeisterungsstürme bei mir hat es leider nicht gereicht, obwohl ich mich eigentlich als passende Zielgruppe für Greg Buchanans Buch begreife.


  • Greg Buchanan – Sechzehn Pferde
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-10-397488-1 (S. Fischer)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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