Tag Archives: Verschwinden

Sam Hawken – Vermisst

Laredo ist einer der Hotspots für den amerikanisch-mexikanischen Güterverkehr. Das hat mit der Lage der texanischen Stadt zu tun, die über eine Brücke direkt mit Nuevo Laredo in Mexiko verbunden ist. Tausende von Trucks transportieren Tag für Tag Waren aus Mexiko in die USA und umgekehrt. Auch für den Drogenhandel ist die Stadt von zentraler Bedeutung. Verschiedene Kartelle wie die Golfos und das Sinaloa-Kartell kämpfen mit brutaler Gewalt um die Vorherrschaft über die Stadt. Auch Jack Searle, der Held von Sam Hawkens Krimi Vermisst wird in diesen Konflikt hineingezogen und bekommt die Tödlichkeit des mexikanisch-amerikanischen Drogenkriegs am eigenen Leib zu spüren.


Es war eine Meldung, die selbst die von den alltäglichen Mord- und Gewaltnachrichten im Bezug auf den Drogenkrieg abgestumpfte amerikanische Öffentlichkeit aufhorchen ließ. Gerade einmal sieben Stunden währte die Karriere des neuen Polizeichefs von Nuevo Laredo. Alejandro Domínguez Coello hatte gerade frisch seinen Dienst angetreten, als von Auftragsmördern eines lokalen Drogenkartells erschossen wurde. Diese Meldung ließ auch die in Sachen Brutalität und Gewalt schon viel gewohnten Menschen in der texanisch-mexikanischen Grenzregion aufhorchen.

Hier war eine neue Eskalationsstufe im Drogenkrieg erreicht. Leider aber bei Weitem nicht die finale, wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt haben. Immer brutaler agieren die Kartelle, die mit Morden und zur Schau gestellter Gewalt wichtige Gebiete für sich besetzen wollen. Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Kartellen eskalieren immer weiter und sorgen für Tausende von Opfern. Alleine in den Jahren 2015-2020 zählen vorsichtige Schätzungen über 150.000 Tote im Bezug auf den grassierenden Drogenkrieg. Es scheint kein Ende der Gewalt in Sicht. Im Gegenteil.

Wie sich ein Drogenkrieg anfühlt

Wie sich dieser Drogenkrieg für normale Menschen anfühlt, davon erzählt Sam Hawken. Er stellt den Handwerker Jack Searle in den Mittelpunkt seines Romans. Dieser verdient mit Aufträgen auf Baustellen sein täglich Brot. Er sorgt für seine beiden Stieftöchter und besucht einmal im Monat seine mexikanischen Verwandten. Dazu muss er mit seinen Töchtern über die Brücke nach Nuevo Laredo.

Sein Leben ist ein unspektakuläres. Manchmal heuert er mexikanische Migranten an, die ihm bei der Arbeit helfen. Die Aufträge sichern ihm ein Auskommen – für mehr reicht es allerdings nicht. Ein kleines Eigenheim mit Unkraut in der Auffahrt, ein Truck, das nennt Searle sein Eigen.

Die Katastrophe beginnt, als der dem Drängen seiner minderjährigen Tochter nachgibt. Diese möchte zusammen mit der Tochter der mexikanischen Verwandschaft in Konzert in Mexiko besuchen. Jack erlaubt ihr diesen Ausflug mit Bauchgrimmen – das sich schon bald als gerechtfertigt erweist. Denn die beiden jungen Frauen kehren nicht vom Konzert zurück. Verzweifelt beschließt Jack, sich auf die Suche nach seinen Töchtern zu machen. Unterstützung erhält er dabei vom Polizisten Gonzalo Soler, der für die Policia Municipale in Nuevo Laredo tätig ist. Zusammen durchkämmen die beiden die Grenzstadt auf der Suche nach den beiden Mädchen. Dabei stellen sie rasch fest, das in dieser Stadt nichts funktioniert, ohne dass ein Kartell seine Finger im Spiel hat …

Ein Buch im Schatten Don Winslows

Sam Hawken steht mit seinem Krimi unweigerlich im Schatten DES Chronisten des war on drugs: Don Winslow. Dieser hat mit seinen drei Epen Tage der Toten, Das Kartell und Jahre des Jägers von den Anfängen des Drogenkonfliktes bis in die heutige Trump-Ära hinein unglaublich feinteilig und komplex das metastasierende Geflecht Drogenkrieg herausgearbeitet. Die Messlatte liegt damit für Sam Hawken schon fast unerreichbar hoch. Und ja – er reißt sie erwartungsgemäß. Denn die Komplexität der fast 3000 Seiten starken Winslow’schen Opus Magnum erreicht Sam Hawken mit seinem Krimi nicht. Vielmehr konzentriert sich Hawken auf die verzweifelte Suche eines Vaters nach seiner Tochter.

Sam Hawken - Vermisst (Cover)

Ein klassischer Plot, der – wie auch Peter Henning in seinem Nachwort hinweist – in der Tradition von Ein Mann sieht rot oder der Taken-Filmreihe mit Liam Neeson steht. Ein solcher Plot steht und fällt natürlich mit einem zentralen Element – dem Helden. Und hier offenbart Vermisst leider zentrale Schwächen. Denn weder Jack Searle noch Gonzalo Soler sind sonderlich plastisch gezeichnet Figuren. Ihnen fehlt eine Backstory, die sie besonders auszeichnet und durch die man Sympathien für sie entwickelt. Dass Soler der um sich greifenden Korruption zu widerstehen versucht und Jack ein anständiger Kerl ist, das reicht für ein tiefergehendes Leseerlebnis leider nicht aus.

Folglich folgt man ihrer Suche nach dem Verschwinden von Jacks Stieftochter auch eher distanziert, vor allem, da diese Gegenperspektive der jungen Frauen im Buch nie wirklich angerissen wird (wenngleich dann das Ende klarmacht, warum). Um wirklich Drive zu entwickeln und die Leser*innen mitfiebern zu lassen, dazu fehlt es Sam Hawken schlicht an literarischen Möglichkeiten.

Auch hier drängt sich wieder unweigerlich der Vergleich zu Don Winslow auf, wenngleich das wenig fair erscheint. Der gebrochene Art Keller, den die Verluste seines Lebens gezeichnet haben, der aber unerschütterlich seine Mission verfolgt – das ist ein Charakter, wie er glaubhaft und plastisch ist. Mit diesem Vergleich im Hinterkopf hatte Sam Hawkens Buch das Nachsehen, wenngleich das Ende von Vermisst zu den stärksten Aspekten des Buchs gehört.

Von der Realität längst eingeholt

Ein Problem, das mich die Lektüre zudem etwas distanziert genießen ließ, ist das der Realität. Natürlich: was die Kartelle in Hawkens Buch treiben, ist schlimm. Auch die kriegsähnlichen Zustände und Schilderungen bedrücken. Allerdings ist die Realität doch noch ein ganzes Stück grausamer und brutaler geworden und hat die Fiktion dieses Buchs schon lange eingeholt. Es wirkt schon fast nostalgisch, wenn man sich hier noch auf der Suche nach den beiden Mädchen zusammentelefoniert oder an einem Drucker daheim Fotos reproduzieren muss, um die Stadt mit Suchaufrufen zu tapezieren. Die Realität der sozialen Medien, die modernen technischen Möglichkeiten einer Personensuche, in Vermisst haben sie noch nicht Einzug gehalten.

So wirkt es, als habe die Realität dieses Buch in vielen Aspekten längst eingeholt und mit Vollgas rechts überholt. Bilder von dutzenden unter Brücken Erhängten, Drogenbarone wie El Chapo und die flankierende Berichterstattung durch die Medien lassen Vermisst etwas abgehängt erscheinen und geben dem Buch einen leicht historischen Touch der Beschreibung eines frühen Zustandes des war on drugs.

In Verbindung mit den etwas limitieren literarischen Gestaltungsmitteln Sam Hawkens entsteht so der Eindruck eines Buchs, das sowohl von der Realität als auch von anderen literarischen Größen überholt wurde. Als Erzählung eines einfachen Mannes auf seiner Suche nach seiner Stieftochter gegen alle Widerstände geht das Buch in Ordnung. Auch schafft es Hawkens, einen Eindruck davon zu erwecken, wie sich diese Drogenkriege für unbescholtene Menschen in der Grenzregion anfühlen müssen. Mehr allerdings kann das Buch nicht liefern und verliert gegen die so komplexe und auf der Höhe der Zeit agierende Prosa Don Winslows deutlich.


  • Sam Hawken – Vermisst
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-948392-02-4 (Polar-Verlag)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Chances are …?

Richard Russo – Jenseits der Erwartungen

Was macht eigentlich eine gute Sommerlektüre aus? Die meisten Menschen würden eine Sommerlektüre wohl mit dem Großteil der Spiegel-Bestsellerliste gleichsetzen. Konfektionell geformte Bestsellerware, die sich auch nebenbei am Strand gut wegschmökern lässt. Irgendetwas von Lucinda Riley oder Sebastian Fitzek oder ein „süffiger“ Historienschinken. Hauptsache man kann zwischendurch mal einschlafen oder in den Pool hüpfen und weiß danach gleich wieder, wo man zuletzt war.

Meinen Wunsch nach Anspruch möchte ich aber auch im Sommer und/oder am Strand nicht aufgeben. Ich wünsche mir eine Sommerlektüre, die fesselt, dabei aber auch den Anspruch nicht vergisst und mich zu keinem Zeitpunk unterfordert. Gut lesbar sollte das Ganze natürlich sein, aber eben auch eine tiefergehende Ebene besitzen. Klingt nach einer schwierigen Buchfindung? Mitnichten!

Eine solche Sommerlektüre habe ich aktuell wieder gefunden. Sie stammt vom Pulitzerpreisträger Richard Russo, wurde von Monika Köpfer übersetzt und trägt den Titel Jenseits der Erwartungen. Ein schön melancholischer Titel, der allerdings am englischen Original etwas vorbeigeht. Denn eigentlich trägt das Buch den Titel Chances are … und rekurriert auf einen Song von Johnny Mathis aus dem Jahr 1958. Ein etwas schmalziger Song, den Russo aber geschickt zum Leitmotiv des Romans macht.

Denn Chancen und verpasste Chancen sind das Thema, um das Russos leichtfüßiger aber doch auch melancholischer Roman kreist. Im Mittelpunkt stehen dabei die drei „Musketiere“ Lincoln, Teddy und Mickey. Schon seit Studienzeiten kennen und mögen sie sich. Der kurz bevorstehende Vietnamkrieg und seine Einberufungslotterie hat die Männer damals zusammengebracht. Die Chancen, die ihnen das Leben seither bot, haben sie ganz unterschiedlich genutzt.

Mickey tourte und tourt noch immer als Musiker und Musikproduzent durch die Lande. Teddy verdient sein Geld als Kleinverleger und Lektor in Personalunion , der sich auf christliche Bücher spezialisiert hat. Und Lincoln ist Immobilienmakler geworden. Er besitzt selbst ein Ferienhaus in Chilmark auf der Promi-Insel Martha’s Vineyard. Dort treffen die drei Männer im Alter von 66 Jahren nun wieder aufeinander. Die Amtszeit von Präsident (und ebenfalls Martha’s Vineyard-Urlauber) Barack Obama steht bevor, die Vorwahlen sind in vollem Gange.

Was geschah mit Jacy?

Seit den Studientagen ist bei den drei Männern viel passiert. Alle müssen einsehen, dass ihre Sturm-und-Drang-Phase wohl endgültig vorüber ist, wenngleich einige von ihnen das noch gekonnt verdrängen. Ein anderes Ereignis haben die Männer aber auch so gut es geht verdrängt. Schon einmal verbrachten sie nämlich einen Urlaub in Chilmark, kurz bevor die Einberufungsbefehle für Vietnam ausgesendet wurden. Damals war die Jacy ihr Gast. Die junge Frau hatte allen drei Männern gehörig den Kopf verdreht, doch dabei war sie eigentlich verlobt.

Richard Russo - Jenseits der Erwartungen (Cover)

Doch Jacy verschwand nach dem Urlaub auf Martha’s Vineyard spurlos. Die drei Freunde, allen voran Lincoln, rechnen bis heute mit dem Schlimmsten. Deutlich in seiner zweiten Lebenshälfte stehend und mittlerweile vom Leben einigermaßen resigniert beschließt Lincoln nun, dass es an der Zeit ist. Er will den bis heute schmerzenden Stachel des Nicht-Wissens nun ausmerzen. Was ist wirklich mit Jacy passiert? Er beginnt mit seinen Nachforschungen, die ihm auch neue und überraschende Seiten an seinen Freunden offenbaren, die er doch schon so lange zu kennen glaubt.

Liest man meinen Abriss bis hierhin, könnte man mit einem Krimi im Stile eines Joel Dickers rechnen. Ein ermittelnder Charakter, verborgene Geheimnisse hinter glattpolierten amerikanischen Vorstadt-Fassaden, ein ungewisses Schicksal. Doch das trifft nur teilweise zu. Jenseits der Erwartungen besitzt einen untergründigen Sog, der aus der Frage von Jacys Schicksal resultiert. Doch darüber hinaus bietet Russos Buch viel mehr.

Was vom Leben bleibt

Jenseits der Erwartungen ist eine Meditation, was das Leben mit einem so anstellt, nachdem es einem sein Blatt zugeteilt hat. Was stellt man mit den Chancen an, die sich einem im Leben bieten? Wie nutzt man sein Schicksal und wird glücklich? Mit den drei im Mittelpunkt des Buchs stehenden Protagonisten Lincoln, Mickey und Teddy exerziert Richard Russo das durch. Alle drei gleich alt, alle ähnlich sozialisiert – doch dann drei völlig unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Während Mickey noch immer den wilden Rocker mit Motorrad und unstetem Lebenswandel gibt, ist Teddy das genaue Gegenteil. Ein unsicherer, von Anfällen geplagter Textarbeiter, der keine großen Sprünge machen kann. Oder Lincoln mit seiner Familie und dem vermeintlichen Glück, das sich für ihn nicht wirklich so darstellt.

Richard Russo ist ja einer der größten Menschenzeichner, die ich im aktuellen Literaturbetrieb so kenne. Wie ein begnadeter Steinmetz verleiht er seinen Figuren Ecken und Kanten, Macken und Schrullen, und gestaltet sie so unglaublich plastisch. Was ihm in Ein Mann der Tat herausragend gut gelang, das schafft er auch in Jenseits der Erwartungen wieder. Er erzeugt Figuren, mit denen ich mich sofort identifizieren konnte und die mir verständlicher waren, als fast alles, was es sonst in der amerikanischen Literatur so zu lesen gibt. Wie es Russo schafft, alles mit diesem schwebenden heiter-resignativ-sommerlichen Grundton zu grundieren, das ist große Schriftstellerkunst.

Was bleibt vom Leben? Welche Chancen wurden vertan? Im Zusammentreffen der drei Männer gelingt es Russo, verschiedene Szenarien durchzuspielen und so ein einen vielgestaltigen Fächer von den Leser*innen auszubreiten. Gerade auf den letzten Seiten bekommt das Buch auch eine philosophische Tiefe, indem er abermals um die Frage kreist Chances are …?.

Dadurch, dass er immer wieder die Perspektiven abwechselt und andere Blickwinkel einnimmt, entstand bei mir zu keinem Zeitpunkt Langeweile, im Gegenteil. Ich flog durch diese so geschmeidig erzählten Seiten stets mit der Frage im Hinterkopf, was denn jetzt eigentlich mit Jacy passiert ist. Hier schreibt ein souveräner Erzähler, dem genau das gelingt, was ich immer für meine Strandtasche oder den Rucksack für den Baggersee suche: beste sommerliche Lektüre mit Anspruch.


  • Richard Russo – Jenseits der Erwartungen
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN: 978-3-8321-8115-4 (DuMont-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 432 Seiten
Diesen Beitrag teilen

Hari Kunzru – Götter ohne Menschen

Ein Roman, so unergründlich wie die Wüste, in der er spielt: Hari Kunzrus Roman Götter ohne Menschen über verschwundene Kinder, kriselnde Beziehungen und Außerirdische.


Geht es um scheinbar Übersinnliches, das in den vernünftigen, geordneten Alltag einbricht, dann ist der Brite Hari Kunzru ein ausgemachter Fachmann. Das bewies er schon in seiner Vintage-Musik/Geisterstory White Tears, in der zwei Musiknerds mithilfe eines Blues-Fragments auf die Spur eines geisterhaften Musikers gelangten, die in den Süden der USA führte.

Nun liegt in der deutschen Übertragung durch Nicolai von Schweder-Schreiner Kunzrus Roman Götter ohne Menschen aus dem Jahr 2011 vor. Ein Buch, das durch seine Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit eine einfache inhaltliche Zusammenfassung kaum möglich macht.

Vielmehr kommt man der komplexen Erzählung Kunzrus am besten mit dem Vergleich eines Baumes nahe. Den Hauptstamm jenes Baums bildet die Geschichte des Paars Matharu. Er, Jaz, ein indischer Einwanderer, zerrissen zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der amerikanischen Aufstiegsgesellschaft und seinen familiären Wurzeln. Sie, Lisa, Mutter von Raj, dem gemeinsamen Sohn, der unter einer Autismus-Spektrums-Störung leidet. Die Ehe kriselt, die beiden Partner leiden unter ganz eigenen Problemen, zudem belastet beide die Situation mit ihrem Kind zusehends. Ein gemeinsamer Ausflug soll Abhilfe schaffen. Bei diesem Trip in Richtung Mojave-Wüste verschwindet Raj dann allerdings spurlos. Wilde Spekulationen über das Paar setzen ein und die Öffentlichkeit nimmt rege Anteil am Schicksal des verschwundenen Jungen.

Geschichten aus drei Jahrhunderten

Um diesen Erzählungsstamm ranken sich diverse Episoden, die Kunzru im 18. Jahrhundert beginnen lässt und die sich bis in die Gegenwart erstrecken. Da gibt es den Bericht eines spanischen Missionars, Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis hinein in die Flower-Power-Jahre. Inhaltlich vielstimmig sind diese Erzählungen mal an die mündliche Erzähltradition der Indianer angelegt, mal eine wilder Cowboy-Räuberpistole, mal eine höchst aktuelle Erzählung einer aus dem Irak stammenden Geflüchteten. Allen gemein ist, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Nähe einer sagenumwobenen Gesteinsformation in der Wüste kamen.

Hari Kunzru - Götter ohne Menschen (Cover)

Wie ein fein verästeltest Geflecht umgeben diese Geschichte die Haupterzählung. Verschiedene Figuren aus den Episoden tauchen in anderen Geschichten wieder auf. Leitmotive wie die Wüste, das Verschwinden von Kindern oder der Kontakt mit Außerirdischen sind Themen, die in verschiedenen Manifestationen immer wieder hervorscheinen und so ein Netz aus Bezügen herstellen. Diese Verästelungen sind manchmal ganz zart, dann auch wieder offensichtlicher. Alle Suchenden, die Lektüre auch als Schnitzeljagd begreifen, dürften hier ihre große Stunde erleben. Denn hinter Götter ohne Menschen steckt wirklich ein raffiniertes Konzept.

Zu den Kunstfertigkeiten diesen Romans zählt auch, dass Kunzru Themen zusammenbringt, die eigentlich nicht nicht zusammenpassen wollen. So schafft er es, aus der Alienbegeisterung, der Sinnsuche und dem Wunsch nach spiritueller Erfahrung in der Wüste ein Thema zu machen, das in unterschiedlichsten Facetten immer wieder im Buch auftaucht. Die Hinwendung zu einer übersinnlichen Kraft, die schon im Buchtitel thematisiert wird, setzt sich im Buch fort. Und dass, ohne dass das Buch in eine unangenehme theosophische oder esoterische Stoßrichtung kippt. Vielmehr zeigt Kunzru den Wunsch nach Spiritualität, der über alle Zeit hinweg in allen Menschen wurzelt.

Götter ohne Menschen, aber mit literarischer Vielfalt

Eine weitere Stärke dieses grandiosen Frühjahrstitels ist auch seine literarische Vielfalt. Sobald Schriftsteller*innen das Mittel der Multiperspektive für ihre Erzählung wählen, besteht eine ganz große Gefahr: die schriftstellerischen Mittel der Erzählenden sind dergestalt limitiert, dass alle Figuren gleich denken und gleich klingen (wie etwa zuletzt in Simone Lapperts Der Sprung). Obwohl sich der Name der erzählenden Figur ändert, klingt sie genauso wie die anderen Figuren zuvor, mit der wir die Handlung erlebt haben.

Für solche Fehler oder erzählerischen Limitation ist Hari Kunzru viel zu versiert. Mit welcher Akribie er sich in die unterschiedlichen Milieus einarbeitet und deren Welten auf wenigen Seiten glaubhaft zum Leben erweckt, ist meisterhaft. Wie fühlt sich eine Ehe mit einem an Autismus leidenden Kind an? Wie hat ein spanischer Eroberer im 18. Jahrhundert seine Berichte formuliert? Wie fühlt sich ein sinnentleerter britischer Rockstar, der die Flucht in ein anonymes Motel angetreten hat? All diesen höchst heterogenen Figuren verpasst der britische Schriftsteller eine eigene Sprache (toll von Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt) und einen eigenen Blick auf die Welt.

Es macht große Freude, immer wieder in neue Zeiten und neue Lebensgeschichten einzutauchen, die trotzdem miteinander verbunden sind. Ähnlich wie bei David Mitchells Wolkenatlas steht auch hier am Ende ein zeitenüberspannendes Netzt aus Figuren und Geschichten. In meinen Augen große Schrifstellerkunst.

Fein geschrieben, raffiniert komponiert, mit interessanten Motiven und Ideen durchzogen: Götter ohne Menschen ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das Hari Kunzrus Ruf als einem der interessantesten britischen Schriftstellern der Gegenwart zementiert.

  • Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schrein
  • 416 Seiten, € 24,00 Gebunden mit Schutzumschlag
  • ISBN 978-3-95438-117-3 (Liebeskind-Verlag)
Diesen Beitrag teilen

Alix Ohlin – Robin und Lark

Zwei völlig unterschiedliche Schwestern stehen im Mittelpunkt des neuen Romans von Alix Ohlin. Ebenso unterschiedlich wie die Anlagen und Temperamente der beiden Schwestern sind auch ihre Namen. Die eine Schwester, die als Erzählerin fungiert, heißt Lark, also Lerche. Ihr Widerpart trägt das Rotkehlchen im Namen, nämlich Robin. Doch was ist es, das Menschen bei allen vorhandenen Unterschieden zusammenhält? In ihrem Roman versucht sich Alix Ohlin an einer Antwort.


Alix Ohlin - Robin und Lark (Cover)

Dabei ist zunächst der Begriff der Schwestern etwas unpräzise. Eigentlich handelt es sich bei Robin und Lark um Halbschwestern, die durch ihre Mutter Marianne verbunden sind. Die Mutter erweist sich in ihrer Mutterrolle allerdings als ziemlich unfähig. Völlig überfordert mit den beiden Kindern obliegt es schon bald Lark, so etwas wie eine Mutter für die jüngere Robin zu sein. Dieser Rolle nimmt sie auch an und wird bis ins Erwachsenenalter immer eine Beschützerin von Robin sein.

Während Lark von Montreal in die USA zum Studium zieht, bleibt Robin daheim in der Nähe ihrer Mutter. Sie entpuppt sich schon bald als großes Talent am Klavier und investiert viel Zeit in die Perfektionierung ihres Spiels. Lark hingegen fühlt sich eher im visuellen Bereich zuhause. Mit großer Hingabe filmt und schneidet sie Material und wird bald zur rechten Hand eines Regisseurs. Immer mal wieder nähern sich die beiden Schwestern an, stoßen sich dann aber auch wieder gegenseitig ab. Stets ist aber da ein Band zwischen ihnen, das sie zusammenhält.

Eine konventionelle Herangehensweise

Alix Ohlin wählt für ihre Erzählung über die beiden Schwestern eine konventionelle Herangehensweise. Von der Geburt an wird aus der Sicht Robins der Werdegang der beiden so gegensätzlichen Frauen geschildert. Geschmeidig erzählt (und sehr gut von Judith Schwaab übersetzt) gibt es einen Bilderbogen dieser beiden Frauen.

Etwas Irritation löste bei mir die Bewerbung durch den Klappentext aus. Dieser rückt dramatisch das Verschwinden Robins auf einer Konzerttournee in den Mittelpunkt, bei dem Robin den Wunsch äußert, man möge nicht nach ihr suchen. Diese Begebenheit entpuppt sich im Buch dann allerdings als recht unspektakuläre Episode in der Buchmitte, der noch einige ähnliche Ereignisse folgen. Wer also auf eine dramatische Schnitzeljagd der einen Schwester nach der anderen gehofft hat, der sieht sich hier enttäuscht. In dem Falle würde ich zum ebenfalls dieser Tage ebenfalls bei C.H. Beck erschienenen Roman Long Bright River von Liz Moore raten. Alix Ohlins Erzählung erinnerte mich mit ihrem ruhigen Fluss und dem genauen Blick auf ihre Protagonistinnen eher an Donna Tartts Der Distelfink.

Persönlich hätte ich mir noch eine etwas aufregendere Gestaltung dieses erzählerischen Bogens gewünscht. Wenn die Erzählerin schon so eine begnadete Cutterin und Virtuosin in Sachen Filmschnitt ist, warum dieses Stilmittel nicht auch auf die Erzählung selbst übertragen? So bleibt die chronologische Erzählung etwas brav.

Fazit

Generell gesprochen lässt sich festhalten: Robin und Lark ist die Geschichte zweier gegensätzlicher Frauen, das neben den Fragen von familiären Zusammenhalt und Selbstbestimmung auch die Kunst der Musik und des Filmschnitts beleuchtet. Souverän erzählt gelingt Alix Ohlin in diesem Buch ein rundes und stimmiges Porträt eines unsichtbaren Beziehungsbandes, das Ohlin von der Kindheit bis ins mittlere Lebensstadium hinein beschreibt.

Diesen Beitrag teilen