Monthly Archives: April 2017

Kurz und Gut

Das Osterfest naht mit großen Schritten – als kleine Anregung, welche Bücher man gut herschenken kann und bei welchen man ruhigen Gewissens auch drauf verzichten kann, gibt es hier die erste Fuhre von Kurzrezensionen. Weitere Minibesprechungen folgen über die Osterfeiertage. Nun viel Spaß damit!

 

Nicholas Searle – Das alte Böse

Traue keinem Rentner über 80 – diese Erkenntnis muss in Das Alte Böse auch die Engländerin Betty machen. Diese lernt über ein Datingportal im Internet Roy kennen. Jener charmante Mann gewinnt auch schon bald Bettys Herz und zieht bei ihr ein. Doch als Leser ahnt man schon recht früh, dass hier Katz und Maus gespielt wird. Doch wer spielt welche Rolle?

Nicholas Searle verwendet für die Erzählung seines Romans Rückblenden aus dem Leben Roys, die er mit der gegenwärtigen Annäherung an Betty verschneidet. Immer wieder wechselt er die Erzählperspektive, um das Geschehene aus der Sicht der beiden Protagonisten zu beleuchten. Das klingt in der Theorie gut, in der Praxis verliert das Ganze dann aber sehr schnell seinen Reiz.

Denn Searle vergisst eine wichtige Zutat für seinen mit Thriller gelabelten Roman – die Spannung. Zwar ahnt man, dass Roy etwas auf dem Kerbholz hat und Betty auch nicht ganz koscher ist, damit hat es sich dann aber. So recht mag das Aufeinandertreffen der beiden Senioren nicht zu zünden – zumindest ich langweilte mich als Leser schnell und war auf den Fortlauf der Geschichte nicht sonderlich gespannt. Die beiden von Searle gezeichneten Figuren bleiben blass und schleichen umeinander her – sonderliche Sympathien entwickelten sich für keine der Parteien. So bleibt Das alte Böse leider hinter den Erwartungen zurück und nutzt das innewohnende Potential nicht.

Anthony Doerr – Der Muschelsammler

Auch in dieser Neuauflage der fünfzehn Jahre alten Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel Der Muschelsammler erweist sich Anthony Doerr wieder als brillanter Autor, der auch in der Kurzform seine Klasse zeigt. Bereits seine Roman Alles Licht, das wir nicht sehen oder Winklers Traum vom Wasser waren eindrucksvolle Studien von Menschen in Extremsituationen, die durch die farbige und bildreiche Sprache Doerrs veredelt wurden. Genau dieses Talent kommt ihm auch in den vorliegenden acht Geschichten zugute.

Doerr erzählt darin oftmals von Anglern und Fischen – einer Art wiederkehrenden Motiv in dessen Schaffen. Mal geht es um ein Wettangeln eines europäischen und amerikanischen Teams, die auf der Suche nach dem dicksten Fisch sind, den sie erangeln können. Dann wieder betrachtet er die junge Dorotea, der Angeln eine Flucht aus ihrer ärmlichen Existenz ist und zugleich die Chance bedeutet, einem Jungen näherzukommen. Eine weitere starke Figur ist der Flüchtling und kurzzeitige Hausmeister Joseph Saleeby, der in der Natur seinen eigenen Kampf um seine Existenz führt. Da wäre auch noch der blinde Muschelsammler, der Eisenfresser, und und und.

Anthony Doerr gelingt in seinen acht Geschichten ein Kaleidoskop an Leben, Orten und Menschen – keine der Geschichten ist langweilig, vielmehr meint man, mit diesen Kurzgeschichten fast schon komprimierte Romane in der Hand zu halten. Dass dieser Autor in Deutschland nicht bekannter ist, ist eine bedauernswerte Tatsache – Doerr hätte Ruhm und viele Leser verdient, die in seine Welten eintauchen!

 

 

C. R. Neilson – Das Walmesser

Dieser Krimi verfügt eigentlich nur über ein großes Distinktionsmerkmal – das ist sein Handlungsort. C.R. Neilsons Krimi erzählt von John Callum, der vor ominösen Ereignissen auf die abgelegenen Färöerinseln im Niemandsland zwischen Island, Schottland und Skandinavien flieht. Dort möchte er wieder ein normales und unauffälliges Leben führen – doch seine Pläne werden durchkreuzt. Nachdem er in der lokalen Fischfabrik einen Job gefunden hat, erwacht er eines Morgens auf einem Steinklotz im Freien mit keinerlei Erinnerungen an die letzte Nacht. Doch in seiner Tasche steckt ein sogenanntes Grindaknivur, ein blutbesudeltes Messer, das von den Faröern zum Zerteilen von Walfleisch benutzt wird. Was ist in der Nacht passiert und ist John ein Mörder? Und vor was läuft er eigentlich davon?

Der Plot funktioniert nach hinlänglich bekanntem Muster. Der Ich-Erzähler muss langsam alle Mosaiksteine jener verhängnisvollen Nacht zusammenpuzzeln und kann dabei niemanden auf der Insel trauen. Derweil rätselt der Leser, welche Ereignisse denn Callum nun von Schottland auf die Faröer verschlagen haben. Dabei bleibt die Auflösung hinter den Erwartungen zurück – doch die Naturschilderungen der rauen Faröerinseln entschädigen dafür umso mehr. Keine Neuerfindung des Rades, aber ein solider Inselkrimi.

 

 

 

 

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Karine Tuil – Die Zeit der Ruhelosen

Die richtungsweisenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich stehen kurz bevor – da erscheint nun im Ullstein-Verlag der passende Roman, der sich mit der sozialen Gemengelage in Frankreich auseinandersetzt. Geschrieben hat ihn die Autorin Karine Tuil, die deutsche Übersetzung besorgte Maja Ueberle-Pfaff.

Die Zeit der Ruhelosen setzt sich mit wichtigen und prägenden Themen der Zeit auseinander und kreist um vier ProtagonistInnen, die da wären: der Afghanistan-Veteran Romain Roller, der unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die Journalistin Marion Decker, die wiederum mit dem Milliardär Francois Vély liiert ist, sowie der verstoßene Politiker Osman Diboulla, der einst Teil des Beraterstabs des französischen Präsidenten war.

Vier Menschen und ihre Beziehungen

Karine Tuil - Die Zeit der Ruhelosen (Cover)

Diese vier Protagonisten bilden das Gerüst des Romans. Wie sich die vier gegenseitig beeinflussen, das beobachtet Karine Tuil ausgehend von einem Fenstersturz. Die Frau des Milliardärs Francois Vély hat sich umgebracht, indem sie aus dem eigenen Wohnungsfenster in den Tod sprang. Folglich driftet dessen Familie nun völlig auseinander. Vély, dessen Geburtstagsname eigentlich Lévy ist, pflegt eine Affäre mit der Journalistin Marion Decker, um sich über den Verlust seiner Frau und die Entfremdung seiner Kinder hinwegzutrösten. Jene beginnt nun wiederum eine Affäre mit dem Soldaten Romain Roller, dem die Journalistin in Afghanistan begegnete, als sie eine Reportage schrieb.

Der verstoßene Politiker Osman Diboulla kommt nun ins Spiel, als über Francois Vély ein Shitstorm hereinbricht, der ihn zu verschlingen droht. Infolge eines Interviews präsentierte sich Vély sehr ungeschickt und hat nun Rassismus- und Sexismusvorwürfe am Hals. Immer größer wird der Shitstorm – in dem Osman seine Chance erkennt, sich gesellschaftlich und politisch zu rehabilitieren. Der Politiker springt für Vély in die Bresche und setzt sich mit Verve für den gefallenen Magnaten ein.

Gesellschaftlich auf der Höhe der Zeit

In Die Zeit der Ruhelosen verhandelt Karine Tuil viele Fragen, die die Zeit und Frankreich prägen. Rassismus in den Gesellschaftsschichten, Antisemitismus, Kriegsheimkehrer, Radikalismus, die prekäre Lage in den Banlieues – es sind viele Themen, die Tuil in ihrem Roman anschneidet. Auch wenn das ganze manchmal in sehr theatrale, an Yasmina Reza geschulte Dialoge und Szenen kippt, in denen sämtliche Argumente verhandelt werden, unterhält der Roman doch im Großen und Ganzen sehr gut.

Ähnlich wie im hier schon besprochenen Roman Die Gierigen ist Tuil hier auf Höhe der Zeit und porträtiert eine zerrissene Gesellschaft und ein zerrissenes Land. Der Autorin ist ein wirklicher Gesellschaftsroman gelungen, der viel über unser Nachbarland Frankreich, aber auch viel über unser eigenes Denken und Handeln verrät.

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Chris Kraus – Das kalte Blut

Für diese Frage könnte man bei einer Quizshow schon einmal die obligatorische Million abräumen: worum handelt es sich beim Roten Herbstkalvill? Chris Kraus erklärt es in seinem Buch Das kalte Blut und macht den Apfel (so die richtige Antwort) zum Leitmotiv seiner Geschichte, die von den ungleichen Brüdern Konstatin, genannt Koja, und Hub Solm erzählt. Immer wieder taucht dabei jener Rote Herbstkalvill auf, der mal Zankapfel, mal Todesbote ist, und der das Schicksal der Brüder begleitet.

Erzählt wird uns die Geschichte in Form einer Lebensbeichte, die Koja gegenüber seinem Bettnachbarn in einem Münchner Krankenhaus 1974 ablegt. Er ist nämlich infolge eines in seinem Kopf steckenden Projektils in Behandlung, das nicht nur ihm sondern auch den Ärzten einiges Kopfzerbrechen bereitet. Wie dieses Projektil in seinen Schädel gelangte und welche unerhörte Lebensgeschichte dazu führte, dass nun das Zimmer von der Polizei bewacht wird, das erzählt Solm seinem Bettnachbar, der ausgerechnet ein Hippie ist.

Die Sympathie jenes Hippies kippt im Laufe dieser tausendzweihundertseitigen Geschichte immer mehr ins Entsetzen, als er die ganzen turbulenten Ereignisse und Taten aus Koja Solms Leben erfährt. Aufgewachsen als Deutschbalte in der Nähe von Riga erleidet die Familie nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Bedeutungsverlust und muss sich durchschlagen. Doch dann beginnt mit dem Aufstieg des Dritten Reichs auch der Aufstieg der Solm-Brüder. Jene werden zu wichtigen Kontaktpersonen für die Nazis im Baltikum, Himmelfahrtskommandos und Verbrechen gegen die Menschlichkeit inklusive. Doch die Identität als Kriegsverbrecher ist nur eine Facette im vielschichtigen Wesens Koja. Verhaftungen durch die Russen, Tätigkeiten als Doppelagent für Russland und Deutschland folgen, eine Karriere als Kunstfälscher und Mitbegründer des Bundesnachrichtendienstes findet sich ebenso in Kojas Lebenslauf genauso wie eine Emigration nach Israel.

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Die Zeit der dicken Bücher

Seit ein paar Monaten machen sie sich immer breiter in meinem Buchregal – dabei fing es doch eigentlich ganz harmlos an. Erst war es Donna Tartts Distelfink, der sich in den Buchregalen niederließ – dann fand noch Eleanor Catton mit ihren Gestirnen den Weg in mein Buchregal – und nun werden es immer mehr und mehr. Die Rede ist von dicken Büchern – die momentan auf uns einprasseln. Hiermit rufe ich die Zeit der dicken Bücher aus!

Passenderweise stellte Tobias Nazemi vom Buchrevier zuletzt eine Liste mit empfehlenswerten 1000-Seitern vor. Meinem Empfinden nach werfen die Verlage seit dem letzten Herbstprogramm und besonders in diesem Frühjahr die dicken Bücher auf den Markt, als gäbe es kein Halten mehr. Gab es in den Programmen früher hin und wieder solche Monolithen (ich denke da nur an Haruki Murakamis 1Q84), stolpere ich nun jede Woche über neue Bücher, die nicht nur an die tausend Seiten aufweisen, sondern auch ordentliches Gewicht auf die Waage bringen.

Das dicke Buch als Distinktionsmerkmal hat ausgedient, nun wagt offensichtlich nur noch derjenige oder diejenige etwas, die sich limitiert und mit wenigen Seiten zurande kommt. Bestes Beispiel ist meine aktuelle Lektüre – Chris Kraus Opus Magnum Das kalte Blut, das von zwei Brüdern, dem Dritten Reich und der Gründung des BND berichtet. Meister Kraus hat seine Geschichte auf über 1200 Seiten niedergeschrieben, muss sich aber damit in diesem Frühjahr nur mit  dem Silbertreppchen der Vielschreiber begnügen. In Führung gegangen ist Paul Auster mit 4, 3, 2, 1, dass es auf eine Seitenzahl von sage und schreibe 1264 Seiten bringt, auf denen Auster viermal das Leben von Archibald Ferguson durchdekliniert. Man mag einwenden, was sind im Schnitt 300 Seiten für ein Leben, wie es Auster beschreibt? Sehnsuchtsvoll denke ich da an Robert Seethaler zurück, der für ein ganzes Leben in Buchform nur 150 Seiten benötigt.

Viele AutorInnen strengen sich an, um beim Rennen der dicken Bücher auch noch auf das Treppchen der dicken Schinken zu gelangen – heiße KandidatInnen wäre da noch Nathan Hill mit Geister (864 Seiten), Hanya Yanagihara mit Ein wenig Leben (960 Seiten), Carlos Ruiz Zafón (Das Labyrinth der Lichter, 944 Seiten) oder die Altmeisterin Annie Proulx mit Aus hartem Holz (896 Seiten). Auch das mit dem Booker-Prize ausgezeichnete Epos Eine kurze Geschichte von sieben Morden von Marlon James bringt es da auf 864 Seiten. Ein Blick in die Verlagsvorschauen verheißt da auch nichts Gutes, als Beispiel sei nur der kommende und letzte Band der Min-Kamp-Hexalogie von Karl Ove Knausgård genannt, mit dessen Band er das Rennen um das dickste Buch des Jahres machen dürfte. Kämpfen wird es laut Verlag auf 1280 (!!!) Seiten bringen – ob wirklich jede dieser aberwitzig vielen Seiten für Knausgårds Selbstbespiegelung essentiell ist, das sei einmal dahingestellt.

Wer nun aber meint, all das träfe ja nur auf diese elegisch bis manischen Vielschreiber im Belletristikbereich zu – weit gefehlt. Auch im Sachbuchbereich grassiert die Dicke-Bücher-Manie. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse wurde die Biographie von Kaiserin Maria Theresia von Barbara Stollberg-Rilinger (1083 Seiten). Des Weiteren wurde auf der Messe die Übersetzerin Eva Lüdi Kong ausgezeichnet, die Die Reise in den Westen vom Chinesischen ins Deutsche übertrug (1320 Seiten). Ähnlich voluminös auch die anderen Titel, die auf der Nominierungsliste in Leipzig standen – hier sei am Ende noch Leonhard Horowskis Europa der Könige ins Feld geführt – 1120 Seiten. Dies mag natürlich auch alles den Sujets geschuldet sein, die die AutorInnen behandelt – aber wer hat in dieser Zeit voller Anforderungen wirklich noch die Zeit, sich in solche Bücher hineinzuarbeiten und mit Muße zu lesen?

Haben die Autoren das Maß verloren und schaffen es nicht mehr, sich zu beschränken und konzise ihre Themen zu behandeln? Oder haben wir in dieser auf Informationshappen limitierten Zeit einfach verlernt, uns mal wieder auf etwas einzulassen?

 

Wie steht ihr zu dicken Büchern? Absolutes Muss oder eher Qual? Welches dicke Buch möchtet ihr nicht missen? Oder lasst ihr von Bücher ab einer bestimmten Dicke eh die Finger? Eure Meinung interessiert mich!

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