Monthly Archives: Januar 2018

Jon McGregor – Speicher 13

Es beginnt wie bei einer Netflix-Serie – ein junges Mädchen ist verschwunden, Suchmannschaften durchkämmen die mittelenglische Landschaft. Ein Hubschrauber knattert über der Szenerie, die Speicherseen und umliegenden Wälder werden durchsucht – ohne nennenswerte Spuren. Wer nun aber erwartet, einen Thriller über eine Kindesentführung und die verzweifelte Suche von Polizei und Angehörigen zu erleben, der sieht sich schnell getäuscht.

Denn Jon McGregor erzählt in Speicher 13 weniger einen Kriminalfall, denn eine komplexe Gesellschafts- und Naturstudie. Der Auftakt rund um das Verschwinden der jungen Rebecca Shaw legt da noch einige falsche Fährten, aber schon bald muss man als Leser erkennen, dass das Verschwinden kaum zu lösen ist. Immer spärlicher tröpfeln die Erkenntnisse über Rebecca ein, immer mehr Sand gerät ins Getriebe der Ermittlungen. Ganz langsam kehrt wieder so etwas wie Normalität im Dorfleben ein, als absehbar wird, dass das Mädchen so schnell nicht gefunden werden wird. Die Dorfgesellschaft geht langsam wieder zur Routine über, Rebeccas Angehörige müssen verzweifelt erkennen, dass sich die Welt trotz des Verschwindens weiterdreht. Auch die Natur nimmt weiter ihren Lauf, Nachwuchs wird geboren, Flüsse treten über die Ufer und der Kreislauf des Lebens wird immer wieder neu angestoßen.

Über zehn Jahre beobachtet Jon McGregor in seinem Roman (den Begriff Krimi möchte ich trotz des klassischen Einstiegs nicht verwenden) das Dorf und die umgebende Landschaft. Er beschreibt in Schlaglichtern die Veränderungen, die mit dem Verschwinden Rebeccas einhergehen, er interessiert sich für die Fauna genauso wie die kleine Dorfgemeinschaft, die das einschneidende Erlebnis prägt. Kinder werden erwachsen, Menschen sterben und das tragische Verschwinden eines Mädchens bringt das Rad des Lebens auch nicht außer Takt – für mich steht diese Erkenntnis als prägendes Motiv im Mittelpunkt von Speicher 13. Oder um es etwas flappsig mit der Lebensweisheit des Fußballtrainers Dragoslav „Stepi“ Stepanovic auszudrücken: „Lebbe geht weider“.

Einer Genreeinordnung widersetzt sich das Buch konsequent, als naturalistische Schilderung von Menschen und Natur trifft man das jüngst mit dem Costa-Award ausgezeichnete Buch in meinen Augen am besten. Klassische Spannungsleser werden mit diesem Buch sicher nicht zufrieden sein, wer allerdings Freude an breit angelegten Gesellschaftschroniken mit vielen Naturelementen hat, der wird hier glücklich. Für mich oszilliert dieses Buch irgendwo zwischen Dorfdrama und Entwicklungsroman, ganz unterschiedliche Bücher wie etwa Josef Bierbichlers Mittelreich oder Adam Thorpes Ulverton kamen mit bei der Lektüre in den Sinn. Ein eigenwilliges und besonderes Buch!

Speicher 13 erscheint im Münchner Liebeskindverlag. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Anke Caroline Burger. ISBN 978-3-95438-084-8.

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Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore

Wie malt man eigentlich eine Idee? Vor diesem Problem steht ein geschiedener Porträtmaler in Haruki Murakamis neuestem Streich Die Ermordung des Commendatore – Eine Idee erscheint. Wobei das Buch eigentlich nur die Hälfte des neuen Romans bildet, die zweite Hälfte unter dem Titel Die Ermordung des Commendatore – Eine Metapher wandelt sich erscheint drei Monate später – auch erst dann wird sich abschließend über das neue Werk des japanischen Bestsellerautoren richten lassen. Nun also zunächst der erste Part des Buchs. Die Übersetzung besorgte wie stets die Murakami-erprobte Ursula Gräfe:

Schon mit dem kurzen Prolog versetzt die Leser wieder in eine typische Murkami-Welt. Ein gesichtloser Geist sucht den Ich-Erzähler in seinem abgeschiedenen Refugium heim und fordert ein Porträt von sich ein. Doch an dieser Aufgabe kann der namenlose Porträtist nur scheitern – und so vertagen sich die beiden Parteien, ehe Murakami dann für den eigentlichen Beginn seiner Geschichte zurück auf Start springt und den Ich-Erzähler aus seinem Leben berichten lässt. Dieser Auftakt erinnert stark an romantische Märchen und zeigt die Verwurzelung des Autors sowohl  in der feröstlichen genauso wie in der europäischen Welt. Bei Murakami hat das Jenseitige immer seinen festen Platz und so etabliert er neben der reellen Ebene schon gleich zu Beginn jene zweite, metaphysische Welt, die er im Folgenden immer wieder anklingen lässt.

Denn der namenlose Porträtist lebt nach der Scheidung von seiner Frau nun zurückgezogen im Haus des berühmten Malers Tomohiko Adama. Der Porträtist bezog die Räume des Malers, nachdem dieser umnachtet nicht mehr in der Lage war, sein Haus zu bewohnen. Dies besorgt nun der Ich-Erzähler und stößt per Zufall auf ein Gemälde auf dem Speicher, von dem ein rätselhafter Sog ausgeht. Es zeigt eine Szene aus Mozarts berühmter Oper Don Giovanni, nämlich Die Ermordung des Commendatore. Bei seinen Recherchen muss der Maler erkennen, dass das Werk in keinem Verzeichnis des Künstlers Erwähnung findet. Auch passt das Gemälde nicht so wirklich in die Schaffensperioden des Malers, wenngleich es echt zu sein scheint. Was hat Tomohiko Adama zu diesem apokrpyhen Gemälde veranlasst?

Während der Porträtist über jenem Geheimnis grübelt, bricht langsam auch immer mehr das Übersinnliche in den eigentlich so geregelten und überschaubaren Alltag des Eremiten. Es hält Einzug in Gestalt des geheimnisumwitterten Herrn Meshiki, ein direkter Nachbar des Erzählers, der eines Tages mit der Bitte an ihn herantritt, ihn zu porträtieren. Über die Art und Weise des Porträts dürfe er selbst bestimmen, die Bezahlung ist wirklich fürstlich. Mit der Einwilligung in den Pakt entgleitet dem Maler die Schicksal etwas aus den eigenen Händen. Denn Menshiki scheint kaum fassbar, auch das Bannen auf Leinwand mag dem Porträtisten nicht so wirklich von der Hand gehen. Und dann ist da auch noch eine mysteriöse Kultstätte hinter ____ Haus, die einen unerklärlichen Reiz auf den Maler ausübt. Etwas zieht ihn immer wieder zu der Stelle – genauso wie Die Ermordung des Commendatore ihren unwiderstehlichen Reiz auf den Erzähler ausübt. Der Maler beginnt mit seiner Spurensuche und stößt dabei auf weitaus mehr Geheimnisse, als er vermutet hätte.

Irgendwo zwischen Künstlerroman und übersinnlichem Märchen ist der neueste Streich des ewigen Nobelpreis-Aspiranten Murakami zu verorten. Mit der ersten Hälfte seines Romans gelingt es ihm, Stück für Stück eine Welt, oszillierend zwischen Normalität und Übersinnlichen zu entwickeln. Der erste Band erklärt noch nicht allzu viel, vielmehr etabliert Murakami alle Erzählstränge, um diese mit einem sanften Cliffhanger wieder abzubrechen und seine Leser leiden zu lassen.

Es sind die typischen Zutaten, auf die Haruki Murakami auch wieder bei Die Ermordung des Commendatore setzt: westliche Musikwelten (wenngleich es diesmal nicht der Jazz, sondern Mozart- und Strauss-Opern sind, die eine Motivdecke weben), übersinnliche Elemente, Sexualität, japanische Mythologie. Der literarische Grenzgänger weiß, was Fans von ihm erwarten – und er gibt es ihnen in diesem Auftaktband wieder reichlich. Wenn es ihm nun gelingt, im zweiten Band die Stränge sinnvoll zu verbinden und abzurunden, steht einem großen Leseerlebnis nichts mehr im Wege. Aber Ende April 2018 wissen wir dann mehr!

Ein besonderes Wort verdient auch die herausragende Gestaltung dieses Bandes. Eine transparenter Schutzumschlag mit dem aufgedruckten Titel wird von einem hervorragend gestalteten Buchblock ergänzt. Farblich wunderbar aufeinander abgestimmt besitzt diese erste Auflage, die mir zur Rezension vorlag, sogar noch einen passenden farbigen Schnitt, der die Außengestaltung des Buchs abrundet. Hier verbinden sich Ästhetik und Inhalt auf das Vortrefflichste. Ein buchgestalterisches Highlight!

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Lauren Groff – Licht und Zorn

Was weiß man in einer Ehe wirklich über den Partner? Wer ist eigentlich diese Person gegenüber, der man die ewige Treue geschworen hat, in guten wie in schlechten Zeiten und was kennt man von ihr? Wenn es nach Lauren Groff in Licht und Zorn geht, gar nicht einmal so viel. Denn sie zeigt in ihrem Roman eindringlich, dass man zwar eine Ehe leben kann, dahinter allerdings zwei völlig unterschiedliche Leben stecken können, die nicht immer viel gemeinsam haben.


So etwa wie die beiden Leben von Lancelot, genannt Lotto, Satterwhite und Mathilde Yorden. Lotto, ein Draufgänger und Weiberheld, entflammt auf einer Wohnheim-Party auf dem Campus in unsterblicher Liebe zu Mathilde, die gerade durch die Tür den Raum betritt. In einem impulsiven Überschwang der Gefühle macht er Mathilde den Antrag und wenige Wochen später wird tatsächlich geheiratet. Dinge wie Kennenlernen oder gar eine Verlobungsphase gibt es bei Mathilde und Lotto nicht. Und entgegen aller Wahrscheinlichkeiten übersteht die Ehe die Zeit. Die beiden jungen Studenten wachsen zusammen, ergänzen sich, Lotto steigt zum erfolgreichen und vielgespielten Dramatiker auf, während Mathilde ihm den Rücken freihält und ihn erdet. Die beiden Menschen sind das Musterbeispiel einer Symbiose – das Eheversprechen scheint für sie wie gemacht.

So erleben wir dies zumindest im ersten mit Licht überschriebenen Teil des glänzend geschrieben und komponierten Romans. Lotto als Mittelpunkt der Erzählung zeigt sich als narzisstischer, verletzlicher und auch widersprüchlicher Mensch, der immer neu um schöpferische Eingebung ringt und dessen von ihm ersonnenen Stücke und Opern sich auch in Ausschnitten in der Geschichte wiederfinden. Immer wieder zeigt Lauren Groff Lotto als Suchenden, der sich manchmal in Strudeln zu verlieren droht, wenn da nicht Mathilde wäre, die seinen Anker und Ruhepol bildet. Über Jahre hinweg begleitet sie Lotto und sein Umfeld und betrachtet seine Entwicklungsschritte hin zum gefeierten Autor.

Licht – und Zorn

Lauren Groff - Licht und Zorn (Cover)

Nach dramatischen Ereignissen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, springt Lauren Groff anschließend in Zorn zu Mathilde und erzählt nun ihr Leben und ihre Sicht der Ehe. Hier zeigt sich langsam die vollständige Klasse dieses Romans, denn Mathildes Blickpunkt macht aus diesem bis dahin bereits großartigen Roman endgültig ein Meisterwerk. Der Gegenblick auf alle Ereignisse, das was man dem Partner verschweigt und Überraschungen, die einen selbst ereilen – all das ist wunderbar und glaubwürdig gelungen. Immer wieder fragt man sich, ob man gerade wirklich von jener Ehe liest, die Lotto zuvor geschildert hat.

Die Blitzhochzeit, das Davor und Danach – Lauren Groff zeigt sich als Meisterin der Montage und des Erzählens. Ihr gelingt es, Mathilde genauso plastisch und glaubwürdig wie Lotto zu zeichnen. Durch diesen zweiten Teil wird das Buch erst abgerundet und ergänzt – wobei sich Groff bis zum Schluss Enthüllungen und Kniffe vorbehält. Das lässt den Roman zu keiner Sekunde langweilig werden, im Gegenteil. Obwohl man annehmen könnte, dass es nichts Öderes und Konventionelleres als die Schilderung einer Ehe gibt – ein packenderes Leseerlebnis habe ich in letzter Zeit kaum erlebt.

Ambivalentes Erzählen

Beständig schwankt man in der Bewertung dieser Ehe und ihrer ProtagonistInnen. Soll man Lotto und Mathilde bewundern für ihren Wagemut und ihre Hingabe – oder ist vielmehr das Gegenteil angebracht und die beiden verdienen Mitleid oder gar Verachtung? Wunderbar ambivalent erzählt Lauren Groff diesen ausgefuchsten Plot, vieles bleibt in der Schwebe und am Ende dem Leser selbst überlassen. Dies macht für mich die Klasse dieses Buchs aus, obwohl natürlich noch viele weitere Faktoren eine Rolle spielen.

Wie oben schon angedeutet, ist ein weiterer Faktor auch die Bauart des Romans. Neben der konsequenten Zweiteilung in Lottos und Mathildes Sicht ist die Montagetechnik Groffs wunderbar – ganze Zeitabschnitte werden von ihr gerafft, dann springt sie wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Das sorgt für Abwechslung im Lesefluss und fordert den Leser. Auch die Sprache von Lauren Groff ist poetisch, präzise, immer angemessen – und natürlich muss an dieser Stelle dann auch die Übersetzerin Stefanie Jacobs genannt werden. Eine großartige Leistung, wie sie den sprachmächtigen Plot ins Deutsche überführt.

Selten begegneten mir bislang derart plastische Figuren, die weit über das Buchende bei mir blieben. Die Strahlkraft dieses Romans ist genauso enorm wie sein erzählerischer Sog. Ein Buch, das zum Wiederlesen einlädt oder dies sogar implizit einfordert. Definitiv ein Kandidat für meine ewige Top 10. Ich gebe für dieses Buch eine unbedingte Leseempfehlung ab – besonders auch dann, wenn man vor der Entscheidung steht, den Bund fürs Leben einzugehen.


  • Lauren Groff – Licht und Zorn
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-446-25428-2 (Hanser Berlin)
  • 432 Seiten. Preis 13,99 (E-Book)
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Der Deutsche Krimipreis 2018

Auch dieses Jahr wurde wieder der Deutsche Krimipreis vergeben – jeweils drei Bücher in den Kategorien International und National wurden ausgezeichnet.

 

National

  1. Platz: Oliver Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens (erschienen im Dumont-Verlag)

  2. Platz: Monika Geier: Alles so hell da vorn (erschienen im Ariadne-Verlag)

  3. Platz: Andreas Pflüger: Niemals (erschienen bei Suhrkamp)

 

International

  1. Platz: John Le Carré: Das Vermächtnis der Spione (erschienen bei Ullstein)

  2. Platz: Viet Thanh Nguyen: Der Sympathisant (erschienen im Blessing-Verlag)

  3. Platz: Jérôme Leroy: Der Block (erschienen im Nautilus-Verlag)

 

 

Man muss sich doch etwas die Augen reiben – ein Deutscher Krimipreis ohne Friedrich Ani? Dass das noch einmal passieren würde? Über seine Omnipräsenz hatte ich mir schon vor zwei Jahren Gedanken gemacht

Etwas bemerkenswert und sehr schade finde ich es zudem, dass es mit Monika Geier gerade eine Dame unter die sechs Plätze geschafft hat. Dabei hatte das Krimijahr 2017, auch wenn ich es für einen schwächeren Jahrgang halte, so viele tolle Frauen im Angebot:  aber weder Ottessa Moshfegh, noch Candice Fox, Zoe Beck oder Simone Buchholz haben es auf die Treppchen geschafft. Sehr sehr schade, gerade da für mich in diesem Jahr die Impulse und taktgebenden Romane überwiegend aus weiblicher Feder stammen. Aber nun ja, ich bin ja auch kein Mitglied der Jury und habe keinerlei Einblick in die Entscheidungsfindungen. Aber ein bisschen mehr weibliche Einflüsse würden auch dem Krimipreis in meinen Augen gut tun (was auch meine Kollegin Katharina Herrmann in ihrem Essay eindrucksvoll darlegt).

Ansonsten aber herzlichen Glückwunsch an alle Preisgekrönten- und immerhin kann ich auf dem Blog mit Viet Thanh Nguyen und Andreas Pflüger mit zwei besprochene Krimis aus den Kategorien International und National aufwarten.

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Gabriele Tergit – Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Meine geschätzte Mitbloggerin Birgit Böllinger vom Blog Sätze und Schätze ist schuld: nachdem sie Käsebier erobert den Kurfürstendamm auf dem Blog empfahl, wurde ich neugierig und beschaffte mir flugs den Roman, dessen Autorin mir zuvor völlig unbekannt war. Und schon konnte die Reise ins brodelnde Berlin der 1930er Jahre beginnen.


Gabriele Tergit (1894-1982), heute mehr oder minder vergessen, hat mit ihrem Käsebier einen Roman vorgelegt, der wie gemacht für unsere Tage scheint. Ausgangspunkt ist jener Georg Käsebier, ein mediokrer Sänger, der im Berliner Außenbezirk der Hasenheide in einer Art Varieté die Zuhörer mit Lieder wie etwa Mensch muss Liebe schön sein oder Wie soll er schlafen durch die dünne Wand? unterhält.

Gabriele Tergit - Käsebier erobert  den Kurfürstendamm (Cover)

Normalerweise würde sich für diesen im wahrsten Wortsinne cheesy Sänger Käsebier niemand interessieren, wenn die Berliner Rundschau nicht dringend Schlagzeilen bräuchte. Der redaktionelle Trott verlangt nach Auflockerung und Schlagzeilen – und da kommt jener Käsebier gerade recht. Nach einer ersten euphorischen Jubelrezension setzt schon bald ein Run auf den Sänger aus der Hasenheide ein. Systematisch beginnt die Hauptstadtpresse den mittelmäßigen Mann hochzuschreiben, eine Jubelarie jagt die nächste. Ein Hype setzt ein und jeder möchte ein Stück vom Käsebier-Boom abhaben. Presse, Bauspekulanten, gewiefte Unternehmer – alle setzen auf Käsebier, dem sogar eine internationale Karriere zugetraut wird.

Liest man sich in jenes Käsebier-Berlin hinein, kommen einem gleich andere Referenztitel in den Sinn. Tergits Buch gehört in die Reihe zu Erich Kästners Fabian, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Hans Falladas Kleiner Mann, was nun?. In einer flirrenden und dialoggetriebenen Sprache erschafft Gabriele Tergit ein pulsierendes Berlin voller eindrücklicher Charaktere. Sie zeigt eine Welt im Wandel, in der Zeitungen um die Deutungshoheit und das wirtschaftliche Fortbestehen kämpfen müssen, in der zunächst Wohnungsnot herrscht, dann aber der ganze Bauboom zu einem Platzen der Immobilienblase führt. Höchst aktuelle Themen also, die man in ihrem Roman entdeckt, und der eine Epoche wieder zum Leben erweckt, die uns näher ist, als so manchem lieb sein kann.

Eine originelle Wiederentdeckung

Im aktuellen Boom der historischen Berlin-Stoffe (man denke nur an den durchschlagenden Erfolg von Tom Tykwers Serienadaption Babylon Berlin der historischen Gereon-Rath-Krimis von Volker Kutscher) ist Tergits Roman eine orginelle Wiederentdeckung, die nicht immer ganz leicht zu lesen ist, die aber die geneigten Leser und Kenner der Neuen Sachlichkeit durchaus überzeugen kann. Das pulsierende Zwischenkriegsberlin ist genauso eindringlich gestaltet wie die Szenen, die vom Inneren einer Zeitung der 30er Jahre berichten. Für mich ist es die gelungenste Szene des ganzen Romans, als Tergit beschreibt, wie in der Setzerei aus den einzelnen Artikeln und Lettern schlussendlich durch die kundigen Hände von Metteuren und Co eine Tageszeitung entsteht. Hier zeigt sich Gabriele Tergits beruflicher Hintergrund. Sie war nämlich selbst als Journalistin tätig, unter anderem beim Berliner Tageblatt, ehe sie vor den Nazis flüchten und emigrieren musste.

Das informative Nachwort von Nicole Henneberg beleuchtet dazu die Entstehung des Romans und die biographischen Hintergründe von Gabriele Tergit genauer. Sie liefert lesenswerte Informationen und weist unter anderem darauf hin, dass einige der auftretenden Personen tatsächlich an historisch verbürgte Journalisten angelehnt sind. Dies sorgt für eine Abrundung des Romans.

Verdient hätte es Käsebier erobert den Kurfürstendamm auf alle Fälle, in der oben genannte Reihe der bekannten Werke der Weimarer Republik Aufnahme zu finden. Tergits flirrendes und pulsierendes Berlin-Gemälde ist vielschichtig und eindringlich – Zeit wird es, dass sie wieder gelesen wird!

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