Monthly Archives: März 2019

Indiebookday 2019

Fünf Empfehlungen

Auch dieses Jahr ist es wieder soweit: der Indiebookday findet statt. Die Idee dahinter ist eigentlich ganz einfach: man sucht an diesem Tag einen Buchladen seines Vertrauens auf und kauft dort ein oder mehrere Bücher. Diese sollten allerdings aus unabhängigen Verlagen stammen.

Aus diesem Grunde habe ich hier fünf kurze Empfehlungen zusammengetragen, die ich gerne weiterempfehlen möchte, und die in den nächsten Wochen hier auf Buch-Haltung noch etwas genauer vorgestellt werden sollen.

Jean-Baptiste del Amo – Tierreich

Leider hat es mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für die Übersetzung des Buchs durch Karin Uttendörfer nicht so ganz klappen wollen. Nichtsdestotrotz eine große Empfehlung für dieses wirklich schweinische Buch!

Während Europa von Kriegen und Umwälzungen erschüttert wird, kämpft eine Familie von Schweinezüchtern um ihr Fortbestehen – und nutzt die in immer größerem Maßstab stattfindende Ausbeutung des Rohstoffs Tier, um sich in unsere heutige, hochindustrialisierte Welt hinüberzuretten. Éléonore, Kind eines kranken Vaters und einer lieblosen Mutter, erbt Anfang des 20. Jahrhunderts von ihren Vorfahren Schweine und die Gewissheit, dass Gewalt gegen Mensch und Tier zum Leben dazugehört. Mit Disziplin und unbändiger Härte gegen sich selbst allen Schicksalsschlägen trotzend, hält sie den landwirtschaftlichen Betrieb aufrecht und versteht es, ihn über die Jahrzehnte hinweg zu vergrößern und später ihrem Sohn Henri zu übergeben. Achtzigjährig erlebt die erschöpfte Matriarchin schließlich, wie dieser mit ihren Enkeln Serge und Joël den familiären Zuchtbetrieb zu einer gigantischen, die Ressource Tier grausam ausbeutenden Tierfabrik ausbauen. Das anonymisierte Elend der Schweine spiegelt nicht nur den Wahnsinn dessen, was die Menschheit unter Fortschritt versteht, sondern wirft auch die Frage auf: Wer sind die eigentlichen Bestien?

Davide Enia – Schiffbruch vor Lampedusa

Eine Entdeckung, auf die mich Louisa Kröning vom Wallstein-Verlag auf der Buchmesse brachte. Von Davide Enia hatte ich bis vorletzte Woche nämlich noch nie etwas gehört oder gelesen.

Davide Enia ist nach Lampedusa gefahren, um sich selbst ein Bild von der Insel zu machen, die in den Medien zum Sinnbild für die Flüchtlingskrise geworden ist. Seine Gespräche mit Rettungshelfern, Freunden und Fischern, aber auch seine persönlichen Eindrücke bei Rettungsaktionen und »Anlandungen« verwebt er zu einer unglaublich dichten und ergreifenden Erzählung. Lampedusa ist dabei ein Mikrokosmos, in dem die Folgen von Migration, Flucht und Grenzen unmittelbar spürbar sind. Gleichzeitig erinnert Enia sich an magische Sommer an der sizilianischen Küste und seine früheren Urlaube auf der Insel, und versucht, die Unschuld dieser Zeit wieder heraufzubeschwören.

Die Schönheit des Mittelmeers und der Natur werden ebenso sichtbar wie die menschlichen Tragödien, die dort zum Alltag geworden sind.

Auguste Hauschner – Der Tod des Löwen

Auch vom Homunculus-Verlag hörte ich auf der Leipziger Buchmesse zum ersten Mal. Meine liebe Kollegin Birgit Böllinger wies mich auf den Verlag und besonders auf diesen Titel von Auguste Hauschner hin.

Das frühe 17. Jahrhundert. Prag ist in Aufruhr. Wie ein böses Vorzeichen hängt ein blutroter Meteor über der Stadt. Der böhmische König Rudolf II. leidet unter Verfolgungswahn und fürchtet um seinen Thron. Er beauftragt Alchemisten und Astronomen, seine Macht zu sichern. Als diese keine Lösung finden, zwingt er Rabbi Löw, den Erschaffer des Golems, ihn in die Geheimnisse der Kabbala einzuweihen – und ihm dazu die Kammer von dessen schöner, schwer kranker Tochter zu öffnen. Doch sein Handeln bringt nicht nur das Mädchen an den Rand des Todes, sondern treibt auch einen Keil zwischen die Glaubensgemeinschaften Prags. Während im Judenviertel die ersten Häuser brennen, beginnt das Lieblingstier des Königs, ein mächtiger Berberlöwe, in seinem Käfig zu rasen.

Sigurdur Pálsson – Gedichte erinnern einer Stimme

Die Lyrik ist hier auf dem Blog ja äußerst schwach vertreten. Umso wichtiger, auch in diese Richtung einmal eine nachdrückliche Empfehlung auszusprechen.

Der kleine Elif-Verlag von Dincer Gücyeter kümmert sich um diese literarische Gattung. Immer wieder gibt es spannende Lyrik-Projekte, für die sich der Verlag stark macht – so auch dieses: Gedichtern erinnern einer Stimme des Isländers Sigurður Pálsson fängt die Stimmen und Gedanken eines Menschen ein, der um sein baldiges Ableben weiß, und nun noch einmal die Momente nutzt, um Rückschau zu halten. Übertragen wurden diese Gedichte von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer.

Bei diesem Buch handelt es sich um eine zweisprachige Ausgabe – so kann man das Unvertraute Isländische und das vertraute Deutsch besonders gut auf sich wirken lassen.

Gabriele Tergit – Effingers

Dieses Buch hat durch die Vorstellung im Literarischen Quartett schon etwas an Bekanntheit hinzugewonnen. Dennoch ist Gabriele Tergit noch immer eine Unbekannte, deren Werke (z.B. Käsebier erobert den Kurfürstendamm) zu Unrecht vergessen sind. Der Schöffling-Verlag kümmert sich jetzt dankenswerterweise um diese spannende Autorin.

»Effingers« ist ein Familienroman – eine Chronik der Familie Effinger über vier Generationen hinweg. Außer dass sie Juden sind, unterscheidet sich ihr Schicksal in nichts von dem anderer gutsituierter gebildeter Bürger im Berlin der Jahrhundertwende. Alle fahren sie im sich immer wiederholenden Lebenskarussell, das sich durch Glück, Schmerz, Leichtsinn, Erfolg und Scheitern dreht. »Effingers« ist ein typisch deutsches Bürgerschicksal in Berlin, wie es das der »Buddenbrooks« in Lübeck war.
Als der Nationalsozialismus sich breitmacht, wird das deutsche Schicksal zu einem jüdischen. Wer wachsam ist, wandert aus.
Die Geschichte der Familie Effinger beginnt mit einem Brief des 17-jährigen Lehrlings Paul Effinger, und sie endet mit einem Brief: dem Abschiedsbrief des nunmehr 80-Jährigen kurz vor seiner Deportation in die Vernichtungslager.

Das sind meine Empfehlungen zum Indiebookday 2019. Habt ihr auch Lieblingsbücher aus unabhängigen Verlagen? Was empfehlt ihr?

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Victor Pouchet – Warum die Vögel sterben

Also dieser Victor Pouchet erlaubt sich etwas. Er will in seinem Debüt erklären Warum die Vögel sterben – und bleibt am Ende doch alle Antworten schuldig. Ein Erstling, der mit Erwartungshaltungen bricht (übersetzt von Yvonne Eglinger).


Der Inhalt von Pouchets Buch wird eigentlich schon auf den ersten Seiten recht konkret umrissen. In der Normandie hat es mehrfach tote Vögel vom Himmel geregnet. So sind auch in Bonsecours, der Heimat des Ich-Erzählers, zahllose Vögel vom Himmel gestürzt. Diese Ereignisse beunruhigen den Erzähler so sehr, dass er beschließt, in die Heimat aufzubrechen. Für seine Reise wählt er ein etwas anachronistisches Fortbewegungsmittel. Mit einem Schiff geht es die von Paris aus die Seine hinunter. Mit an Bord des Schiffs sind auch andere, deutlich ältere Passagier*innen, die ebenfalls zur Flusskreuzfahrt angetreten sind. Auf der Reise mehren sich bedrohliche Vorzeichen – sind die toten Vögel etwa Vorboten eines ganz anderen Ereignisses?

In der Konstruktion orientiert sich Victor Pouchet tatsächlich an einem Fluss. Sein Erzählfluss mäandert mindestens ebenso wie die Seine im Gebiet der Normandie. So steht im Hintergrund der mysteriöse Tod der Vögel, doch diese Frage beschäftigt den Ich-Erzähler nicht immer. So verliert er sich in Gesprächen an Bord, geht eine kleine amouröse Bekanntschaft ein, forscht über viele Seiten hinweg in einer Bibliothek. Dort stößt er nämlich auf die Spur Félix Archimède Pouchets, einem Forscher des 19. Jahrhunderts, der den Nachnamen mit dem Ich-Erzähler teilt.

Hier zeigt sich auch exemplarisch, welches Spiel Victor Pouchet mit dem Leser treibt, den er gerne rätseln lässt. In welchem Verhältnis steht der Autor zu dem Ich-Erzähler mit dem Nachnamen Pouchet? Warum tritt nun just der Tod der Vögel auf? Wo liegen die Verbindungen? Gibt es überhaupt welche?

Viele bleibt in Warum die Vögel sterben im Ungefähren. Warum der Erzähler beispielsweise just per Schiff in die Region reisen will? Es wird nie ganz offenbar. Vieles wird angedeutet, nicht zu Ende erzählt. Auch wenn das formidable Cover den Eindruck nahelegt, dass Pouchet in die Richtung Nature Writing abbiegt – genau das tut er nicht. So wenig wie eine konkrete Handlung des Buchs über die nicht einmal 200 Seiten des Romans ersichtlich wird. Eher schauen wir einem Slacker dabei zu, wie er sich, seiner Familie und dem Geheimnis der Vögel annähert. Ob ihm das gelingt, das muss wohl jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden. Eher ein ruhiger Roman, der so einige in die Irre führen wird.


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Leipziger Buchmesse 2019

Und damit liegt sie auch schon wieder hinter mir – die Leipziger Buchmesse 2019. Die bisher wohl dichtest gedrängte, aktivste und anstrengendste Messe, die ich bisher erleben durfte. Viel nette Blogger, Bücher und Vea Kaiser. Aber doch first things first.


Donnerstag

Meine Anreise fand diesmal schon am Donnerstag statt. Zur Mittagszeit traf ich auf dem Messegelände ein. Persönlich ist mir ja Leipzig immer etwas lieber – entspanntere Anreise, besserer Presseparkplatz, mehr Übersichtlichkeit. Auch die Akkreditierung funktionierte reibungslos, und so ging es für mich dann mit einem Interview mit Anselm Oelze los. Dieser hat jüngst sein Debüt Wallace im Schöffling-Verlag an den Start gebracht. Ein wirklich sympathischer Autor und ein sehr gutes Gespräch – mehr davon gibts dann bald hier auf dem Blog zu lesen.

Auch Frau Passmann hats zum KiWi-Stand geschafft

Anschließend gings dann noch zum Suhrkamp-Stand und zu Kiepenheuer&Witsch, wo die neuen Vorab-Vorschauen und ein oder zwei Besprechungsexemplare zu mir fanden (Kick-Ass Women und Julian BarnesDie einzige Geschichte). Dann noch kurz in mein AirBnB eingecheckt, und schon gings weiter zum nächsten Termin. Beim Bloggerempfang des Tropen-Verlags gab es feines Essen, beste Blogger und eine Entdeckung – nämlich Elisabeth R. Hager mit ihrem Roman Fünf Tage im Mai. War ich zuvor in den Vorschauen über das Buch hinweggegangen, so hat mir diese Lesung und Präsentation jetzt aber Lust auf mehr gemacht.

Nach einer reichlich ermüdenden Lesung (und leider auch recht fahrigen Moderation – Thomas Palzer mit Die Zeit die bleibt, Moderation Franz Dobler), bog ich dann in Form der Tropen-Party auf die Zielgerade des Abends ein.

Freitag

Nach den Ausschweifungen des Donnerstags ging es dann am Freitag wieder fachlich zur Sache. Ich hatte mir einen stündlichen Terminreigen zurechtgebastelt, der am Mare-Stand seinen Anfang nahm. Beim Hamburger Verlag erscheinen einige neue Bücher im Herbst, auf dem Schirm haben sollte man auf alle Fälle. Zudem erfuhr ich, dass dieses Jahr großes Melville-Jahr ist. Der Geburtstag des amerikanischen Schriftstellers jährt sich zum 200. Mal. Grund genug, sich endlich mal an Moby Dick zu wagen. Wem das zu dick ist, der könnte aber auch als Einstieg zu John Marr greifen.

Danach gings einen Stand weiter zu Wallstein. Auch hier gibt es vielversprechende neue Bücher – und spannende Autor*innen zu entdecken. Hat hier jemand schon einmal etwas von Steven Bloom gelesen oder gehört? Dieser Autor war mir bis zum Treffen mit Louisa Kröning auch kein Begriff. Zudem sei an dieser Stelle nochmal auf zwei fantastische deutschsprachige Titel aus dem Programm von Wallstein hingewiesen – nämlich Steffen Menschings Schermanns Augen und Emanuel MaeßGelenke des Lichts.

Feucht-fröhliche Stimmung bei Vea Kaiser – dem Wein sei Dank.

Danach folgte das Kiwi-Bloggertreffen – und hier: erster großer Auftritt Vea Kaiser. Schon zwei Wochen davor hatte ich die Österreicherin getroffen, als sie zum ersten Mal bei Gottschalk liest? über ihren neuen Roman Rückwärtswalzer sprach. Nun also nächster Auftritt von Vea Kaiser, die die geladenen Literaturblogger mit jeder Menge Süßwaren aus der Backmanufaktur Kaiser sowie österreichischem Wein umgarnte. Eine hervorragende Idee, bereits vor Lesungen den Rezipient*innen Alkohol zu kredenzen, wie nicht zuletzt eine andere Veranstaltung bewies (unbedingt Berits Thread lesen – es lohnt sich!)

Ich bin gerade auf dem besten Literaturevent meines Lebens.— Berit Glanz (@beritmiriam) 23. März 2019

Doch auch ohne Alkohol hätte Frau Kaiser diesen Auftritt ebenso flüssig und wortreich bestreiten können (wie auch die weiteren Auftritte im Laufe der Messe und dieses Textes zeigen werden).

Danach folgte noch ein Date bei meinem Lieblingsverlag Matthes&Seitz (kleiner Spoiler – es gibt weitere Naturkunden, unter anderem zum Thema Schleim). Dann weiteres Bloggertreffen, diesmal ausgerichtet vom Diogenes-Verlag aus der Schweiz (mit einer ebenfalls omnipräsenten Daniela Krien).

Wer bis hierher den Eindruck gewonnen hat, dass das Schnabulieren und der Müßiggang einen großen Teil meines Messebesuchs ausgemacht hat, der liegt natürlich vollkommen richtig. Aber auch die Arbeit stand noch ins Haus, schließlich wollte ich auch Michael Roes interviewen, der mit Zeithain einen ganz und gar großartigen Roman vorgelegt hat. Herida Duro, sein neues Werk, hatte ich nicht ganz verstanden. Deshalb war ich froh um die Möglichkeit eines Interviews, das es demnächst auch hier zu lesen geben wird.

ZDF-Aspekte auf der Buchmesse

Danach noch ein abschließender Gang durch die Gänge der Messe. Und wer saß schon wieder beim Kiepenheur&Witsch-Stand mit unverkennbarem Kopfputz und reichte Dirk von Lotzow die Überreste des österreichischen Naschwerks? Natürlich abermals Frau Kaiser.

Durch Zufall stolperte ich beim Gang zurück zum Messezentrum noch in die Aufzeichnung von ZDF-Aspekte und durfte so einem kleinen Konzert von Tom Walker beiwohnen – danach ging es dann aber erst einmal heim. Schließlich hatte ich auch schon lange nichts mehr schnabuliert. Und somit dann Vorhang auf für Tag 3 und Vea Kaiser.

Samstag

Happy Birthday Humboldt!

Da ich die ersten Termine erst auf die Mittagszeit gelegt hatte, nutzte ich die Zeit am Samstag Morgen für einen Bummel. Passend zum Fontane-Jahr trug dieses Vorhaben den Arbeitstitel Wanderungen durch die Mark Buchhallen. Dabei ist es doch immer wieder erstaunlich, was für großartige Verlage tolle Bücher machen, die ich nicht auf dem Schirm habe (besonders wurde mir von meiner Kollegin Birgit der Roman Der Tod des Löwen aus dem Homunculus-Verlag ans Herz gelegt. Aber auch die bibliophile Ausgabe von Alexander von Humboldts Ansichten der Natur aus der Anderen Bibliothek wusste mir sehr zu gefallen).

Danach noch ein Termin bei Diogenes (hier sprachen mich vor allem die kommenden Titel der beiden Neuzugänge Simone Lappert und Steven Price an). Dann weiter bei Schöffling (ebenfalls verheißungsvolles Herbst-Programm, vor allem da dort auch der Debütroman von Berit namens Pixeltänzer erscheint). Und dann der letzte Termin bei Ullstein, der im Zusammenwirken mit Susann einen wirklichen Höhepunkt zum Abschluss bildete. Dann Abmarsch zum Auto, vorbei an der Bühne der ARD. Und wer sitzt da schon wieder, mit neuem Kopfputz aber altbekanntem Titel? Na ja, dieses Rätsel ist jetzt wahrlich nicht allzu schwer.

Was bleibt?

Was bleibt von der Messe? Eine Blase am Fuß. Ein halber Koffer neuer Leseexemplare. Tolle Begegnungen. Viele ausgetauschte Visitenkarten. Diese Messeberichte von Julia und Tobias. Jede Menge Esprit, gutes Essen und Freude und die Erkenntnis, dass der Untergang des Buchs, der ja vor jeder Messe beschworen wird, immer noch deutlich auf sich warten lässt und hoffentlich nie kommen wird. In diesem Sinne – wir sehen uns in Frankfurt oder Leipzig nächstes Jahr!

It’s all about the books – ein paar meiner Neuentdeckungen.
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Unda Hörner – 1919

Das Jahr der Frauen

Um es schon einmal mit der Weisheit eines großen Versandbuchhändlers vorwegzunehmen: Leser*innen, denen 1913 von Florian Illies gefiel, dürfte auch 1919 von Unda Hörner gefallen.

Nicht nur, dass sich die Titel gleichen, auch in der Struktur lehnt sich Unda Hörner stark an den Bestseller von Illies an. So beleuchtet die Berliner Autorin chronologisch die 12 Monate des Jahres, in denen sich so viel Außergewöhnliches ereignete, das für die nachfolgende Epoche richtungsweisend war. Ihr Fokus liegt dabei, wie es der Untertitel schon klarmacht, auf den Errungenschaften, die Frauen erkämpften.

So durften 1919 das erste Mal Frauen zur Wahl antreten. Politikerinnen und Aktivistinnen wie Marie-Elisabeth Lüders oder Marie Juchaz nutzten diese neue Freiheiten, ließen sich für Parteien ins Parlament wählen oder setzten sich anderweitig für die Frauenfrage ein. Doch nicht nur auf dem Feld der Politik tat sich entscheidendes.

Musik, Mode, Kunst, Wissenschaft, Architektur – überall forderten die Frauen einen ebenbürtigen Platz ein. Auch wenn sie diesen in den seltensten Fällen zunächst bekamen – ein Anfang war gemacht. So verfolgt man durch das Jahr hinweg etwa Coco Chanel, die zur Mode-Ikone aufsteigt. Trotz privater Schicksalsschläge verfolgt sie ihre Karriere beharrlich und wird in jenem Jahr dann ihr legendäres Parfüm Chanel No. 5 auf den Markt bringen.

Frauen in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik

In Polen darf die junge Maria Salomea Skłodowska nicht studieren. In Frankreich ist es Frauen hingegen durchaus erlaubt, Universitäten und wissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen. Und so stillt die junge Frau als Marie Curie ihren Bildungshunger und beginnt selbst über Röntgenstrahlen, Polonium und Radium zu forschen. Später einmal wird ihr als erster Frau der Nobelpreis in zwei Kategorien zugesprochen werden.

Und auch auf anderen Feldern leisten Frauen Erstaunliches. Unda Hörner erzählt von Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz und dem Bauhaus, in dem sich auch Frauen (theoretisch) künsterlisch verwirklichen durften. Sie schildert, wie Sylvia Beach in Paris die Buchhandlung Shakespeare und Company gründet. Anita Augspurg, Rosa Luxemburg, Else Lasker-Schüler – sie alle und noch viel mehr Frauen werden in 1919 wieder lebendig.

Dass die Figuren dabei nicht sonderlich tief ausgestaltet werden, das ist auch dem gewählten Erzählformat geschuldet. Kaleidoskopartig erweckt Unda Hörner immer wieder kleine biographische Splitter aus dem Jahr zum Leben. Für eine vertiefende Beschäftigung mit den Frauen empfiehlt sich 1919 freilich nur als Einführung, für alles andere bedarf es einer ausführlicheren Lektüre.

Ihr Ziel, das Jahr der Frauen in seiner ganzen Fülle zu erzählen, das gelingt Unda Hörner aber auf alle Fälle. Anschaulich geschrieben wird einem bei der Lektüre des Buchs klar, was sich da eigentlich alles vor genau 100 Jahren auf den Straßen Berlins, Paris, Englands und Co. abgespielt haben muss. Eben das Jahr der Frauen!

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Melissa Scrivner Love – Lola

Melissa Scrivner Love bringt den Feminismus und Empowerment in den zeitgenössischen Thriller. Ein Hymne auf die Kraft des Weiblichen, auf die Sorgearbeit und den Stress, den es bedeutet, Frau, Geliebte, Schwester und Pflegemutter zu sein – und nebenbei noch eine Gang zu leiten und einem übermächtigen Kartell die Stirn zu bieten.


„Entschuldigung, aber Sie haben wirklich tolle Waden“, sagt die Frau. (…) „Was machen Sie?“

„Ich bin im Vertrieb“, sagt Lola.

„Nein, ich meine, welches Training machen Sie. Hier“ (…)

„Gewichte“, sagt Lola, und es stimmt. Auf ihren Schultern lasten viele Gewichte. Sie nimmt Lucys Hand und lässt die Frau stehen.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 35

Es sind in der Tat viele Gewichte, die Lolas Schultern niederdrücken. Schon fast unübersichtlich viele Gewichte. Zunächst ist Lola die Geliebte von Garcia, der die Gang The Crenshaw Six anführt. Diese Gang kontrolliert den Drogenvertrieb an ein paar Ecken von Los Angeles. Zwar sind sie keine großen Player, der Wunsch nach mehr ist allerdings vorhanden.

Dann ist Lola auch im familiären Verbund eingespannt. Ihr Mutter ist drogensüchtig und fällt als Bezugsperson im Familiengefüge aus. Ihr kleiner Bruder ist ebenfalls hochgradig gefährdet, da er sich auch in Garcias Gang beweisen muss. Zudem ist Lucy, die Tochter einer anderen drogensüchtigen Mutter bei Lola untergekommen. Für diese will sie als eine Art Familienersatz fungieren. Einmal mehr Druck für Lola also, da sie auch diese Rolle als Ziehmutter irgendwie ausfüllen muss.

Darüber hinaus illustriert Melissa Scrivner Love eindrücklich, wie Lola in ihrem Leben und Alltag immer wieder auf Schranken von Klassen und Gesellschaft stößt. Kein Wunder, dass Lola mit ihren 26 Jahren das Gefühl hat, von unzählichen Gewichten niedergedrückt zu werden.

Lola rennt

Im Buch erleben wir Lola als eine permanent gehetzte Frau, deren Überleben von ihrem eigenen Geschick abhängt. Da The Crenshaw Six einen Drogendeal vermasselt haben, sitzt ihnen jetzt auch noch das übermächtige Kartell im Nacken. Diese haben Garcia eine eng gesteckte Frist gesetzt – allenfalls wollen sie Garcias Geliebte ermorden Wer zieht den Karren aus dem Dreck? Natürlich muss auch hier Lola ran. Und Lola rennt.

Natürlich ist Lola ein Thriller, der den Konventionen des Genres gehorcht. Die Ausgangslage – Los Angeles, Drogen, Gangs, Kartelle – mag nicht sonderlich neu sein. Was Melissa Scrivner Love dann allerdings aus dem vorhandenen Material zaubert, ist frisch, neu und augenöffnend.

Natürlich ist der Thriller zugespitzt auf Lola als Gangchefin, die den Kartellbossen die Stirn bietet. Durch solch extreme Situationen funktionieren solche Thriller. Aber man merkt auch, dass hinter aller Zuspitzung und Übertreibungen doch eines ganz klar durchscheint – das Wissen um den Kampf, den es bedeutet, wenn man sich als Frau durchsetzen will oder muss.

Nachdem sie ein paar Schritte gegangen sind, fragt Lucy: „Warum sind hier nur Frauen?“

Die Frage trifft Lola wie ein kleiner Hieb. Lola will Lucy nicht sagen, dass Frauen so bekloppt sind und glauben, dass sie verzichten und sich kleiner machen und weniger wollen und mehr geben müssen als Männer. (…)

„Frauen legen einfach strengere Maßstäbe an sich an“, sagt Lola.

Scrivner Love, Melissa: Lola, S. 351

Immer wieder sind es Kommentare zur Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft, dem Kampf um Selbstbestimmung, auch übergreifende gesellschaftliche Betrachtungen der USA (und darüber hinaus) und die soziologischen Schranken, die Scrivner Love in ihren Text fließen lässt. Das hebt Lola über das Gros durchschnittlicher Thrillerkost hinaus (die man vielleicht bei dem etwas Groschenroman-haften Cover erwarten würde).

Eigentlich ist es eine zutiefest feministisches Schrift, die sich hinter Lola verbirgt. Dass sich Melissa Scrivner Love das Gewand eines Thrillers augesucht hat, um ihre Botschaften unter das Volk zu bringen, ist zu begrüßen. Denn so kann der Text hoffentlich eine große Breitenwirkung entfalten und hoffentlich die ein oder andere Debatte evozieren.

Sehr stimmig übersetzt wurde der Text ins Deutsche von Andrea Stumpf und Sven Koch. Erschienen ist der Titel bei Suhrkamp.

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