Monthly Archives: Dezember 2021

Die Jahresendbilanz 2021

2022 steht vor der Tür – somit gibt es hier am vorletzten Tag des Jahres einen kleinen Rückblick auf mein persönliches Jahr in der Buch-Haltung. Die Jahresend-Bilanz steht an.

Zuerst gilt es Dank zu sagen an alle Mitlesenden. Sogar eine Handvoll Rückmeldungen trudelten das Jahr über ein, worüber ich mich sehr freute! Sie belohnen für die stille Arbeit, die zumeist doch recht reaktionslos in den digitalen Weiten verpufft.. Ruft die ein oder andere Besprechung doch eine Rückmeldung oder Meinung hervor, dann freut mich das besonders.

Rein objektiv hat konnte der Blog wieder zulegen, im Vergleich zu den letzten Jahr steigerte sich der Zugriff abermals, sodass der Blog und dessen Beiträge insgesamt über 65.000 mal aufgerufen wurde. Im Vergleich zu größeren Blogs und bekannten Namen sicherlich eine geringe Zahl, ich freue mich aber dennoch über das zunehmende Interesse. Auch die Zahl der Abonnent*innen stieg 2021 erneugt, zwar nicht stark, aber auch stetig, sodass fast 550 Leserinnen und Leser diesen Blog abonniert haben. Jeweils am ersten Tag des Monats gibt es in der Früh von mir eine Mail, die alle im vergangenen Monat erschienen Beiträge bündelt und vorstellt. Der Newsletter ist kostenfrei und kann ganz einfach hier auf der rechten Seite der Homepage abonniert werden.

Die Top 10 der Beiträge

Besonders großes Interesse herrscht bei mir am Jahresende, was die Blogstatistik angeht. Welche Beiträge wurde häufig aufgerufen, welche Rezensionen interessierten nicht so sehr? Insgesamt erschienen auch dieses Jahr wieder über 100 Besprechungen, sodass reichlich Auswahl vorhanden war.

Hier meine Top 10 der am häufigsten nachgefragten Beiträge (bereinigt um alle nicht in diesem Jahr erschienen Besprechungen):

Noch spannender finde ich neben der Frage meiner persönlichen Highlights des Buchjahres (die hier beantwortet wurde) ja die Frage, welche Beiträge auf das geringste Interesse stießen. Die rote Laterne in Sachen Blog hatten dieses drei Blogbeiträge inne.

Quo vadis, Blogwelt?

Subjektiv gesprochen würde ich durchaus die Feststellung treffen, dass die Blogwelt etwas verkümmert. Dies stellte ich fest, als ich meine Abo-Empfehlungen für andere Blogs diesen Herbst überarbeitete und feststellte, auf wie vielen Blogs sich nichts oder kaum mehr etwas tut. Nicht einmal die rituelle Debatte von Blogs vs. Feuilleton wurde in diesem Jahr verhandelt. Die Frequenz der Beiträge nimmt ab, der Fokus der Blogs verändert sich und abseits von ein paar großen Namen bleibt die Sichtbarkeit der Literaturblogs und Schreibenden dahinter gering. Das kann durchaus etwas frustrieren, verschlingt die Blogarbeit doch viele Zeit- und Kraftressourcen, die man im Alltag erst einmal aufbringen muss.

Umso schöner, wenn es dann digital und real zu Begegnungen rund um das Buch kommt. Hierzu zählen für mich vor allem die Literarischen Soireen in der Stadtbücherei Augsburg, bei denen ich als Diskutant mitwirken darf und bei denen über die Frage von guter Literatur und spannender Neuerscheinungen diskutiert wird. Auch ist es schön, andere Blogger*innen wie etwa Pascal Matheus vom Blog Aufklappen zu treffen – diesen besuchte ich in der Buchhandlung Zum Wetzstein in Freiburg. Und auch wenn für mich wegen der Abordnung ins Gesundheitsamt die Buchmesse in Frankfurt ausfiel, hoffe ich auf Leipzig oder Frankfurt im kommenden Jahr.

Die Buch-Haltung im Podcast

Auch ich habe mich auf ein Feld gewagt, dass ich angesichts der Omnipräsenz und nicht immer überzeugenden Qualität der Inhalte und Darreichungsformen meiden wollte – die Rede ist von Podcasts. Als mich eine Anfrage der Augsburger Allgemeinen erreicht, ob ich nicht von meinem Beruf und meinem Hobby erzählen wollte, warf ich die Vorsätze allerdings über Bord und sprach mit Axel Hechelmann mehr als eine Stunde über Buchanfänge, besondere Kundenanfragen in Bibliotheken und die Frage, wie ich dieses Hobby hier finanziere oder ob ich davon leben könnte (Spoiler: schön wäre es…). Der Podcast findet sich unter folgendem Link:

Für die Treue und das stille Mitlesen sage ich herzlichen Dank. Und mit einem weihnachtlichen Song des amerikanischen Musikers Finneas O’Connell verabschiede ich mich an dieser Stelle, wünsche allen Mitlesenden einen guten Rutsch in ein hoffentlich ruhigeres und sorgenfreies 2022 mit viel guter Lektüre!

But here we are tonight | Drunk by the firelight | The future could be bright | Though no one’s sure about it | And if the ending’s sad | At least these times we’ve had | The good outweighs the bad | You wouldn’t know without it

Finneas O’Connell – Another year
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Kein Land für junge Frauen

Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub

Hier hat man es als Frau nicht leicht: in Odessa, einem kleinen Städtchen in West-Texas regiert 1976 das schwarze Gold und das Patriarchat. Elizabeth Wetmore erzählt in ihrem Debüt von Frauen, die den Widerspruch wagen und sich den Gepflogenheiten entgegenstellen. Wir sind dieser Staub.


Es ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. In der Wüste wird die junge Mexikanerin Gloria Ramírez von einem lokalen Taugenichts brutal vergewaltigt. Das minderjährige Mädchen schleppt sich durch die von Sand und Bohrtürmen dominierte Landschaft, bis sie auf die Farm von Mary Rose stößt. Diese ruft dem Mädchen einen Krankenwagen und erstattet Anzeige gegen den Vergewaltiger, nachdem sie dieser in ihrem eigenen Zuhause bedroht hat, um die Herausgabe des Mädchens zu erzwingen. Mary Rose beschließt, dass es reicht. Sie erstattet Anzeige gegen den Mann und läutet damit so etwas wie eine Zeitenwende ein.

Elizabeth Wetmore - Wir sind dieser Staub (Cover)

Bislang waren es die Männer, die entschieden und denen die Macht oblag. Egal ob Farmer, Öhlbohrarbeiter oder Richter – die Männer brachten das Geld nach Hause und führten das Wort. So etwas wie Gleichberechtigung ist 1976 im ländlichen Texas noch nicht in Sicht – und doch bricht sich nun auch hier die Veränderung Bahn.

Elizabeth Wetmore erzählt davon, indem sie verschiedene Frauen in den Fokus nimmt. Da ist die junge Gloria Ramírez, die sich nach der Vergewaltigung zu einer Metamorphose entschließt und künftig nur noch Glory genannt werden will. Die Ich-Erzählerin Mary Rose, die mit ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau kämpft. Corrine, die ehemalige Lehrerin, die den krankheitsbedingten Suizid ihres Mannes nicht verwinden kann. Oder die kleine Debra Ann, die die Bekanntschaft mit einem in einem Rohr hausenden Veteranen macht. Sie alle stehen bilden stellvertretend die weibliche Gesellschaft in Odessa ab.

Wetmore zeigt dabei ein ungeschöntes Bild dieser Gesellschaft, die von Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Flucht geprägt ist. Wer schlau genug ist, sucht möglichst schnell das Weite. Alle anderen Frauen werden schon vor ihrem 18. Geburtstag wieder Mütter und bereiten so einer weiteren Generation den Boden, die von Perspektivlosigkeit und starren Rollenmustern geprägt werden. Genau hier allerdings verheißt Mary Roses Mut, den Vergewaltiger anzuzeigen, einen möglichen Weg aus den ewigen Kreisläufen der sozialen Determination, die Odessa bislang bedeutete.

Täter-Opfer-Umkehr

Neben dem Bild der weiblichen Gesellschaft dort im amerikanischen Süden ist es auch die soziale Bewertung der Vergewaltigung, die im Mittelpunkt von Wir sind dieser Staub steht. Während die Fakten eine unmissverständliche Sprache sprechen (die Vergewaltigung hat bei Gloria sogar einen Milzriss hervorgerufen), sehen die Männer in Odessa die Lage alles andere als klar an und betreiben munter eine Täter-Opfer-Umkehr:

Das ist doch völlig klar, sagte einer [der] Männer, wir haben es hier mit zwei widersprüchlichen Darstellungen zu tun. Ein typischer Fall von Aussagen gegen Aussage. Sein Sitznachbar nippte am Bier und knallte das Glas auf den Tresen. Ich habe das Bild von der Kleinen in der Zeitung gesehen, sagte er, die war nicht vierzehn. (…)

So sind die Mexikanerinnen eben, sagte ein dritter Mann, die sind frühreif. Die Männer lachten. Oha ja, Sir! Sehr frühreif, rief einer.

Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub, S. 49 f.

Auch der Prozess selbst zeigt die Macht des Patriarchats deutlich, etwa wenn der Vorsitzende Richter die Zeugin Mary Rose bei ihrer Aussage drangsaliert und ihr seine Regeln aufzwingt.

Frauenschicksale und männliche Gewalt

Immer wieder wechselt Elizabeth Wetmore die Perspektive, erzählt von jungen und alten Frauen, von Trauer, Mutterschaft oder Freundschaft. Den einzigen kleinen Kritikpunkt, den ich hierbei anbringen möchte, ist die gleichzeitige die Uniformität und Unverbundenheit, die Wir sind dieser Staub in meinen Augen innewohnt. So klingen alle Frauen recht gleich und ihre Eindrücke und Erlebnisse sind teilweise recht unverbunden und stehen für sich. Eindrücklicher und literarisch überzeugender hat das die von mir zuletzt gelesene Ivy Pochoda in Diese Frauen geschafft, ein großes Tableau weiblichen Leidens und männlicher Gewalt zu zeichnen, das sowohl durch unterschiedliche Sprachstile als auch zugleich durch große Verbundenheit im Erleben und Schicksal überzeugt.

Auch ist die Schilderung des Prozesses nach der Vergewaltigung etwas arg plakativ und einfach geraten, sodass ich unweigerlich an den diesjährigen Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises denken musste – ist das Sujet bei Antje Ravík Strubel und Elizabeth Wetmore doch das gleiche. Im Vergleich zu Wetmores Buch ist in Blaue Frau das Thema der Vergewaltigung doch nuancierter und feiner ausgearbeitet

Aber von solchen direkten Vergleichen abgesehen ist Wir sind dieser Staub ein zugleich historisches aber auch aktuelles Bild von männlicher und weiblicher Gesellschaft, vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen und ein Blick ins ländliche Texas zwischen Ölboom und gewalttätiger Männlichkeit. Ein Debüt, dem man nur mit dem reichlich kitschig wirkenden Cover keinen Gefallen getan hat. Denn der Inhalt entscheidet sich hier doch deutlich von der Verpackung.

Weitere Meinungen zum Buch gibts bei Zeichen&Zeiten und Deutschlandfunk Kultur.


  • Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0092-4 (Eichborn)
  • 319 Seiten. Preis: 24,00 €
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Vorschaufieber Frühjahr 2022

Kurz vor Weihnachten versorgen uns die Verlage traditionell mit neuen Vorschauen der Bücher, die im Frühjahr erscheinen. So auch dieses Jahr, weshalb ich aus den Programmen wieder eine kleinen Zusammenschau mit Titeln erstellt habe, auf die ich mich besonders freue. Quer durch alle Genres, Sprachen und Verlage hindurch – vielleicht ist ja auch für den ein oder anderen Mitlesenden hier etwas Passendes dabei :

Andrea TompaOmertá (aus dem Ungarischen von Terzía Mora, Suhrkamp). Richard WrightDer Mann im Untergrund (aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, Kein&Aber). Jonathan LeeDer große Fehler (Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, Diogenes). Patrick FindeisParadies und Römer (Liebeskind). Sarah CrossanVerheizte Herzen (aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, KiWi).

Mariana EnriquezUnser Teil der Nacht (aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann, Klett Cotta). Yade ÖnderWir wissen, wir könnten, und fallen synchron (KiWi). Doug Johnstone – Eingeäschert (aus dem Englischen von Jürgen Bürger, Polar Verlag). Melissa HarrisonWeißdornzeit (aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, Dumont). Ann Petry The Narrows (aus dem Englischen von Pieke Biermann, Nagel & Kimche).

Jackie PolzinBrüten (aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, dtv). Peter HellerDie Lodge (aus dem Englischen von Marlene Fleißig, Nagel&Kimche). Diego ZunigaCamanchaca (aus dem Spanischen von Luise von Berenberg, Berenberg). Leila MottleyNachtschwärmerin (aus dem Englischen von Yasemin Dincer, Ecco). Berit GlanzAutomaton (Berlin-Verlag).

Vendela VidaDie Gezeiten gehören uns (aus dem Englischen von Monika Baark, Hanser Berlin). Mirjam WittigAn der Grasnarbe (Suhrkamp). Stefan HertmansDer Aufgang (aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, Diogenes). Jane GardamMädchen auf den Felsen (aus dem Englischen von Isabell Bogdan, Hanser). Deb Olin UnferthHappy Green Family (aus dem Englischen von Barbara Schaden, Wagenbach).

Guillermo ArriagaDas Feuer retten (aus dem Spanischen von Matthias Strobel, Klett-Cotta). Charlotte McConaghyWo die Wölfe sind (aus dem Englischen von Tanja Handels, S.Fischer). David MitchellUtopia Avenue (aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Rowohlt). Sarah Orne JewettDeephaven (Aus dem Englischen von Alexander Pechmann, Mare). Adania ShibliEine Nebensache (aus dem Englischen von Günther Orth, Berenberg).

Ilse Molzahn Der schwarze Storch (Wallstein). Francesca ReeceEin französischer Sommer (aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler, S. Fischer). Djaimilia Pereira de Almeida – Im Auge der Pflanzen (aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita, Unionsverlag). Francis SpuffordEwiges Licht (aus dem Englischen von Jan Schönherr, Rowohlt). Wolf HaasMüll (HoCa).

Markus Gasser – Die Verschwörung der Krähen (C.H. Beck). Leonardo PaduraWie Staub im Wind (aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag). Greg BuchananSechzehn Pferde (aus dem Englischen von Henning Ahrens, S. Fischer). Fatma AydemirDschinns (Hanser). Virginia WoolfMrs. Dalloway (aus dem Englischen von Melanie Walz, Manesse).

Dantiel W. MontizMilch, Blut, Hitze (aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus und Anke Caroline Burger, C. H. Beck) Deesha PhilyawChurch Ladies (Ars Vivendi). Claire KeeganKleine Dinge, wie diese (aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Steidl). Lucy FrickeDie Diplomatin (Claassen). Polly SamsonAus Freundlichkeit (aus dem Englischen von Bernhard Robben, Ullstein).

Irena Vallejo – Papyrus: die Geschichte der Welt in Büchern (aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes), Henriette ValetMadame 60a (aus dem Französischen von Norma Cassau, Verlag das Kulturelle Gedächtnis) Dominique FortierStädte aus Papier: vom Leben der Emily Dickinson (aus dem Französischen von Bettina Bach, Luchterhand). Timo FeldhausMary Shelleys Zimmer (Rowohlt). Jacob RossDie Knochenleser (aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling, Suhrkamp).

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Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen

Noch einmal Coming of Age, noch einmal Rückschau auf die eigene Kindheit und einen entscheidenden Sommer, der alles veränderte. Und auch wenn ich gerade an völliger Übersättigung dieser Art von Romanen leide (siehe hier, hier, hier, hier oder hier) – Licht zwischen den Bäumen ist doch ein prima Roman in High-End-Ausfertigung. Bibliophil gestaltet in der kundigen Übersetzung von Tanja Handels entführt Una Mannions Buch in die Wälder Pennsylvanias in einem Sommer in den 80er Jahren.

Die Ich-Erzählerin Libby Gallagher nimmt uns mit auf den Valley Forge Mountain, auf dem sie zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter ein abseits gelegenes Haus bewohnt. Der dicht bewaldete Berg ist bekannt für das Lager, das George Washington damals dort während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs aufschlagen ließ, um den Winter zu überstehen. Fast 2500 Soldaten fanden dort den Tod, verhungerten und erfroren. Nicht weit von diesem historischen Ort entfernt liegt das Haus der Familie, dessen umgebender Wald für Libby eine ideale Spielwiese darstellt.

Eine Familie unter Druck

Una Mannion - Licht zwischen den Bäumen (Cover)

Für das junge Mädchen bedeutet der Wald Rückzug und Entspannung von der Familie. Denn Libbys Familie gleicht oftmals einem unter Druck stehenden Kessel. Alle Geschwister sind höchst unterschiedlich, die Mutter verheimlicht ihren neuen Freund vor der Familie und man streitet und debattiert, bis die Fetzen fliegen. In einer solchen angespannten Lage lernen wir auch die Gallaghers zu Beginn des Buchs kennen, als ein Streit im Auto auf der Rückfahrt nach Hause eskaliert. Libbys Mutter setzt daraufhin Ellen am Straßenrand aus, damit diese zu Fuß nach Hause läuft.

Diese Entscheidung ist der Auslöser aller weiteren Ereignisse im Roman. Denn auf dem langen Weg nach Hause will Ellen per Anhalter etwas erträglicher machen und steigt zu einem Mann ins Auto, dem sie später nur mit Mühe und Not entkommen kann. Die Zeiten sind eh beängstigend für Libby und ihre Geschwister, die Morde von Charles Manson und seiner Gruppe liegen gerade einmal ein paar Jahre zurück, der Vietnamkrieg ebenfalls, das Massaker in Amityville ist auch in den 80er Jahren noch sehr präsent und befeuern die kindliche Fantasie. Als nun auch noch Ellen von dem gruseligen Mann erzählt, in dessen Auto sie sich wiedergefunden hat und in dem sie sexuel belästigt wurde, sitzt der Schock vor allem bei Libby tief.

Coming of Age und Familienporträt

Der Bericht von Ellen setzt Entwicklungen in Gang, die sich nicht mehr so leicht einfangen lassen. In jenem Sommer zwischen Lagerfeuer-Parties, Einbruch ins Schwimmbad und erster Liebe entspinnen sich gefährliche Dynamiken, die für Ellen und ihre Geschwister handfeste Gefahr bedeuten.

Licht zwischen den Bäumen ist ein klassischer Coming-of-Age Roman, das Porträt eines Mädchens, das nach einer Richtung im Leben sucht und der Blick in das turbulente Innere einer Familie.

Aus den klassischen Genre-Zutaten (ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein entscheidender Sommer, der Einbruch von Gefahr und Verderben in die vormals heile Welt) vermengt Una Mannion mit einem genauen Porträt der Familie Gallagher, die seit dem Tod des aus Irland stammenden Vaters zunehmend auseinanderdriftet. Sie erzählt bildreich vom Leben der Familie am Berg dort im County Schuylkill, das sich eher am unteren sozialen Rand abspielt.

Auch wenn man die Familie nicht unbedingt als sozial randständig bezeichnen kann – Armut und Vernachlässigung haben sie trotzdem erfahren. Das Gras wird nicht geschnitten, das Haus vernachlässigt, die Mutter schleicht sich zu ihrem Liebhaber davon, Libby muss mit Babysitten das Einkommen aufbessern und so treibt diese Familie unablässig auseinander, ehe sie die Ereignisse um Ellens Anhaltererlebnis schlussendlich wieder zusammenführen.

Fazit

Irgendwo zwischen den popkulturellen Phänomenen „Stand by me“ oder „Stranger Things“ angesiedelt erzählt Una Mannion eine spannende Geschichte aus dem amerikanischen Hinterland und zeigt eine Familie im Auflösungszustand. Ein unterhaltsames Buch, das einen Sommer in den 80er Jahren dort in Pennsylvania noch einmal zurückholt.

Mehr Meinungen zu Licht zwischen den Bäumen gibt es bei Zeichen&Zeiten und im Blog der Buchhandlung Die Insel.


  • Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-95829-973-3
  • 344 Seiten. Preis: 24,00 Euro
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Alida Bremer – Träume und Kulissen

In die engen Gassen von Split kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entführt Alida Bremer in ihrem zweiten Roman Träume und Kulissen. Sie zeigt eine zerrissene Stadt zwischen Krieg und Frieden, Kommunismus und Faschismus und Ost und West. Ein Breitwandpanorama, das von Schicksalen und Geschichte erzählt. Sinnlich und begeisternd.


Nein, es ist kein großer Fisch, den der Fischer Fran Nisiteo aus den Netzen im nächtlichen Hafen von Split birgt und per Sackkarren zur Polizei fährt. Vielmehr handelt es sich um einen Toten, der durch Messerstiche den Tod fand. Die Nachricht alarmiert nicht nur die Polizei, sondern versetzt halb Split in Aufregung. Schließlich schreibt man das Jahr 1936 und die Lage auf dem Balkan und ganz Europa gleicht einem Pulverfass.

An Spitzel war man in Split gewohnt. Seit Beginn des Jahrhunderts tummelten sich Österreicher, Ungarn, Türken, Bulgaren, Rumänen, Ukrainer, Albaner, Italiener, Franzosen, Serben, Russen, Griechen, Deutsche, Tschechen, Polen, Briten und sogar Amerikaner in der Stadt. Alle unterhielten ihre Netze von Schnüfflern, die an die jeweiligen Auftraggeber in ihren Ländern berichteten – man fragte sich bloß, was? Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.

Alida Bremer – Träume und Kulissen, S. 24

Die Herrschaft Österreich-Ungarns über Split ist Geschichte, die Königsdiktatur nach der Ermordung Alexander I. vor zwei Jahren ebenfalls. In Italien herrscht Mussolini und treibt gerade den Abessinienkrieg voran und unterstützt die kroatische Ustascha, in Deutschland hat Hitler die Macht ergriffen und viele Juden und Andersdenkende haben die Flucht ergriffen. In Europa und auf dem Balkan brodelt es – und beobachten lässt sich das auch in Split, das bei Alida Bremer zu einem Brennglas auf die damaligen Verhältnisse wird.

Eine zerrissene Stadt

Alida Bremer - Träume und Kulissen (Cover)

So schwanken die Bewohner Splits zwischen Nationalstolz und dem unbedingten Willen, die besseren Italiener zu sein. Fabrikerben huldigen den Ideen d’Annunzios, man ist sich uneins, ob es nun Fiume oder doch in Rijeka heißt. Kommunisten wie der Deutsche Frederick Achnitz sind genauso in der Stadt präsent wie eine Filmcrew, die Propagandafilme für die Nationalsozialisten zu drehen scheint.

Alle Figuren haben geheime Missionen, die sie im Schatten des Diokletianspalastes verfolgen und die zu Verwicklungen und Unübersichtlichkeit führen – was Alida Bremer immer wieder mit Augenzwinkern und feinem Humor schildert.

Für die Partei hier in Dalmatien , so hatte der Verbindungsmann weiter gesagt, stehe der Kampf gegen die italienischen Faschisten, gegen die kroatischen Nationalisten, gegen die katholische Kirche, gegen das serbische Königshaus und gegen die italienischen und jugoslawischen Kapitalisten ganz oben.

Alida Bremer – Träume und Kulissen, S. 15

So ist hier vieles wirklich Traum und Kulisse. Der Apotheker träumt von dem toten Schiffsbesitzer als Fisch, für die Filmcrew sind die historischen Mauern und Strände auch nur Fassade. Oftmals kommt man sich wie in einem alten Spionagefilm voller Kulissenschieberei vor.

Ein schnell drehendes Figurentableau

Alida Bremer erzählt schnell und mit Witz, stellt zahlreiche Figuren in den Mittelpunkt, die sie immer wieder durchwechselt. Der stets mit lateinischen Sentenzen um sich werfende Arzt, der zwischen Genuss und Wut schwankende Notar oder der sich vor der Zusammenarbeit mit der Politischen Polizei drückende Ermittler Bulat. Sie alle sind Teil des sich schnell drehenden Figurentableaus.

Geschickt schafft sie es, die verschiedenen Stimmungen und Tonlagen in der Stadt während des Sommers heraufzubeschwören. Von der stickigen Enge der Gassen bis zum reinigenden Gewitter, stets fühlt man sich, als würde man tatsächlich gerade durch Split streifen, während hinter allen Häuserecken Menschen auf besonderen Missionen unterwegs sind, egal ob Logenbrüder, Marktfrauen Kommunisten, Faschisten, Italiener, Kroaten oder Deutsche.

So gelingt ihr ein eindrucksvolles Bild von Split kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, das auch pars pro toto für den Balkan und ganz Europa steht. Und auch wenn das Grundgerüst ein Krimi ist, der sich zentral mit der Frage der Ermordung des Schiffsbesitzers auseinandersetzt, ist Träume und Kulissen daneben auch deutlich mehr, nämlich die Schilderung einer zerrissenen Gesellschaft und einer zerrissenen Stadt. Auch ist das Buch eine liebevolle Hommage an die kroatische Küstenstadt Split und ihre diversen Bewohner.

Fazit

Alida Bremer hat mit ihrem zweiten Roman ein großartiges Sommerbuch geschrieben, das davon erzählt, wie es sich 1936 angefühlt haben könnte, als Frieden noch möglich, aber schon nicht mehr recht wahrscheinlich war. Ein tolles Leseerlebnis aus dem Jung und Jung-Verlag, für den man nur hoffen kann, dass nun nach der Übernahme durch den Kampa-Verlag weiterhin genau diese Sorte von origineller Literatur erscheinen wird, die den Verlag bislang ausgezeichnet hat. Ich würde es mir wünschen.


  • Alida Bremer – Träume und Kulissen
  • ISBN 978-3-99027-258-9 (Jung und Jung)
  • 360 Seiten. Preis: 24,00 €
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