Monthly Archives: Dezember 2023

Meine besten Bücher 2023

Die Einleitung meines Rückblicks aus dem vergangenen Jahr könnte ich in diesem Jahr eigentlich kopieren und an dieser Stelle erneut einfügen. Ähnlich wie 2022 sind es auch in diesem Jahr wieder über hundert Rezensionen geworden, in denen ich mich hier meinen Lektüren etwas genauer gewidmet habe und diese Lektüreeindrücke und Gedanken hier auf dem Blog verschriftlicht habe.

Daneben gab es wieder schöne Momente und Initiativen, die das solistische Schreiben hier schön ergänzen. So durfte ich Teil der Sachbuchblogger für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 sein. Auch zur Preisverleihung des Tukan-Preises in München war ich eingeladen (mehr zu Thomas Willmanns Buch auch hier in der Bestenliste). Unbestrittenes Highlight zweifelsohne meine Teilnahme am Literarischen Quartett, die es leider nicht in die Mediatheken schaffte, mir aber viel Freude bereitete.

Daneben gab es wieder Literaturabende, Moderationen und sogar diesmal zwei Messebesuche mit Leipzig im Mai und Frankfurt im Oktober. Vieles habe ich erlebt – und hier hoffentlich auch dazu beigetragen, das ein oder andere Buch noch etwas bekannter oder sichtbarer zu machen.

Nun aber genug der einleitenden Worte, es folgen nun meine sechzehn besten Bücher des Jahres. Die ausführlichen Besprechungen lassen sich alle auf dem Blog nachlesen und sind in den Texten verlinkt. Der Klick aufs Cover bringt euch auf die Seite der Onlinebuchhandlung Yourbookshop. Mehr zu dieser Verlinkung habe ich am Ende des Textes vermerkt. Und jetzt viel Spaß:

Benjamín Labatut – MANIAC

ChatGPT und die Frage der Künstlichen Intelligenz waren Schlagwörter, denen man in diesem Jahr kaum entgehen konnte. Viele Romane behandeln das Thema dabei eher unterkomplex. Wie es besser geht, das zeigt der Chilene Benjamín Labatut in seinem Roman MANIAC, der von John von Neuman und dessen Erfindung, einem Supercomputer erzählt. Literarisch ambitioniert, hervorragend gebaut – solche Literatur schafft keine Künstliche Intelligenz der Welt!

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Das gute Literatur ihre Zeit zur Reife braucht, das beweist Thomas Willmann mit seinem Roman Der Eiserne Marquis eindrücklich. Debütierte er 2010 mit seinem Alpenwestern Das stille Tal, blieb es gute 13 Jahre lang still um ihn. Das hatte seinen guten Grund. Handschriftlich verfasste er dieses monumentale Epos, das von Liebe, Begehren, Technikgläubigkeit und der Menschenmühle des Krieges erzählt – und von noch so viel mehr.

Lauren Groff – Die weite Wildnis

Letztes Jahr in der Jahresbestenliste für Matrix, dieses Jahr eine Spitzenplatzierung für Die weite Wildnis – Lauren Groff hat einfach einen Lauf. Hier gelingt ihr ein beeindruckendes Porträt eines Überlebenskampfes in der amerikanischen Wildnis, die mal lebensfeindlich, manchmal erhebend ist. Nature Writing, Erzählung über die Untertanmachung der Erde, historischer Roman und die literarische Hymne auf eine Überlebenskünstlerin, alles drin!

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Der coronabedingten Isolationen haben wir gewissermaßen dieses Buch zu verdanken, das der Schriftsteller Kazuo Ishiguro in dieser Zeit wiederentdeckte und empfahl. Auch schließe mich an und empfehle meinen literarischer Sommerhit des Jahres aus der Feder von R. C. Sherriff. Bittersüß erzählt Zwei Wochen am Meer von der Sommerfrische einer durchschnittlichen englischen Familie an der Südküste Englands, lang vor Massentourismus und Event-Fixierung. Ein Buch, das den Sommer feiert, aber auch um seine Vergänglichkeit weiß. Berührend!

Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der Suhrkamp-Verlag und Andreas Pflüger können den Champagner schon einmal kalt stellen. Der Deutsche Krimipreis 2023 dürfte ihm für sein Werk Wie Sterben geht sicher sein – und das absolut zurecht. Sein Buch führt zurück in die Hochphase des Kalten Kriegs und passt erstaunlich wieder gut in die Gegenwart. Einen anspruchsvolleren, literarisch ausgeklügelteren und mitreißenderen, kurz: besseren Krimi als diesen habe ich 2023 nicht gelesen. Mein Tippschein für den Krimipreis ist ausgefüllt!

Louise Kennedy – Übertretung

Irland zur Hochzeit der Troubles – und mittendrin die katholische Lehrerin Cushla, die gleich mehrere Übertretungen wagt. Die Affäre mit einem Protestanten und die Übertretung sämtlicher Zurückhaltung, als es um das Wohl einen ihrer Schüler geht. Hier explodieren die Bomben, ist das Leid der Zivilbevölkerung auf jeder Seite spürbar. Kurzum: man ist in Louise Kennedys Debüt ganz dicht dran und bekommt eine Ahnung, wie es sich angefühlt haben muss, als der IRA-Terror seinen Höhepunkt auf der grünen Insel erreichte.

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Völlig untergegangen in Sachen öffentlicher Aufmerksamkeit ist diese literarische Wiederentdeckung, die uns der Reclam-Verlag zugänglich gemacht hat: in Die Kaiserstadt entwirft Paul Zifferer ein vielschichtiges Porträt Wiens kurz nach dem Ende des Großen Krieges. So kehrt Toni Muhr aus dem Krieg heim, findet sich seiner Erfindung und irgendwie auch seiner Frau beraubt. Das will er aber nicht auf sich sitzen lassen und wird zu einer Art austrakianischem Kohlhaas, während um ihn herum die Habsburgermonarchie zerbröselt.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Noch einmal Wien, noch einmal die Kaiserstadt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, genauer gesagt am Vorabend des Kriegseintritt Österreichs in den Großen Krieg. Edelbauer lässt ihre Figuren in Echtzeit durch die Stadt hetzen. Absteigen in die Wiener Unterwelt und das eigene Unterbewusstsein, Kriegseuphorie, geheimnisvolle Träume, irgendwo zwischen Schnitzler, Sebastian Schippers Victoria und Sense 8. Das ist ebenso luzide wie präzise, sprachmächtig wie vorwärtstreibend – einfach inkommensurabel!

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Bücher mit soziologischem Erzählanspruch gab es in diesem Jahr einige (man denke beispielsweise nur an Teresa Präauers Kochen im falschen Jahrhundert). So genau und so treffend wie Vincenzo Latronico in seiner Vermessung des Berliner Ex-Pat-Milieus ist es in meinen Augen allerdings niemandem gelungen, soziologische Genauigkeit und literarische Präzision miteinander zu einem Bild einer Bevölkerungsschicht zu verbinden, bei der man trotz allem Hochglanz-Chic vielleicht doch nicht dazugehören möchte.

Angela Steidele – Aufklärung

Zugegeben, hier habe ich geschummelt, erschien Angela Steideles Buch doch eigentlich schon vor einem Jahr – aber erst jetzt kam ich zur Lektüre und fand einen begeisternden historischen Roman vor. Wissenssatt löst er den Anspruch des Titels auf ganzer Linie ein, erzählt vom intellektuellen Leben in den Gassen Leipzigs, das dem Treiben im Inneren eines Bienenstocks gleicht und rückt nicht zuletzt die die in den Vordergrund, die sonst im Schatten der Geschichte verschwinden – die Frauen.

Claire Keegan – Das dritte Licht

Wie man aus wenigen Seiten das Größtmögliche herausholen kann, das stellt die Irin Claire Keegan immer wieder beeindruckend unter Beweis. Auch in Das dritte Licht gelingt ihr das Kunstwerk, auf kleinstem Raum ein großes Schicksal zu erzählen, nämlich das eines Mädchens, das zu einem anderen Ehepaar gegeben wird, das sich der Pflege des Kindes annimmt. Wie jede der beteiligten Figuren an der neuen Situation wächst, schildert sie so ergreifend, das eine Platzierung hier in der Bestenliste nur konsequent ist.

James Kestrel – Fünf Winter

Noch einmal Krimi, noch einmal Suhrkamp, noch einmal Breitwandkino. In Fünf Winter erzählt James Kestrel die Geschichte eines Ermittlers auf Honolulu, dem bei seinen Mordermittlungen alles andere als eine Kleinigkeit dazwischenkommt. Es ist der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der nicht nur die Überführung eines Mörders stoppt, sie bringt den unbestechlichen Cop sogar bis nach Japan, ehe er seine unterbrochenen Ermittlungen weiterführen kann. Großes Kino!

Charlotte Gneuß – Gittersee

Dieses Buch hatte ich eigentlich nicht auf dem Schirm. Wieder DDR, wieder Coming of Age? Mein Interesse hielt sich in Grenzen. Doch dann besprachen wir Gittersee im Literarischen Quartett und ich sah alle Vorurteile widerlegt. Denn Charlotte Gneuß erzählt stimmig vom Aufwachsen einer jungen Frau im sozialistischen Planstaat namens DDR, vom Sich-Verfangen im Gespinst der Staatssicherheit, vom unaufhörlichen Irren der Nadel des eigenen Lebenskompasses in den Jugendjahren. Das ist ein großartiges Debüt!

Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Noch so ein Überraschungscoup mit ihrem Debüt gelingt der Autorin Dana Vowinckel. Ihr Buch kommt genau zur richtigen Zeit, erzählt es doch von jüdischem Leben in der DDR, von unterschiedlichen Wegen der Eltern- und Jugendgeneration in Deutschland. Besonders wichtig ist dieses Debüt in den aktuellen Zeiten, in denen der Antisemitismus um sich greift. Denn Gewässer im Ziplock zeigt, wie gelebtes Judentum aussieht und leistet wichtige Aufklärungsarbeit.

André Hille – Jahreszeit der Steine

Wenn es eine thematische Häufung an Büchern gab, dann war das im Jahr 2023 zweifelsohne das Thema Vaterschaft. Von Deniz Utlu bis zu Christian Dittloff, alle dachten über Väter, männliche Prägung und moderne Vaterschaft nach. Am gelungensten in meinen Augen tat das André Hille, der im erzählerischen Rahmen eines einzigen Tages in Jahreszeit der Steine alle essenziellen Themen behandelte und hinterfragte – und in dessen Überlegungen ich mich auch persönlich wiederfand.

Emmanuel Maeß – Alles in allem

Zugegeben – Emanuel Maeß Prosa ist nicht jedermanns Sache – aber auf alle Fälle meine. Spracharabesken, aus der Zeit gefallene Themen, Zauderer und Prokrastineure als Helden – das alles nimmt mich sehr für den Autor ein, der in Alles in allem von einem ewigen Theologiestudenten und dessen Irren zwischen verschiedenen Frauenfiguren erzählt. Unzeitgemäß, aber eben deshalb auch für mich in diesem Jahr passend und begeisternd.


Sämtliche hier vorgestellte Bücher habe ich auch in einer Liste bei der unabhängigen Onlinebuchhandlung Yourbookshop hinterlegt. Dort könnt ihr die Bücher kaufen und damit zugleich eure favorisierte Buchhandlung vor Ort unterstützen. Und ein kleiner Teil vom Erlös kommt auch meiner Arbeit hier zugute, damit es auch im nächsten Jahr wieder spannende Entdeckungen gibt. Schaut doch mal vorbei, wenn ihr mögt!

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Tonio Schachinger – Echtzeitalter

Die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 hat entschieden. Der Preis für das beste Buch des Jahres geht an den Österreicher Tonio Schachinger für dessen Schulroman Echtzeitalter. Grund genug für mich, mir den Roman etwas genauer anzusehen.


Es gibt deutlich prominentere Besucher einer Bildungsanstalt als die Riege, die das in Wien gelegene Marianum vorweisen kann. Der Mann von Marie von Ebner-Eschenbach war da, der Neffe von Ludwig Wittgenstein – aber eben leider keine wirklich prominenten Namen, mit denen sich die Schule schmücken könnte. Nicht einmal in der österreichischen Literatur findet die Schule Erwähnung. Lediglich der Autor Arno Geiger kann als berühmter Absolvent der Lehranstalt herangezogen werden, ansonsten hat diese Schule mit ihrer „schönbrunnergelben“ Fassaden eigentlich nur Mittelmaß hervorgebracht.

Als ihren jüngsten Zugang kann sie sich nun Till Kokordas rühmen. Diesen hat seine Mutter im Marianum untergebracht, in der Hoffnung auf Bildung und Vervollkommnung seines Charakters. Mit beidem ist es allerdings nicht wirklich weit her, wie Tonio Schachinger, selbst auch Absolvent einer solchen Schule, in seinem Roman Echtzeitalter zeigt. Vom Schuleintritt bis zu dessen Abschluss dort an der Einrichtung begleitet er seinen Protagonisten, der die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Professoren dort kennenlernt.

Till und der Dolinar

Da ist der Klassenlehrer (oder im titelverliebten Österreich eben Professor geheißene) Dolinar, der die Schüler mit über die Jahre verfeinerten Didaktik quält. Nicht nur äußerlich ähnelt er dem von J. K. Simmons gespielten Drillmeister Terence Fletcher aus Damien Chazelles Film Whiplash. Wissen ist für ihn eine klare Abprüfung von zu erlernenden Fakten. Eigenständiges oder kritisches Denken gehört nicht den von ihm gelehrten Werten, stattdessen ist sein gelehrtes Weltbild so starr wie der Kanon, der im Falle von Dolinars Unterricht vom gelben Portfolio des Reclam-Verlags definiert wird. Was nicht in einer Ausgabe des Reclam-Verlags vorhanden ist, das ist keine zu behandelnde Literatur, so die Erkenntnis aus dem Dolinar-Unterricht.

Tonio Schachinger - Echtzeitalter (Cover)

Andere Lehrer sind ebenso Originale wie der eher mit seiner ÖVP-Kandidatur denn Unterrichtsdurchführung beschäftigte Professor Dr. Lassner. Der Musiklehrer hat im Unterrichtsraum nichts zu melden, stattdessen wird der Beamer für Publicviewing genutzt und der Lehrer darf mit Duldung der Klasse Unterricht an der Tafel simulieren. Es ist ein Sammelbecken wunderlicher und eigenwilliger Gestalten, denen Till am Marianum begegnet.

Dessen Leidenschaft gilt aber sowieso nur in geringem Maße dem Unterricht, durch den er sich zwischen Russischstunden, Flanieren im Park anstelle des gemiedenen Sportunterrichts oder der Analyse von Stifters Brigitta hindurchlaviert. Vielmehr ist er von der Welt des Spiels Age of Empires 2 besessen. Zusammen mit einem Klassenkameraden und später zunehmend solitär hat er sich in die Welt des Zivilisationsspiels begeben, bei dem er zunehmend an Erfahrung und Spielpraxis gewinnt. Immer weiter geht es für ihn nach oben in der Online-Statistik der besten Spieler, während die Schule bald zum Nebenschauplatz wird.

Zwischen Marianum und Age of Empires 2

In der digitalen Welt kann Till glänzen und verschafft sich auch in der Schule durch findige Tricks Spielzeit im Computerraum, etwa durch seine Ernennung zum Administrator der Schulhomepage, mit der er der Rektorin Hoffnung vorgaukelt, um wenigstens in Sachen Digitalauftritt der Schule etwas Anschluss an die konkurrierenden Lehreinrichtigungen halten zu können. So verbringt Till seine Zeit zwischen Computerarbeitsraum, Rauchereck und Unterrichtssälen, während die Jahre ins Land gehen.

Deutlichstes Zeichen des Verstreichens der Zeit sind die Landmarken österreichischer Geschichte, die Schachinger immer mal wieder in seinen Roman einflicht. So finden die eigenwilligen Wander-Wahlkampfauftritte des Ex-Kanzlers Sebastian Kurz ebenso Erwähnung wie das Ibiza-Video des FPÖ-Politikers Hans-Christian Strache, das zu den Protesten am Ballhausplatz und dem späteren Rücktritt der Regierung führte.

Echtzeitalter ist ein Roman, der vom Durchwurschteln und der Provinzialität der österreichischen Seele bei gleichzeitig größtmöglichem Anspruch erzählt. Sein und Schein klaffen hier deutlich auseinander.

Sinnbild ist auch die Bildung des Dolinar, die er mit eiserner Disziplin seinen Schülerinnen und Schülern Lektürebegriffe und Gattungstheorien eintrichtert, damit aber einem Bildungsideal hinterherläuft, das so aus der Mode gekommen ist (um nicht sogar zu sagen so überflüssig ist), wie die Lektüre von Stifters Brigitta, dem die Schüler in einer der vielen witzigen Szenen des Buchs hinterherjagen, um dann nur festzustellen, dass es sich bei der avisierten Ausgabe um eine Suhrkamp-Neuausgabe des Titels handelt, womit diese natürlich völlig unbrauchbar ist, da sie nicht den äußeren Anforderungen der Dolinar’schen Reclam-Normierung entspricht. Mit diesem starren und überkommenen Erziehungskonzept fernab vom aufklärerischen Sapere aude produziert das Marianum weiterhin Mittelmaß – und Till hat sich sehr wohlig darin eingerichtet.

Pennälerstreiche in leicht modernisierter Form

Das ist neben seiner unverhofften Aktualität nach einem erneuten (und debakulösem) PISA-Schock hierzulande auch an vielen Stellen wirklich witzig, etwa wenn Schachinger alte Pennäler-Streiche aus der Feuerzangenbowle nur leicht modernisiert noch einmal zur Aufführung bringt. An einigen Stellen zieht sich das Buch allerdings auch deutlich, da fernab vom kontinuierlichen Strom aus Age of Empires 2, Schulstunden und Nachsitzen nur wenig passiert. Das bringt viele Längen mit sich, die mich manchmal mit Echtzeitalter hadern ließen.

Zudem ist das Buch mit seinem Sujet des nostalgischen Schülerromans verschmolzen mit der Gegenwart manchmal nicht wirklich „dran“ an seinen Protagonisten. Eine Klasse, die kollektiv am Abend ORF sieht, um sich mit dem Konsums der Verfilmung von Marie von Ebner-Eschenbachs Krambambuli den Konsum der Lektüre zu sparen, das mag noch vor einigen Jahren gängige Praxis gewesen sein. Für eine Abschlussklasse 2020 erscheint das aber im Zeitalter von Mediatheken, Streaming und Youtube-Erklärvideos ziemlich antiquiert und nicht wirklich stimmig.

Nicht zwingend muss man sich von solchen Details um die Freude der Lektüre von Tonio Schachingers Roman bringen lassen. Klassenunterschiede, Umgang mit historischer Schuld, soziale Funktionsweisen und Seelenerkundung Österreichs, alles das kann man aus Echtzeitalter lesen, wenn man denn möchte.

Fazit

Für mich ist es ein in weiten Teilen unterhaltsamer, bisweilen sogar witziger Roman (was auch an der starken intertextuellen Literaturdichte und Behandlung von Literatur im Buch begründet liegt). Der beste Roman des Jahres, wie ihn die Jury des Deutschen Buchpreises ausgezeichnet hat, ist er für mich aber leider nicht. Weder inhaltlich noch sprachlich weiß das Buch besonders herauszuragen, insofern durchaus eine Empfehlung aber keine Aufnahme in meine persönliche Bestenliste dieses Jahres!

Mehr zum Buch haben unter anderem Sören Heim, Katharina Herrmann und Alexander Carmele auf ihren Blogs geschrieben.


  • Tonio Schachinger – Echtzeitalter
  • ISBN 978-3-498-00317-3 (Rowohlt)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Rónán Hession – Leonard und Paul

Soulfood in Buchform. In Leonard und Paul stellt der Ire Rónán Hession die Freundschaft zweiter introvertierter Männer in den Mittelpunkt. Zwar haben sie es aufgrund ihrer zurückhaltenden Charakteranlage nicht so leicht, finden aber dennoch oder gerade wegen ihrer Unangepasstheit zu ihrem Glück.


Dass wir die Geschichte der Freunde Leonard und Paul hierzulande zu lesen bekommen, verdanken wir der Hartnäckigkeit einer anderen Zweierbeziehung. So beschlossen Torsten Woywod und seine Partnerin Wiebke Meurer nach einem zufälligen Fund des englischen Originals, das Buch auch den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich machen zu wollen. Kurzerhand gründeten sie einen eigenen Verlag, um das Buch in die Buchläden des Landes zu bringen, beauftragten Andrea O’Brien mit der Übersetzung und brachten das Buch in Eigenregie auf den Markt (mehr zu dieser ungewöhnlichen Geschichte gibt es auch im Interview mit Torsten auf dem Blog Klappentexterin zu erfahren).

Nun liegt das Buch auch in der Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg vor und ist – ich kann es nach der Lektüre nicht besser in Worte fassen – Soulfood zum Lesen.

Vorweg: wer gesellschaftliche Analysen, politisch verhandelte Themen oder sprachlich herausfordernde Problembegehungen sucht, der wird mit Leonard und Paul nicht wirklich glücklich werden. Wer aber gute Unterhaltung schätzt, die einfach mal wieder in eine Geschichte abtauchen lässt, die liebenswerte Charaktere auf ihrem Weg durchs Leben begleitet und wer in diesen schwierigen Zeiten Ablenkung sucht, der wird mit Rónán Hessions Buch sicherlich glücklich werden.

Die Geschichte zweier Außenseiter

Denn seine Geschichte zweier Außenseiter ist eine, die den Wert der Freundschaft feiert und die zeigt, wie sich auch Trauer und Schmerz durch Zuwendung und Mitmenschlichkeit überwinden lassen.

Leonard erfährt dies nach dem Tod seiner Mutter. Bequem hatte er sich eingerichtet im Leben mit ihr, man gab aufeinander acht und Leonard war das, was man ein behütetes Kind nennt, auch wenn er formal dem Kindesalter schon längst erwachsen war. Doch nun, nach dem Tod der Mutter, verliert er, der an Kinokassen infolge von Entschlussschwäche schon mal lieber nach Hause eilt, statt einen Film zu sehen, fast vollständigen den Halt.

Rónán Hession - Leonard und Paul (Cover)

Nur sein Freund Paul ist für ihn da, mit dem er tiefgründige Gespräche über das All führt, mit dem er sich regelmäßig zum Spielen von Klassikern wie Scrabble trifft – und dessen Leben gerade auch vor einem (weitaus kleineren) Umbruch steht. So heiratet seine Schwester, womit sich diese auch ein Stück weit aus dem familiären Verbund löst und nun Paul mit seinen Eltern allein zuhause zurücklässt.

Diese Situation von erfahrenen Lebensumbrüchen lässt sich aber durch die Freundschaft der beiden introvertierten Männer aber gut regeln. Denn sie finden beide zu neuem Glück, wie Hession im Laufe des Buchs zeigt. Leonard, der als Ghostwriter und Redakteur von Kinderbüchern sein täglich Brot verdient, und Paul, der zusammen mit seiner Mutter Menschen im Krankenhaus besucht und zweimal im Monat als Aushilfsbriefträger im kleinen Heimatdorf unterwegs ist, finden zu neuen Umgangsformen, gar eine aufkeimende Liebe steht einem der beiden Männer bevor.

Leonard & Paul & Grace & Shelley

Leonard und Paul ist ein Buch, das die Stille, die Zurückhaltung und das Absagen an Hektik und Oberflächlichkeit feiert. Rónán Hession entdeckt Unbeholfenheit als eine liebenswerte Eigenschaft, verzichtet auf eine Bloßstellung seiner Helden und ist in seinem ganzen Schreiben mitfühlend und mitmenschlich. Es ist eine Lektüre, die gute Laune macht, auch wenn nichts Großes oder Spektakuläres in diesem Roman geschieht – und es ist Lektüre, die mich von ihrer Zugewandtheit und ihrem Sinn für Humor auch an die Schreibe von Freya Sampson erinnerte.

Sie wissen schon, sie wollte absichtlich depressiv klingen, weil sie dachte, dann würde sie sich literarischer anhören, aber ich bin sicher, Sie haben das auch schon bemerkt, es gibt Menschen, die so sehr mit dem Schreiben beschäftigt sind, dass sie darüber vergessen, eine Geschichte zu erzählen. Das macht mich wahnsinnig!

Rónán Hession – Leonard und Paul, S. 291

Diese literarische Weisheit, die Leonard auf der Hochzeit von Pauls Schwester Grace im Gespräch mit einem anderen Hochzeitsgast erfährt, hat Rónán Hession auch für sein Buch beherzigt. Leonard und Paul ist einfach das, was bekanntlich mit am schwersten ist: im besten Sinne „leicht“, da gut gemachte, empathische und eine wärmende Lektüre – genau das Richtige also für kalte Tage, für das Weihnachtsfest und darüber hinaus auch für unsere Zeit.

Fazit

Dass dieses Buch zum auserwählten Kreis der für den Preis „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ nominierten Titel des Jahres 2023 zählt, ist kein Wunder.

Ebenso wie die Entdeckungsgeschichte des Buchs macht auch die Lektüre von Leonard und Paul selbst viel Freude, lässt an das Gute im Menschen glauben, unterhält vorzüglich und leistet Ablenkung in Zeiten, in denen der Blick auf die Nachrichtenlage wenig Grund für Hoffnung stiftet. Insofern ein wunderbares Buch für alle, denen der Sinn nach einer „schönen“ und erbauenden Geschichte steht, nicht nur in diesen dunklen Wintertagen.


  • Rónán Hession – Leonard und Paul
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • Artikelnummer 17491X (Büchergilde Gutenberg)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Zu Gast im kleinsten Staat des Königreichs. Inger-Maria Mahlke lässt in ihrem Roman Unsereins die Kaiserzeit um die Jahrhundertwende im kleinen Stadtstaat Lübeck wieder auferstehen, „der Pfau“ alias Tomy Mann inklusive. Leider gerät das Ganze dabei etwas zu arg hanseatisch-trocken.


Schon der Blick in das vorangesetzte Personenverzeichnis des neuen Romans von Inger-Maria Mahlke macht klar, dass hier mit großem Besteck operiert wird. So führt das Verzeichnis allein acht Kinder des im Mittelpunkt stehenden Senators Friedrich Lindhorst auf. Daneben Hausmädchen, Ratsdiener, Lohndiener, Senatoren, Wasserbaudirektoren und dergleichen mehr. Sie alle bewohnen den „Kleinsten Staat“ des Kaiserreichs, der eigentlich gar nicht der kleinste ist, zieht man in Bezug auf die Fläche Bremen oder in Bezug auf die Einwohnerzahl den noch kleineren Staat Köstritz heran. Aber wie es so ist mit der Fassade dort im vom Großbürgertum dominierten Stadtstaat – man möchte etwas sein, und so wird man eben kurzerhand zum kleinsten Staat, um mit irgendetwas herausstechen zu können.

Generell geht es viel um das Sein und Nicht-Sein in Unsereins. Denn Inger-Maria Mahlke beschreibt den Zustand der Entropie, der im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur das Kaiserreich, sondern eben auch den Stadtstaat und im Innersten auch die Familie Friedrich Lindhorsts erfasst.

Geschichten aus dem kleinsten Staat des Kaiserreichs

Inger-Maria Mahlke - Unsereins (Cover)

Während im Stadtstaat der Sozialdemokrat Theodor Schwartz der elitenzentrierten Politik der alteingesessenen Senatoren und Konsuln entgegenwirkt und sich um den einzigen Platz als Abgeordneter des Stadtstaates bewirbt, geht es auch in der Familie Lindhorst hoch her. Zwischen Ausbildung, Verlobung, Schule, Erwartungen der Eltern, Yokohama, London und Bad Kissing treibt die ganze Familie Lindhorst auseinander. Der finanzielle Status verschlechtert sich zunehmend, man muss Immobilien beleihen, der nach London entsandte Sohn Cord düpiert mit seinen Spekulationen nicht nur die Firma, sondern die eigene Familie. Auflösungserscheinungen aller Orten, den althergebrachte Ständeordnung gerät durcheinander – und nicht einmal ein Kaiserbesuch im kleinsten Staat des Landes kann da etwas retten.

Um diese vielköpfige Familie Lindhorst herum gruppiert Inger-Maria Mahlke weitere Figuren, die den Stadtstaat bevölkern und deren Schicksal immer mal wieder angerissen wird. So verliebt sich der Ratsdiener Isenhagen in seine Nachbarin, deren Pelargonium triste zunächst seine Aufmerksamkeit und sie wenig später sein Herz gewinnt. Homosexuelle und damit verbotene Avancen, geheime Fechtclubs in der Schule, deren Ursprung der der Schüler Georg Presswitz in seinem Geheimversteck auf der Primanertoilette ergründen will – und dann auch noch Presswitz‘ Mitschüler, der „Pfau“ geheißene Mitschüler Tomy mit schriftstellerischen Ambitionen und Sohn der Senatorenwitwe Mann, die bald aus Lübeck nach München ziehen wird.

Leider viel Langeweile

Viele Figuren und Erzählstränge für einen Roman – der dabei doch erstaunlich langweilig ist, um dieses wenig analysescharfe und recht undifferenzierte Erkenntnis gleich vornewegzusetzen. Das hat aber auch seine Gründe.

Wie schon in ihrem rückwärts erzählten Familienroman Archipel, für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, handelt auch Unsereins wieder von den Umbrüchen in Ländern und Leben, erzählt vom Verfall und dem Niedergang des familiären Status einer großbürgerlichen Familie (hier aber eben im Stadtstaat Lübeck statt auf der Insel Teneriffa).

Nur ist in dieser neuen Geschichte Mahlkes nicht nur der Pelargonium trist – auch ihr Erzählen schleppt sich über die Jahre nur voran, statt eine Bindung zum Leser (zumindest in meinem Falle) aufzubauen. Dabei wäre der sich abzeichnenden Abstieg der Senatorenfamilie Lindhorst ja durchaus ein valider Grunde, die Leserschaft mitfiebern zu lassen, ob die Sanierung der Senatorenfamilie noch gelingen kann. Daraus wird aber nichts.

Die Jahre schreiten ins Land, die Schauplätze wechseln – trotz aller äußeren Bewegung fehlt allerdings die innere Bewegung. Die Familie verfällt, während man sich gegenseitig über die wahren Seelen- und Kontozustände täuscht. Man bleibt als unbeteiligter Beobachter dabei außen vor, stellt sich Fragen über den Verbleib mancher Figuren, die für Jahre und damit dutzende von Seiten aus der Geschichte fallen, ehe ihr weiteres Schicksal kurz wieder angeschnitten oder indirekt weitererzählt wird.

Das übergroße Personaltableau erweist sich als zentraler Mühlstein des Erzählens. Nicht einmal Schauplätze wie Kobe und Yokohama in der zweiten Hälfte des Romans können darüber hinwegtäuschen, dass das Buch erzählerisch stagniert und trotz aller Raffinesse der erzählerischen Mittel, die Inger-Maria Mahlke zweifelsohne zur Verfügung stehen, nicht vom Fleck kommt.

Das ist besonders schade, da diese Personenfülle auch das lobenswerte erzählerische Vorhaben zu erdrücken droht.

Ein Gegenentwurf zu den Buddenbrooks

Inger-Maria Mahlke positioniert sich mit ihrem Roman als Gegenentwurf zu Tomy alias Thomas Manns Debüt Buddenbrooks, in dessen Lübecker Bürgertumsporträt für Frauen und Dienerinnen allenfalls ein Platz am erzählerischen Seitenrand war. Was als Vorhaben in Teilen funktioniert, trägt leider aber nicht über die Länge des Buchs. Denn um eine Bindung beispielsweise zum Schicksal des Dienstmädchens Ida aufzubauen, müsste das Erzählen stärker auf sie fokussiert sein, anstatt immer wieder zu anderen Figuren und neuen Handlungssträngen abzuschweifen, ehe sich die Autorin wieder ihrer besinnt.

Dort wo die Gebrüder Mann einst die Kaiserzeit Form ihrer Romane Der Untertan und Buddenbrooks in staunenswerte Literatur gossen, bleibt hier alles leider nur Staffage und Kulisse, in der kein lebendiges Schauspiel stattfindet, trotz des unbestreitbaren Talents Inger-Maria Mahlke. Die Erzählung verharrt, das Personal bleibt (zumindest mir als Leser) fern und echten Drive entfaltet Unsereins leider auch nicht. Insofern bleibe ich etwas enttäuscht zurück, obschon ich mich wirklich auf den Roman gefreut hatte.


  • Inger-Maria Mahlke – Unsereins
  • ISBN: 978-3-498-00181-0 (Rowohlt)
  • 495 Seiten. Preis: 26,00 €
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Bibliotheken im Kreuzfeuer

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas – Do Not Go Gentle into That Good Night

Diese bekannten Zeilen aus Dylan Thomas‘ Gedicht sollen am Anfang dieses Textes stehen, der zugleich einer der letzten diesen Jahres ist. Denn wie es sich am Ende eines Jahres gehört, geziemt sich ein Rückblick auf das vergangene Jahr auch aus berufsfachlichem Winkel. Allzu verklärend und weihnachtsmilde soll dieser allerdings nicht ausfallen, sondern in Verwandtschaft zu jenen 1951 erstmals publizierten Zeilen Dylan Thomas‘ stehen, deren unversöhnlichen und kämpferischen Impetus ich auch gerne auf Bibliotheken übertragen möchte.

Denn obwohl man meinen könnte, dass es den Bibliotheken gut geht und angesichts wenig in der Öffentlichkeit vernehmbarer Klagen alles in bester Ordnung ist, markiert 2023 in meinen Augen auch eine Zäsur in Sachen Gefährdung von Bibliotheken, Wissen und damit letzten Endes auch unserer Gesellschaft.

Zensur allenorten?

Der Kernvorwurf, der Bibliotheken seit dem Erstarken rechter Kräfte immer deutlicher gemacht wird, ist der der Zensur. Alles ist heute irgendwie Zensur. Entscheidet sich beispielsweise die Stadtbücherei Augsburg, nach einem gemeinsamen Arbeitsprojekt mit Studierenden der lokalen Fachhochschule, dokumentationsbegleitend zum Forschungsprojekts rassismussensible Sticker auf der Rückseite mancher Kinderbücher anzubringen, um diese Werke zu kontextualisieren, lautet der in Leserbriefen und Zuschriften vorgebrachte Vorwurf Zensur.

Dass keine Bücher aus dem Bestand entnommen, sondern auf peripherer Stelle lediglich mit weiterführenden Informationen versehen wurden, die aus heutiger Sicht problematische Aspekte des Buchs in den Blick nehmen und Vorleser*innen Ratschläge an die Hand geben, das fiel in den meisten Zuschriften unter den Tisch. Dass eine wissenschaftliche Einordnung und Ergänzung wohl das Gegenteil von Zensur darstellt, geriet nicht nur hier völlig aus dem Blick.

Entscheidet sich ein Verlag (in England wohlgemerkt!), Neuausgaben von Roald Dahls Werken um in Augen der Verantwortlichen problematische Begriffe zu glätten und heutigen Gegebenheiten anzupassen, dann ist das Zensur, wenn man vielen Meinungsäußerungen in den Feuilletons oder Online-Kommentaren Glauben schenken darf.

Dass man über solche Beispiele und Eingriffe in Werke oder Kontextualisierungen trefflich streiten kann, das ist völlig unbenommen (auch ich sehe manche Auswüchse mehr als kritisch, das sei an dieser Stelle angemerkt).

Der beliebige Vorwurf der Zensur

Dass es sich bei den erwähnten Beispielen um einen Fall von Zensur handelt, ist aber völlig unzutreffend. Das zeigt schon ein Blick in die Begriffsdefinition, die der Duden wie folgt liefert:

Zensur, die: von zuständiger, besonders staatlicher Stelle vorgenommene Kontrolle, Überprüfung von Briefen, Druckwerken, Filmen o. Ä., besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität

Begriffsdefinition des Duden zum Thema „Zensur“

Dieser von überwiegend rechten Kräften eingebrachte Vorwurf einer Kontrolle von Druckerzeugnissen hinsichtlich einer wie auch immer gearteten Konformität ist falsch. Eine staatliche Stelle, die von oben herab die Medienwelt diktiert und Vorgaben hinsichtlich zu verbreitender und nicht zu verbreitender Bücher macht, es gibt sie hierzulande nicht. Bibliotheken bieten im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung freien Zugang zu Wissen und Information – und wenn sich ein privatwirtschaftlicher Verlag zu Eingriffen in bei ihm publizierten Werken entscheidet, dann mag das je nach Lesart eine Anpassung an den Zeitgeist oder fortschrittliches Denken sein – nur eines nicht: Zensur oder Ausdruck einer ominösen „Cancel Culture“.

Der geradezu inflationäre Gebrauch des Vorwurfs der Zensur sorgt für eine Schleifung des eigentlich so konkreten Begriffs, der duch die Unschärfe bei der Begriffsverwendung des Wortes immer beliebiger und unkonkreter werden lässt.

Dabei gäbe es doch jeden Anlass zu Sorge angesichts Zensur und Bibliotheken. Nur findet diese Zensur nicht auf der oft inkriminierten „linken“, zeitgeistig und „woken“ Seite statt, sondern tatsächlich an jenem rechten Rand, von dem der Vorwurf so oft geäußert wird. Auch liegt der Schauplatz nicht in Europa, sondern befindet sich auf der anderen Seite des Atlantiks in Amerika, dem selbsterklärten „Land of the free“.

Book bans im „Land of the free“

So frei ist die Bibliothekswelt dort im „Land of the free“ allerdings nicht mehr, besonders wenn man in den von Gouverneur Ron deSantis regierten Bundeststaat Florida blickt. Dort sind mittlerweile sogenannte „Book Bans“ von staatlicher Stelle an der Tagesordnung und damit ein tatsächlicher und konkreter Fall von – Zensur.

Eingebettet in größere Agenda der orchestrierten Rückschrittlichkeit sind es etwa neben dem Feld des weiblichen Körpers in Form von Abtreibungsverboten auch die Bibliotheken als Hort der Aufklärung und des Erkenntnisgewinns, die in den Fokus der republikanischen Hardliner geraten sind.

So erließ Floridas Gouverneur jüngst ein sogenanntes „Stop-Woke“-Gesetz, das nach Ansicht der Gesetzgeber der Indoktrination von Kindern entgegenwirken soll und das die legislative Grundlage für Buchbann und Zensur liefert. Durch dieses Gesetz ist es möglich, missliebige und dem eigenen Weltbild widersprechende Titel zu melden und für die Entfernung aus (Schul)Bibliotheken vorzuschlagen.

Eine Möglichkeit, von der immer stärker Gebrauch gemacht wird und die nicht nur in Florida, sondern auch beispielsweise im Staat Idaho auch kuriose, vor allem aber sehr bedenkliche Blüten treibt. So scheiterte ein von der republikanischen Partei eingebrachtes Vorhaben dort nur knapp, das bibliothekarisches Personal haftbar gemacht hätte, wenn den Beschwerden von Kund*innenseite aus nicht nachgegangen worden wäre.

Steigende Zahlen von Zensuranträgen

Ein bedenklicher Trend, der sich auch mit Zahlen untermauern lässt. So belief sich die Zahl zur Löschung angemahnter Bücher laut Zählung der American Library Association (ALA) im Jahr 2021 auf 330 Löschanträge, die überwiegend von Elternseite aus eingebracht wurden (und deren Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte, da viele der Löschanträge gar nicht erfasst wurden).

Im vergangenen Jahr betrug die Zahl von Zensuranträgen bereits 1269, die sich insgesamt auf 2571 Titel erstreckten, Tendenz steigend. Das lässt für das Jahr 2023 wenig Gutes hoffen, ebenso wie die Tatsache, dass es für Politiker*innen bereits als Wahlkampfmittel opportun zu sein scheint, ganz offensiv mit der möglichen Schließung von unbliebsame Bibliotheken im Falle eines politischen Erfolgs zu drohen.

Im Fadenkreuz der Bücherkämpfer (die wohl selbst eine kleine Minderheit darstellen, aber im lautstarken Verbund eine erschreckend effiziente Einheit bilden) stehen überwiegend Bücher aus dem LGBTQ-Spektrum, die der gewünschten heteronormativen Norm und Form zuwiderlaufen. Aber auch Wissenschaft beispielsweise in Form der Evolutionslehre oder Schwarzer Geschichte hat es zunehmend schwerer in den Buchregalen des Landes.

Das sorgt mittlerweile für solche bedenklichen Auswüchse, dass sogar das eigentlich einheitsstiftende Poem The hill we climb der im Zuge der Inauguration Joe Bidens zu Bekanntheit gelangten Dichterin Amanda Gorman in Florida zur Zensur vorgeschlagen wurde. Der Vorwurf: Rassismus.

Studierende in den USA demonstrieren gegen Book bans an Bibliotheken.
Protest gegen Buchbann in den USA

Kann man über solch absurde Vorwürfe wie auch die Uninformiertheit der Möchtegern-Zensoren lachen (die den Gedichtband in ihrem Beschwerdeantrag kurzerhand der schwarzen Talkmasterin Oprah Winfrey anstelle von Amanda Gorman zuschrieben), so vergeht einem doch das Lachen, wenn man sieht, dass derartige Anträge Erfolg haben und Gormans Buch aus vielen Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt wurde.

Importierte Kulturkämpfe

Nun sind die USA bekanntermaßen natürlich nicht Deutschland. Angesichts der Begeisterung vieler politischer Akteure, US-amerikanische Kulturkämpfe auch hierzulande zu importieren und etablieren, kann ich aber nur davor warnen, sich auf diesen Kampf gegen die freiheitlich-demokratisch-fortschrittliche Gesinnung von Bibliotheken einzulassen.

Erste warnende Beispiele gab es in diesem Jahr ja bereits etwa mit der im Juni geplanten Kinderbuchlesung mit Drag-Künstler*innen, die die Münchner Stadtbibliothek anbot. Wenig war da von der liberalitas bavariae zu spüren, sondern nur ein erhitztes Debattenklima, das sich in einem veritablen Sturm der Entrüstung, Demonstrationen und Drohungen gegenüber der Bibliothek äußerte.

Man kann nur hoffen, dass diese mit viel medialem Getöse begleitete Kampagne gegen Bibliotheken und ihr Eintreten für eine offene und pluralistische Gesellschaft eine negative Ausnahme war, die sich so schnell nicht mehr wiederholt. Ein Blick nach Amerika straft diese Hoffnungen allerdings Lügen. Was bleibt also, wenn wir auf das kommende Jahr blicken?

Gehen wir nicht versöhnt in die Nacht und den Beginn des kommenden Jahres, ganz wie Dylan Thomas es fordert. Kämpfen wir gegen die mögliche Verdunklung einer aufgeklärten Welt. Bleiben wir wachsam, stärken Bibliotheken mit einem Eintreten für ihre informatorische Arbeit und wehren aller Anfänge, ihre Arbeit und das dahinterstehende Weltbild einer offenen Gesellschaft infrage zu stellen. Beziehen wir Position, hinterfragen wir plumpe Zensur-Vorwürfe, stellen Meinungen Fakten entgegen und sorgen für eine Versachlichung der Debatten und leisten damit auch öffentlich das, wofür Bibliotheken seit jeher eintreten. Die Gesellschaft braucht es dringender denn je!


[Disclaimer: die im Artikel zum Ausdruck kommende Meinung ist meine Privatmeinung, die in keinerlei Zusammenhang mit meiner beruflichen Arbeit steht.]

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