Monthly Archives: September 2024

Tony Burgess – Idaho Winter

Wer bislang gezögert hat, LSD auszuprobieren, für den gibt es nun gute Nachrichten. Denn wer Idaho Winter des US-amerikanischen Autors Tony Burgess liest, der braucht keine Drogen, um einen halluzinogenen Rausch zu erleben. Die Lektüre dieses Romans reicht vollkommen aus, um einem Fiebertraum irgendwo zwischen postmodernen Erzähltheater und absurdem Drogentrip beizuwohnen.


Schon die ersten Seiten lassen einen leichten Zweifel am dort zu Erlebendem aufkommen. Eine nicht näher benannte Kleinstadt wird da inszeniert. Es ist eine Kleinstadt, in der sich alle gegen den Jungen Idaho Winter verschworen haben. Reell scheint durch die überzeichneten Grausamkeiten schon hier nichts. Denn nicht genug, dass der Vater den Jungen zwingt, zum Frühstück einen toten Waschbären zu verspeisen und sich mit dessen Schwanz die Zähne zu putzen. Die Schulweghelferin wartet gezielt auf Idaho, um diesen vor die vorbeikommenden Autos zu stoßen – und als das keinen Erfolg zeitigt, steuert sie kurzerhand selbst einen LKW, um Idaho zu überfahren.

In dieser wunderbaren alten Stadt, in der Kinder in selbstgebauten Seifenkisten die sanften Hänge sicherer Straßen hinabsausen und lächelnde Großmütter auf den Fensterbänken ihre Kuchen abkühlen lassen, wird einem Jungen so viel Böses gewünscht – und zwar von allen und jedem – dass eine vollkommene Harmonie finsterer Abneigung entsteht.

Tony Burgess – Idaho Winter, S. 33 f.

Kleinstadtbewohner züchten gezielt Hunde, die Idaho zerfleischen sollen, der Schulhausmeister bewahrt extra zwei Beile in seiner Besenkammer auf, um Idaho damit zu zerstückeln. Polizisten, Klassenlehrerin, sie alle scheinen im Sadismus vereint und wollen Idaho mindestens quälen, am besten töten.

Die Jagd auf Idaho Winter

Tony Burgess - Idaho Winter (Cover)

Schon hier scheinen Zweifel auf, schließlich fallen diese ersten Seiten des Romans insbesondere durch ihre Überzeichnung auf. Der märchenhaft-cartooneske Ton des Erzählens enthebt Idaho Winter schon hier eigentlich jeglichen Realismus´, schließlich nähme man nicht einmal einem besonders düsteren Noir eine solche Überdrehtheit ab.

Dies folgenden Seiten lösen dann diese auf den initialen Seiten angedeutete Überdrehtheit vollkommen ein. Denn der Erzähler, der sich zunächst nur dezent aus dem Hintergrund in die Erzählung eingemischt hat, fällt plötzlich aus der Geschichte und sieht sich selber den Gefahren jenes Kosmos ausgesetzt, den er zuvor Idaho zugemutet hatte.

Es ist ein Kosmos, der einem Fiebertraum gleicht. Zitiert der Klappentext des im Wagenbach-Verlag erschienenen Buchs Roald Dahl und Lewis Carroll, so ist das durchaus zutreffend. Denn ähnlich wie bei den beiden britischen Autoren reizt auch Anthony Burgess die Fantasie und Kreativität in Sachen skurrilem Worldbuilding ganz aus.

Ein Erzähler im erzählerischen Taumel

So bekommt es der Erzähler, nun selbst zu einer Figur in diesem Erzähltheater geworden, mit Dinosauriern in der Form von Velociraptoren zu tun. Seltsame Fabelwesen, Mombats genannt, chimärenähnliche Mutter-Fledermäuse, flattern umher, Flüsse voller Blutegel und anderer Gefahren gilt es zu durchqueren.

Es tauchen Figuren der bisherigen Geschichte auf, darunter auch die sadistische Klassenlehrerin oder das Mädchen Madison, das Sympathie für Idaho hegte und nun als Figur wiederkehrt, die in einem Bett schläft und der man sich nicht ganz nähern kann, ohne von abgrundtiefer Trauer erfasst zu werden. Zu allem Überfluss gesellen sich dann auch noch die Mitglieder der Band Greenday zum Gestaltenensemble, die hier ebenfalls ein Eigenleben führen. Der Erzähler durchwandert skurrile Welten, die wiederum von der Vorstellungswelt Idahos beeinflusst scheinen.

Alles gleicht einem Albtraum wie ihn Idaho auf den ersten Seiten des Buchs selbst durchleben musste. Ist es nun eine Rache oder ein Traum im Traum, der den Erzähler peinigt? Da hilft es alles nichts, wenn er uns als Lesende an einigen Stellen im Buch auffordert, die Lektüre abzubrechen oder zu anderen Seiten weiterzuspringen – gemeinsam ist man in dieser Welt gefangen und erlebt auf gut 130 Seiten einen wilden Rausch, der die Einnahme von LSD oder anderen halluzinogenen Substanzen mühelos ersetzt.

Fazit

Es ist ein wildes Erzähltheater, auf das man sich wirklich einlassen muss und das sicherlich nicht jedermanns Sache ist. Dem Realismus verhaftete Leser*innen dürften an Idaho Winter sicherlich nur wenig Freude finden. Allzu abgedreht und überbordend sind diese Welten, die Tony Burgess hier entwirft und durch die er seine Figuren jagt.

Wer Freude an postmodernem Erzählen hat, wie es beispielsweise Matthias Senkel in seinem Roman Dunkle Zahlen oder Petra Piuk und Barbara Filips in ihrem Vegas-Trip Wenn Rot kommt dargeboten haben, der dürfte auch mit Idaho Winter seinen Spaß haben. Günstiger und risikoärmer kommt man der Erfahrung eines halluzinogenen Trips nicht näher!


  • Tony Burgess – Idaho Winter
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-8031-3370-0 (Wagenbach)
  • 144 Seiten. Preis: 18,00 €
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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Was ist nicht schon alles über die Ewige Stadt geschrieben worden. Als Ziel der Grand Tour, Magnet für Touristen, Bildungsreisende und Künstler*innen seit jeher ist eine schon eine unmöglich zu überblickende Fülle an Büchern über die italienische Hauptstadt geschrieben worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch über die Faszination Rom? Unbedingt, wenn der Verfasser des Ganzen Golo Maurer heißt.

Denn er legt mit Rom – Stadt fürs Leben einen persönlichen Blick auf jene Stadt vor, die ihn ebenso begeistert, wie sie ihn mit ihren Eigenheiten manchmal schier den Verstand zu kosten scheint. Aber selbst alle Verzweiflung ist hier doch auch nur eine etwas geartete Form von Rom-Liebe, an der er seine Leserinnen und Lesers enorm vergnüglich und sprachlich burlesk teilhaben lässt und mit der er auf den Spuren von Ferdinand Gregorovius wandelt.


Strenggenommen ist ja schon eigentlich fast alles über die Stadt am Tiber geschrieben worden, mit ihren Nebeneinander von Kirchen, Kunstwerken, dolce vita und sprezzatura. Alleine in diesem Herbst erscheinen dutzende Publikationen, die sich – besonders bedingt durch den Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse – mit dem Zauber Roms befassen. Auch Golo Maurer fügt sich in diese Riege an Titeln ein, ragt aber zugleich mit seinem persönlichen Blick auf die Stadt aus dieser Riege heraus.

Denn ihm gelingt mit Rom – Stadt fürs Leben eine großartige Einführung in das, was es heißt, Römer zu sein in einer Stadt, die mit ihren Eigenheiten von Zeit zu Zeit herausfordert, verzweifeln lässt, aber am Ende immer beglückt. Kundig und mit einem bewundernswerten Sinn für Sprache, Timing und Übertreibung lässt er uns alle an diesen Emotionen teilhaben, die die Ewige Stadt hervorzurufen im Stande ist.

Parolacce, ÖPNV und Marmortische

Golo Maurer - Rom - Stadt fürs Leben (Cover)

Dabei lässt Maurer bei seinem persönlichen Blick so gut wie nichts aus. Einführung ins Parolacce, den Gebrauch von Schimpfwörtern, über die Tücken des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt bis hin zum Lebensgenuss, reichend vom Zauber der Marmortische in Trattorien bis hin zum Barbier.

Acht Kapitel nebst Vor- und Nachrede bilden den Korpus dieses Buchs, das beginnend mit dem Historie Roms und ihren Hügeln über Themen wie die römische Politik bis hin zu den „Römischen Idyllen“ führt. Darin beschreibt Maurer seinen eigenen Blick auf das Leben in Rom in einem sprachlich höchst eleganten und mit Humor punktenden Erzählstil.

Mal ist es die Verzweiflung, wenn der Bus Assoziationen zu Herman Melvilles Moby Dick weckt, gleicht schließlich das Ausharren nach dem legendären Wal an Bord der Pequod dem Warten auf der Haltestelle, wenn sich keine Sichtung des begehrten Fahrzeugs einstellen mag. Mal lässt er sich über die unerschütterliche Liebe der Italiener zum Plastik und dessen Nicht-Entsorgung aus. Sein Groll über das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen, sondern ebendiese gleich in Plastik eingestretcht werden, ist nicht nur durch den Blick des Deutschen auf die Eigenheiten der Römer höchst komisch.

Abrechnung und Hommage

Rom – Stadt fürs Leben ist so nicht nur eine Abrechnung und Hommage an das Leben in der Ewigen Stadt, es ist auch ein schönes Mittel, sollte man von einem akuten Anfall von Sehnsucht auf das Dolce Vita in der italienischen Hauptstadt heimgesucht werden. Man schlendert mit dem Autor durch die Trattorien oder wird bei einer wagemutigen Wanderung von Rom nach Neapel (die in Ton und Gestus an die großen Abenteuer der Grand Tour vergangener Zeiten gemahnt) sogar gefährlichen Raubtieren ansichtig.

Liest man Maurers Buch, mag man zwar von manchen Aspekten des Lebens dort auf den Hügeln Roms abgeschreckt sein – umso größer ist aber die Begeisterung für die Stadt, hat man dieses Buch beendet. Es weckt Sehnsucht und zeigt uns Deutschen auf, wie es gehen kann, mit der Kunst des schönen Lebens.

Unterhaltsam, sprachlich elegant, hochkomisch, ehrlich sind die Betrachtungen von Leben und Leben Lassen, vom Wandel in der Stadt und der Faszination für sie, die sich doch seit jeher erhalten hat und dies gewiss noch lange tun wird. Nicht nur im Zuge des Gastlandauftritts als Einführung in das römische Leben dieses modernen Gregorovius ist dieses Buch höchst lesenswert!


  • Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
  • ISBN 978-3-498-00380-7 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Mithu Sanyal – Antichristie

Zwischen Statuensturz und Hercule Poirot, Locked Room Mystery und Kolonialismuskritik, Doctor Who und Mahatma Gandhi. In Antichristie lässt Mithu Sanyal ihre Heldin zwischen Geschlechtern und Zeitebenen hin- und herwechseln und erzeugt damit neben einem kolonialismuskritischen Blick auf das britische Empire auch großes erzählerisches Chaos, das herausfordert.


Zwölf Tage sind es, die die Handlung von Antichristie gliedern. Zwölf Tage, die für die 12 D-Days, also Tage nach dem Tod von Queen Elizabeth II. stehen. Sie geben dem Roman Struktur, die dringend notwendig ist, bietet doch der Inhalt der Kapitel jede Menge Konfusion, Zitatgewitter, postkoloniale Thesen und Auseinandersetzungen, Nerdtum und Zeitreisen.

Die Queen ist tot, ebenso wie Lila, die Mutter von Durga Chatterjee. Kaum ist die Asche ihrer Mutter verstreut, fliegt Durga in das von der kollektiven Trauer um die Queen als Verkörperung des britischen Empires erfasste London. Dort soll sie als Teil eines Writers Room für eine Neuinterpretation von Agatha Christies ikonischem Detektiv Poirot sorgen. Die Gruppe versammelt sich im Florin Court, um dort im Kollektiv eine frische Version des belgischen Ermittlers fürs Fernsehen zu kreieren. Ausdrücklich soll Poirot dekolonisiert werden, eventuell als Schwarzer in Erscheinung treten.

Die Dekolonisierung des Hercule Poirot

Mithu Sanyal - Antichristie (Cover)

Ein Affront gegen die geschundene britische Seele, die schon mit der Trauer um ihre Queen befasst ist, und jetzt auch noch ein solches Vergehen am Werk der Queen of Crime ertragen muss. Während die Proteste um das Vorhaben anheben, erlebt Durga, die mit einem Zweiteiler der britischen Kultserie Doctor Who schon Erfahrungen in Sachen Drehbuchschreiben und erzählerischer Zeitreisen sammeln konnte, plötzlich selbst eine solche Zeitreise. Diese transferiert sie ins Edwardianische London zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort bekommt sie es mit einem aus dem Ruhestand zurückgekehrten Sherlock Holmes, vor allem aber mit den kolonialen Verbrechen der Engländer zu tun.

Denn nicht genug damit, dass Durga plötzlich in eine andere Zeit gewechselt ist. Auch ihr Geschlecht hat sich geändert. Plötzlich findet sie sich im Körper des Inders Janeev wieder, der Zugang zum Zirkel des India House in London erhält. Das, was für die Engländer schlicht eine Pension für indische Studenten ist, ist in Wahrheit doch viel komplexer. Fünfundzwanzig Räume, eine Bibliothek und vor allem viel Disput und Debatten kennzeichnen das Haus, in dem sich exilierte Inder*innen versammeln, die die Folgen des Kolonialismus am eigenen Leib erfahren haben. Allen voran Veer Savarkar ist ein intellektueller Impulsgeber dieses diskussionsfreudigen Hauses, den Durga nun selbst kennenlernt.

Zeitreise ins India House

War Sarvarkar zunächst vor allem in der Darstellung von Durgas Mutter Lila das Gehirn hinter dem Mord an Mahatma Gandhi, gewinnt Durga alias Janeev bei ihrer Zeitreise nun erheblich komplexere Einblicke in das Denken dieses Mannes und der Seelenlage der Inder*innen, die das Joch der britischen Fremdregierung jeden Tag spüren und sich erst Jahrzehnte später von der Herrschaft Englands freimachen konnten.

„So gut wie ihr Hegel?“, fragte Savarkar und stieß mich an.

„Mein was?“ sagte ich überrascht, doch er hatte natürlich nicht mit mir gesprochen.

„Ein deutscher Philosoph“, antwortete Sherlock, als hätte er den Unterton in Savarkars Stimme nicht gehört.

„Ein Rechtsphilosoph“, spezifizierte Savarkar, „der Kolonialismus als Lösung für das Problem der Armut in … unseren Ländern gerechtfertigt findet. Dabei sind wir nur arm, weil ihr Engländer unseren Reichtum abschöpft wie Sahne von der Milch, bevor ihr dann auch noch die Milch trinkt und den Krug stehlt.“

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 380

Debatten über Debatten

Es wird viel debattiert in Sanyals Buch. Sherlock Holmes debattiert da mit Veer Savarkar, Durga diskutiert im Writers Room mit ihren Mitstreiter*innen über die Neuanlage Hercule Poirots, De-Kolonisierung und Auswirkungen des Kolonialismus werden ausführlich beleuchtet. Immer wieder fliegen Durga Gedanken zu, gewinnt sie durch ihr Wissen aus der Jetztzeit neue Perspektiven auf die Vergangenheit und anders herum. Das könnte sehr erhellend sein, wenn Mithu Sanyal wie schon in ihrem Debütroman Identitti nicht die Hektik zum durchgängigen Stilmittel erhoben hätte.

„Marx? Marx? Wo habe ich den Namen schon einmal gehört?“, murmelte Savarkar und einen Moment war es, als wäre ich an Erinnerungen angeschlossen, die ich nie gehabt hatte, und ich WUSSTE, dass Karl Marx´ Enkel Jean Longuet Savarkar in wenigen Jahren vor dem Internationalen Gerichtshof verteidigen würde, um zu verhindern, dass er nach Kala Pani geschickt wurde. So musste sich das Internet fühlen, wenn es fühlen könnte. Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 168

Hektik als erzählerisches Mittel der Wahl

Schon der Beginn lässt den Leser und die Leserin verwirrt zurück. Der Trauerfall, der Writers Room, die plötzliche Zeitreise, die von und hin und her schwirrenden Dialogen und Fetzen solcher Dialoge begleitet werden. Es braucht gute Nerven und Motivation, bei diesem erzählerischen Dauerfeuer und „Abnerden“, wie es die Autor*innen im Raum selbst einmal bezeichnen, am erzählerischen Ball zu bleiben, wird dieses Zitat- und Theoriefeuer im Lauf des Buchs doch nicht eingestellt, sondern eher im Gegenteil erhöht.

Von dem Motiv der Zeitreise bis zur Faszination des Krimis, der in diesen Roman in Form eines klassischen Locked Room Mystery einfließt (das Rätsel eines Verbrechens in einem von innen verschlossenen Raum, der sich vor allen in den Kriminalromanen des sogenannten Goldenen Zeitalters von S. S. van Dine bis hin zu John Dickson Carr größter Beliebtheit erfreute), von Hegel bis zu Herbert Spencer bis zu Mahatma Gandhi reicht das intellektuelle Gewitter, das Mithu Sanyal hier entfesselt. Immer wieder überlagern sich die Zeitebenen von Gegenwart und Vergangenheit, kommt es zu Interferenzen zwischen den beiden Welten und beiden Durgas.

Mitunter verliert mich Mithu Sanyal dabei, insbesondere wenn Debatten in Dialogform über Seiten geführt werden oder die berechtigten Anliegen und Denkanstöße von Antichristie in ein Passagen wie der folgenden fast ins Parodistische kippen, wenn Durga als Erzählerin ihr Problembewusstsein allzu ostentativ ausstellt:

Als wäre alles noch nicht schlimm genug, kam Savarkar als Nächstes auf die Idee, eine Delegation von India House nach Marokko zu schicken, um im Rifkrieg an der Seite der aufständischen Amazigh, die damals noch [Triggerwarnung] Berber genannt wurden, gegen die spanischen Besatzer zu kämpfen. Erst als ich das N-Wort und das Z-Wort schon jahrelang nicht mehr verwendete, lernte ich, dass das B-Wort ebenfalls eine rassistische Erniedrigung darstellte, so wie Barbaren, weil es -wörtlich – Barbaren bedeutete. Die Idee hinter dieser Delegation war, einem Schwester-, nein, Brudervolk gegen eine Kolonialmacht beizustehen und dabei ganz nebenbei Militärerfahrung zu sammeln.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 350

Antikolonial, antirassistisch und problembewusst

Manchmal macht es Antichristie seinen Gegnern hier zu leicht, die das Werk als eines zu schmähen, das vor lauter „Wokeness“ seine eigentliche Handlung vergisst. Alles hier ist antikolonial, antirassistisches und problembewusst. Dagegen kann man ja eigentlich kaum etwas einwenden. Nur hätte ich gerne etwas mehr erzählerische Ruhe, klareren Fokus und eine literarischere Gestaltung denn den Ton eines erklär- und dozierfreudigen Sachbuchs, der viele Passagen und die geradezu inkommensurablen Debatten von Antichristie durchzieht.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Mithu Sanyals Roman ein erzählerisches Werk, das die Synapsen glühen lässt, das herausfordert, überfordert, mitnimmt ins vergangene London und einen auch manches Mal zurücklässt. Anspielungsreich, theoriegesättigt, aufklärerisch, mit Freude am Spiel und Rätsel ist Antichristie ein anderer Blick auf das vermeintlich so knuffige England und die indische Geschichte.


  • Mithu Sanyal – Antichristie
  • ISBN 978-3-446-28076-2 (Hanser)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €
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Gary Phillips – One-Shot Harry

Vor dem Hintergrund eines Besuchs von Martin Luther King im vom Rassismus geprägten Los Angeles des Jahres 1963 erzählt Gary Phillips von seinem rasenden Reporter Harry Ingram, der nicht nur als Reporter bei geschehenem Unrecht ganz genau hinsieht und der als One-Shot Harry tief in den Kosmos der Stadt eintaucht.


Mit One-Shot Harry hat Gary Phillips einen Kriminalroman der Sorte verfasst, der neben seinen Figuren auch den Handlungsort als ebenbürtigen Spielpartner der Handlung begreift. Im Falle von Phillips heißt dieser Partner Los Angeles im Jahre 1963. Besonders gut gelingt es dem US-amerikanischen Autoren, die Vielgestaltigkeit der Stadt einzufangen, indem er seinem Helden Harry einen Job zuweist, der ihn in fast alle Ecken der Stadt bringt, nämlich einen Job als Reporter.

Als wäre das nicht genug, arbeitet Harry Ingram zusätzlich auch als Zusteller von juristischen Dokumenten und Bescheiden. Eigentlich erreicht er damit qua Job eine optimale Abdeckung der Stadt und ihrer Bewohner*innen. Und doch bleibt sein Zugang zur Stadt ein limitierter – denn Harry ist Schwarz. Damit bleiben viele Türen für den Reporter verschlossen, der sich zudem noch immer dem Rassismus, Racial Profiling und Polizeigewalt ausgesetzt sieht. Da hilft es auch nur wenig, dass Harry für sein Vaterland im Koreakrieg sein Leben riskiert hat – die Gesellschaft lässt ihn immer wieder spüren, dass er nur ein Mensch zweiter Klasse ist.

Los Angeles im Jahr 1963

Von solchen Widrigkeiten lässt sich Harry allerdings nicht aufhalten. So elektrisiert der in drei Wochen bevorstehende Besuch des Bürgerrechtlers Martin Luther King halb Los Angeles, darunter auch Harry, der im Lauf des Romans direkt in ein Komplott um den Aufenthalt Luther Kings gezogen wird.

Gary Phillips - One-Shot Harry (Cover)

Bis es allerdings soweit ist, vergeht einige Zeit. Denn zunächst bekommt es One-Shot Harry mit einem Todesfall zu tun, der ihn persönlich betrifft. So verunglückte sein guter Freund Ben Kinslow mit seinem Auto am Mulholland Drive in den Hollywood Hills. Harry ist als einer der ersten am Tatort und von der Todesnachricht mehr als erschüttert. Denn so kämpften Kinslow und er nicht nur in einem gemeinsamen Bataillon in Korea, auch war Ben ein leidenschaftlicher Trompetenspieler, der sich nicht um die immer noch untergründig herrschende Segregation scherte und auch in Schwarzen Clubs auftrat und dort Jazz spielte.

Der Verdacht, dass es sich bei dem Todesfall nicht um einen Unfall, sondern eine gezielte Sabotage und damit einen Mordanschlag handeln könnte, lässt Harry nicht ruhen. Und so macht er sich auf, die Kontakte von Ben abzuklopfen und herauszufinden, wem der Veteran auf die Füße gestiegen sein könnte.

Ein Schwarzer Reporter als Ermittler

Damit ist One-Shot Harry natürlich ein klassischer Ermittlerkrimi, nur mit dem Unterschied, dass Harry nicht als Teil der rassistischen Polizeibehörde seine Ermittlungen vorantreibt, sondern als Reporte ganz eigene Ermittlungsansätze hat. Dabei stößt er immer wieder auf die Unterdrückung von Schwarzen, die sich diesen Zustand aber nicht mehr länger gefallen lassen wollen. Hierbei findet Gary Phillips viel Raum für Nuancen, indem der das Bild des Schwarzen Widerstands differenziert zeichnet.

So streitet die Schwarze Community über die richtige Strategie gegen den allgegenwärtigen Rassismus und bevorzugt in Teilen Martin Luther King und dessen gewaltlosen Weg. Andere Teile der Community neigen Malcolm X und dessen Nation of Islam zu und sind auch der Anwendung von Gewalt gegenüber nicht abgeneigt. In diesen Richtungsstreit hinein führen Harrys Recherchen, der sich darüber hinaus auch noch im Auftaktband dieser als Reihe konzipierten Romane verliebt und dank seiner neuen Freundin Zugang zu weiteren Kreisen von Los Angeles findet.

Es ist ein schon fast soziologisch geschulter Ansatz, der One-Shot Harry kennzeichnet und mit dem Gary Phillips dem genauen fotografischen Blick seines Helden um nichts nachsteht. Vom japanisch geprägten Vierteln wie den J-Flats am Rande des Echo Park über Schwarze Viertel wie Sugar Hill im Stadtteil West Adams bis hin zu mexikanischen Stadtteilen führen die Schauplätze des Romans, der mit Sinn für Szenen und Timing geschrieben ist. Die verschiedenen Ethnien im Schmelztiegel Los Angeles fängt Phillips ebenso genau ein, wie er Zeitgeschichte und Lokalkolorit in diesen gelungenen Krimi einfließen lässt.

Fazit

So entsteht ein starker historischer Krimi, der besonders durch die Perspektive seines Schwarzen Helden und den genauen Blick auf die Milieus und deren Zusammenwirken in der Stadtgesellschaft von Los Angeles überzeugt. One-Shot Harry lässt auf weitere Bände dieser Reihe hoffen, deren Auftakt von Karen Gerwig ins Deutsche übertragen wurde.


  • Gary Phillips – One-Shot Harry
  • Aus dem Englischen von Karen Gerwig
  • ISBN 978-3-948392-98-7 (Polar)
  • 312 Seiten. Preis: 26,00 €
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