Category Archives: Historischer Roman

Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

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Amor Towles – Lincoln Highway

Vier Jungen ohne Väter, eine Reise in zehn Tage. Dazwischen ein Bogen aus Geschichten, Schicksalen und antiken Mythen. Mit Lincoln Highway gelingt Amor Towles ein Gegenentwurf zu seinem vorhergehenden Roman Ein Gentleman in Moskau – und ein Buch mit fast klassikerhaften Zügen und dem Zeug zum Bestseller.


„Das ist der Lincoln Highway“, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. „Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.“

Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.

„Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.“

Amor Towles – Lincoln Highway, S. 32 f.

Saß Graf Rostov, der Held von Amor Towles letzten Roman Ein Gentleman in Moskau im Hotel Metropol fest und verbüßte seine lebenslange Haft in statischer Verdammtheit, so ist in Lincoln Highway nun alles beständig in Bewegung. Es beginnt schon mit einer Autofahrt zu Beginn des Romans, der noch viele weitere Kilometer folgen werden.

Von Nebraska bis San Francisco (eigentlich)

Nach einem unglücklichen Zufall, der zum Tod eines anderen Jungen führte, befand sich Emmet in der Besserungsanstalt Salina, die er nun im Juni des Jahres 1954 als 18-Jähriger verlässt. Auf der elterlichen Farm in Nebraska wartet allerdings nur sein Bruder in Begleitung eines benachbarten Farmers – und ein Banker, der Emmett über die Schulden seines verstorbenen Vaters unterrichtet.

Amor Towles - Lincoln Highway (Cover)

Auf der elterlichen Farm hält Emmett nach seiner Vorgeschichte nicht mehr viel – besonders als sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy zehn Postkarten enthüllt, die ihnen ihre Mutter einst schrieb und die Stationen des Lincoln Highways markieren. Billy vermutet seine Mutter in San Francisco, weswegen die Brüder in zehn Tagen von Nebraska gen Westen reisen wollen. Der Studebaker, den Emmetts Vater seinem Sohn vererbte, steht bereit und so könnte es eigentlich losgehen. Doch statt eines brüderlichen Roadtrips durch die Weiten der USA kommt alles ganz anders.

Denn kurz nach der Ankunft auf der heimischen Farm klopft es an der Tür und es stehen zwei weitere Insassen der Besserungsanstalt von Salina vor Emmetts Haustür. Woolly und der Ich-Erzähler Duchess erweisen Emmett die Ehre, nachdem sie als blinde Passagiere im Kofferraum des Direktorenwagens gereist sind. Sie haben ganz andere Reisepläne als Emmett, denn sie wollen nach New York, um an ein Erbe von Woolly zu gelangen. Und so beginnt eine Reise, die sich völlig unvorhergesehen entwickelt und die immer wieder mannigfaltige Überraschungen und Begegnungen bereithalten soll.

Stets in Bewegung

Ob im Studebaker oder als blinde Passagiere in Zügen, ob vertikal in Aufzügen oder horizontal auf Seen oder Straßen – beständig drängen die Figuren in diesem Roman voran, jagen Idealen, verschollenen Familienmitgliedern oder dem großen Geld hinterher, stets begleitet von antiken Vorbildern, die Billy im Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden des Professors Abernathe entdeckt und seinen Reisegefährten nahebringt.

Das erinnert in seiner überstürzenden Hast und der vorwärtsdrängenden Bewegung an Klassiker der Reiseliteratur wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, wenngleich es hier nur zehn Tage sind, die das Handlungsgeschehen bestimmen (und immer wieder als Leitmotiv in verschiedensten Abwandlungen auftauchen, von Hausregeln und Countdowns bis hin zu den Zehn Geboten, die das Personal des Romans immer wieder bricht)

Zwischen all diese Bewegungen und Reisen setzt Amor Towles mitreißende Begegnungen, die von reisenden Hobos und Illusionisten bis zu doppelzüngigen (und reichlich gefährlichen) Predigern reichen, was an einen anderen Klassiker erinnert, nämlich Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das lässt trotz der Länge von fast 580 Seiten keine Langweile aufkommen, da durch die Struktur eines Countdowns, die Vielfalt der Figuren und den immensen Geschichts- und Schicksalsbogen Abwechslung ebenso wie Dramatik gegeben ist.

Weit mehr als ein schlichter Road Novel

Diese Vielfalt ist es, die Lincoln Highway auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit verleiht, wenngleich der Handlungsrahmen des Buchs ja eigentlich mit zehn Tagen im Juni 1954 sehr eng gesteckt ist. Diese Enge weiß Amor Towles aber maximal für sich zu nutzen und erzeugt durch seine Schilderungen von Tramps und Reisenden das Bild eines nostalgischen Amerikas, das aber nie in platten Americana-Kitsch abkippt. Stets ist doch auch das Gefühl des Verlusts, des Platzens von Illusionen und des Schmerzes präsent, der besonders am Ende des Romans zum Vorschein kommt und der das Buch zu weit mehr als einem gewöhnlichen Road-Novel macht.

Auch maximiert er durch diese Vielfalt an Schicksalen das Identifikationspotenzial, das dem Buch innewohnt. Acht ebenso heterogene wie plausibel geschilderte Figuren aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sind es, denen man in Lincoln Highway begegnen kann und deren Schicksale und Geschichten zur Identifikation einladen. Das macht das Buch maximal anschlussfähig und sollte für viele begeisterte Leserinnen und Leser sorgen, weshalb ich Towles Buch durchaus einen ähnlichen Erfolg zutraue, wie er ihm schon in den USA beschieden war. Dort stand das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach.

Zeitdruck bei der Übersetzung?

Schade nur, dass die Übersetzung von Susanne Höbel ins Deutsche mit der Güte von Towles Werk nicht so ganz mithalten kann. An einigen Stellen wirkt es so, als sei nicht allzu viel Zeit für gründliches Arbeiten geblieben. Die Protagonisten begrüßen sich des Öfteren mit einem „Hallo da“, was im Englischen als „Hello there“ gang und gäbe sein mag, im Deutschen allerdings etwas merkwürdig klingt und eher ein „Hallo zusammen“ oder „Hallo miteinander“ wäre.

Auch wirkt es wenig idiomatisch, wenn Emmets Bruder Billy auf Seite 405 Folgendes erklärt: „Im Jahr 49 BC war Cäsar Gouverneur von Gallien“. Before Christ hätte man hier durchaus als „vor Christus“ übersetzen können, statt den englischen Terminus stehen zu lassen. Auch andere Formulierung wirken ab und an etwas befremdlich, sodass sich der Eindruck von Übersetzungshektik in der deutschen Version manifestiert. Das ist schade, da Susanne Höbel ja ansonsten Romane wirklich gelungen ins Deutsche zu übertragen weiß.

Fazit

So bleibt festzuhalten, dass Lincoln Highway das Zeug zum Klassiker hat. Amor Towles bietet darin neben überzeugendem Erzählhandwerk eine Vielzahl an Figuren und Schicksalen auf, die die Leser*innen für sich einnehmen dürften. Er zeigt in der Tradition von Mark Twain Hobos, Dynastiesprößlinge, Farmerkinder und falsche Prediger, die sich alle auf der Suche befinden und denen allesamt Unrast und ein steter Bewegungsdrang zueigen ist. Das macht aus Lincoln Highway ein nimmermüdes Lesevergnügen, bei dem es zu keinem Zeitpunkt zu Stillstand oder gar Langeweile kommt. Es ist ein Road Novel, es ist mehr als ein Road Novel, es ist eines der Bücher, das die Bestsellerlisten erobern dürfte und auch über das kurzlebige Novitätengeschäft hinaus das Zeug zum Longseller hat.


  • Amor Towles – Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
  • 576 Seiten. Preis: 26,00 €
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Stuart Turton – Der Tod und das dunkle Meer

Stuart Turton hat ein Faible für ungewöhntliche Kriminalromane. So machte er mit seinem Debüt Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle alle Leser*innen glücklich, die an den Gedanken der Wiedergeburt glauben. Seinen Ermittler ließ er immer wieder den gleichen Tag auf einem englischen Herrenhaus durchleben, nur damit dieser einen Mord aufklären konnte. Wie am Murmeltiertag musst er Tag für Tag das gleiche Szenario durchleben, allerdings immer wieder in einem anderen Körper, um so schließlich dem oder der Mörderin auf die Spur zu kommen. Vom klassischen Landhaus-Krimi mit Twist hat er sich nun verabschiedet. Diesmal sind wir in Der Tod und das dunkle Meer zu Gast auf einem Schiff namens Saardam.

Von Batavia nach Amsterdam

Dieses Schiff segelt im Jahr 1634 im Auftrag der Niederländischen Ostindienkompanie von Batavia nach Amsterdam. Eine Reise mit einer Dauer von über acht Monaten, die von Beginn an unter einem schlechten Stern steht. Schon vor Auslaufen der Flotte wird das Schiff von einem Aussätzigen verflucht, der danach spektakulär in Flammen aufgeht und eigentlich gar keinen Fluch über das Schiff aussprechen hätte dürfen, war ihm doch die Zunge war ihm zuvor herausgeschnitten worden.

Solche Begebenheiten häufen sich nach Auslaufen des Schiffs. Auf dem Segel taucht das Symbol des Alten Tom auf. Hierbei handelt es sich der Legende nach um einen schrecklichen Dämon, der offensichtlich unter der Schiffsbesatzung umgeht. Immer wieder finden sich an unterschiedlichen Orten des Schiffs solche Zeichen des Bösen. Es kommt zu grausamen Morden und es scheint, als hätte der Alte Tom schon bald sein Ziel erreicht, das Schiff untergehen zu lassen.

Stuart Turton - Der Tod und das dunkle Meer (Cover)

Für den Kampf gegen das Böse wäre eigentlich Samuel Pipps prädestiniert, eine Art Vorgänger von Sherlock Holmes von kleinem Wuchs, aber bestechenden Intellekt. Er befindet sich an Bord des Schiffs – allerdings in Ketten gelegt, denn ihn erwartet in Amsterdam seine Hinrichtung. Wessen man ihn beschuldigt, das weiß er selbst nicht. Aber so bleibt ihm nur die kriminalistische Unterstützung durch seinen Freund Arent Hayes, der Pipps an Bord begleitet und der selbst schon einmal die Bekanntschaft mit dem Alten Tom gemacht hat.

Während das Schiff nun Amsterdam entgegensegelt, spitzt sich die Lage an Bord immer mehr zu. Es scheint, als könnte das Vorhaben des Alten Tom tatsächlich gelingen, die verfluchtet Saardam in ihren Untergang zu lenken.

Der Alte Tom an Bord

Der Tod und das dunkle Meer liest sich wie eine wilde Melange aus Robert-Louis Stevensons Die Schatzinsel, etwas Horror, Anleihen an den Viktorianischen Kriminalroman und Patrick O’Briens Master and Commander. Dabei erklärt Stuart Turton selbst im Nachwort seines Romans, dass er bewusst keinen akkuraten historischen Roman schaffen wollte, sondern es vielmehr vermeiden wollte, sein Buch in das „Korsett eines Genres“ zu zwängen.

Das merkt man dem Krimi auch an, der auf über 600 Seiten auffährt, was Turtons Kreativität so hergibt. Immer mehr Mysterien und Rätsel häufen sich an Bord. Ein Aussätziger erscheint und verschwindet nach Belieben an Bord und kann sogar aus dem Wasser an Bord des Schiffs gelangen. Im Gefolge des Flottenverbands taucht immer wieder minutiös getaktet ein achtes Boot auf, Morde geschehen ohne Spuren und es scheint, als könne der Alte Tom an Bord des Schiffs beliebig umhergehen.

Da fehlen eigentlich nur noch ein paar Klabautermänner und Captain Jack Sparrow, und die Piraten-Nostalgie wäre perfekt.

Etwas zu viel Mysterien an Bord

Stuart Turton greift hier abermals in die Vollen, um Schauder und Nachdenken zu erzeugen. Dabei übertreibt er es allerdings etwas mit den unerklärlichen Rätseln und Ereignissen an Bord, sodass er diese in der Auflösung des Ganzen dann nicht wirklich plausibel und befriedigend zuende bringen kann.

Es waren zumindest meinem Eindruck nach ein paar Rätsel und Volten zu viel, als dass man Turton die vorgebrachte Auflösung dann rundherum abnimmt. Auch die völlige Verwandlung einiger Figuren, die zuvor über viele hundert Seiten völlig gegenläufig dargestellt wurden, überzeugt nicht.

Gerade auf den letzten Seiten stellt sich ein Eindruck einer gewissen Gehetztheit ein, mit der Turton seinen außergewöhnlichen Krimi abschließen wollte (oder vielleicht abschließen musste, da eventuell eine Deadline drohte). Ein paar weniger Unerklärlichkeiten zuvor und die Plausibilität des Ganzen hätte gewonnen. So aber wirkt der Krimi an sich leider nicht ganz rund und zuende gedacht.

Fazit

Mit Der Tod und das dunkle Meer untermauert Stuart Turton abermals seinen Ruf als ungewöhnlicher und wahrlicher kreativer Krimischriftsteller, der seine tollen Ideen und Fülle an Budenzauber dann aber nicht ganz ins Ziel retten kann. Die Auflösung fällt hinter den Großteil der spannenden gut 600 Seiten zurück und befriedigt nicht ganz. Da er zuvor allerdings mit seiner Fülle an Plotideen und Beschreibungskraft (Deutsch abermals von Dorothee Merkel) überzeugen konnte, fällt dies für mich nicht dramatisch ins Gewicht. Abzuwarten bleibt, mit welchem ungewöhnlich Krimi uns der Brite als nächstes überrascht!


  • Stuart Turton – Der Tod und das dunkle Meer
  • Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
  • ISBN 978-3-608-50491-0 (Tropen)
  • 608 Seiten. Preis: 25,00 €
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Orhan Pamuk – Die Nächte der Pest

Nun also noch ein Pandemieroman. Während die nächste Welle im nunmehr dritten Jahr seit Ausbruch des Coronavirus dräut, serviert uns Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk nach Thea Dorn, Ivan Ivanji, Wladimir Kaminer oder Steffen Kopetzy mit Die Nächte der Pest den nächsten Pandemieroman. Ein enttäuschendes Werk, dass sich zäher liest als so mancher Shutdown lang war.


Bevor Pamuks Roman beginnt, schwört eine Frau namens Mîna Mingerli in der Einleitung mit folgenden Worten auf das Folgende ein:

Das Vorliegende ist sowohl ein historischer Roman als auch ein Geschichtsbuch in Romanform. Eingebettet in einen historischen Rahmen werden die erschütterndsten sechs Monate geschildert, die meine geliebte Heimat, die Insel Minger, die Perle des östllichen Mittelmeers, je erlebt hat.

Orhan Pamuk – Die Nächte der Pest, S. 11

Die Schilderungen beruhen auf den berühmten 113 Briefen, die Pakize Sultan, die dritte Tochter des 33. osmanischen Sultans Murat V., zwischen 1901 und 1913 verfasst hat und über die die Autorin eigentlich eine kommentierte Ausgabe herausgeben sollte. Doch das Unterfangen hat sich zu einem Roman ausgewachsen, den uns Mingerli als Historikerin präsentiert und in dem sie sie sich immer wieder selbst oder mit einem kommentierenden „Wir“ zu Wort meldet.

Dabei hat weder eine Briefe schreibende Sultanstochter namens Pakize Sultan gelebt, noch gibt es die Insel Minger im Mittelmeer wirklich, die Pamuk hier neben Kreta ansiedelt und als eine Art Lummerland voller Rosen, Marmor, osmanischer und mediterraner Lebenswelt schildert.

Sechs Monat Pest auf Minger

Sechs Monate auf Minger beschreibt Pamuk. Sechs sehr lange Monate, die der türkische Autor in aller Detailversessenheit präsentiert und die zu einem Spiegelbild auf unseren Umgang mit der Coronapandemie werden. Denn während bei uns ein neuartiges, aus China stammendes Virus zunächst noch müde belächelt wurde und später das gesamte gesellschaftliche Leben zum Erliegen brachte, ist es auf der Insel Minger die Pest, die ausbricht.

Beginnt alles noch recht überschaubar mit ein paar Toten, darunter der Wächter des Inselgefängnisses, wächst sich die Seuche schon bald zu einer verheerenden Angelegenheit aus. Diese soll eigentlich Bonkowski Pascha untersuchen, ist er doch der Chefchemiker des Sultans und auf dem Gebiet der Seuchbekämpfung eine unbestrittene Koryphäe, eine Art türkischer Max von Pettenkofer.

Doch ehe Bonkowski die Lage auf der Insel befrieden und eingehende Quarantänemaßnahmen einleiten kann (Reduzierung sozialer Kontakte, Abstandsgebote, vermehrte Hygienemaßnahmen – man kennt es) – wird der polnischstämmige Wissenschaftler umgebracht. Und so ist es nun an Doktor Nuri, dem frischgebackenen Ehemann von Pakize Sultan, den Kampf gegen die Pest aufzunehmen. Dieser befand sich eigentlich mit Pakize Sultan auf dem Weg in die Flitterwochen nach China, doch nun kehrt das Schiff um und Nuri muss die Seuche auf der Insel Minger bekämpfen.

Parallelen zur Gegenwart

Orhan Pamuk - Die Nächte der Pest (Cover)

All das schildert Pakize Sultan in ihren Briefen, die Pamuk als fiktive Grundlage für die Schilderungen des Tun und Treibens auf der Insel dienen. Schilderungen, die eigentlich wie eine Blaupause unserer pandemischen Gegenwart sind, etwa wenn Bonkowski Pascha den Inselbewohner*innen zurufen möchte „Leute, haltet so viel Abstand wie möglich!“ (S. 57).

Inselbewohner*innen, die die Quarantänemaßnahmen unterlaufen. Die Politik, die sich kaum zu klaren Entscheidungen durchringen kann oder der lokale Expertenrat, der nur sporadisch tagt. Das kennt man so alles aus der Gegenwart leider zur Genüge – und wird hier von Pamuk einfach noch einmal erzählt, nur dass wir uns eben im Jahr 1901 auf Minger und nicht in Deutschland oder anderswo im Jahr 2019 befinden.

Quälend langsam und detailversessen erzählt

Das wäre in seiner Parallelführung von pandemischen Reaktionsmustern vielleicht erhellend, würde Pamuk seinen Roman nicht quälend langsam und enervierend detailversessen erzählen. Das Buch ist mit einer Laufzeit von fast 700 Seiten enorm umfangreich, was auch durch völlig überflüssige Erzähldiskurse und trockene Faktenhuberei bedingt ist.

So ist seine Erzählung durch die Darstellung etwa von türkischen Erbreihenfolgen, monarchischen Lesegewohnheiten oder historischen Ereignissen wie den Boxerkriegen angereichert, die hier monoton und unorganisch in das Ganze eingefügt werden. Jedes Boot, jeder Tote, jeder Schuss, jede Begehung der Gasse „Wo der Esel keucht“ – alles wird immer wieder auserzählt, auch wenn es so gut wie gar keine Funktion für Die Nächte der Pest hat.

Auch frage ich mich, was Passagen wie die Folgende im Buch verloren haben:

Der Major hatte schon oft aus Hafenstädten des Reiches Briefe nach Istanbul versandt. Für einen gewöhnlichen Brief von Hafen zu Hafen genügte das Aufkleben einer 20-Para-Marke. Wenn in der winzigen Poststation eines kleinen Provinzbahnhofs (Aynaroz, Karaferye, Alasonya) der Beamte keine 20-Para-Marke zur Hand hatte, schnitt er kurzerhand von einer 1-Kurusch-Marke die Häfte ab und klebte sie auf den Umschlag. Nach einem Blick auf die Gebührentabelle verlangte Dimitris Efendi zusätzlich zum Normaltarif von 40 Para noch 1 Kurusch für das Einschreiben und 1 Kurusch für den Rückschein.

Orhan Pamuk – Die Nächte der Pest, S. 143

Solche ermüdenden und rein technischen Passagen gibt es an vielen Stellen, die wie harte Klumpen in diesem Erzählbrei wirken. Ob es das cent- beziehungsweise kuruschgenaue Frankieren eines Briefs oder das Herbeten jedes einzelnen Punkts einer Verfassung ist, die später im Buch proklamiert wird (S. 434): immer wieder stößt man auf enervierend genau geschilderte Details, die den Lesefluss hemmen und deren Streichung Not getan hätte.

Zu viele Themen und zu wenig Fokus

Generell ist auch festzustellen: wäre dieses Buch fokussierter, klarer in seiner Intention und etas ökonomischer in seiner Schilderungswut, hätte Die Nächte der Pest das Zeug zum eindrücklichen und parabelhaften Roman, der eines Literaturnobelpreisträgers würdig wäre – auch über die Coronazeit hinaus. So haftet dem Buch etwas Unentschiedenes an, was sich auch durch die Entstehungsgeschichte und die Montage des ursprünglich 2021 erschienen Romans begründet.

So wurde Pamuk beim Verfassen seines Romans über die Pest mehr oder minder von der Realität eingeholt. Dabei sind gerade die ersten vierhundert Seiten des Kampfs gegen die Seuche durchaus interessant, zeigt sich doch, wie Pamuks Schreiben auch unter dem Eindruck der Gegenwart steht. Dann verlässt Pamuk aber diesen erzählerischen Pfad und schildert dann dann die quarantänemotivierte Schiffsblockade von Minger, die zu einem Kulturkampf auf der Insel führt. In dessen Folge verlegt sich Pamuk auf die Schilderung der Unabhängigkeitsbestrebung und Ausrufung der kulturellen Revolution.

Neues Regierungspersonal wird berufen und gemeuchelt, Gefolgsleute bekriegen sich, die geistige Führung mischt ebenfalls munter mit, worunter die Übersichtlichkeit des Plots leidet.

Über diesen Plot legt Orhan Pamuk wie oben beschrieben auch noch einen Kriminalfall. So soll Doktor Nuri auch im Fall des Todes von Bonkowski Pascha und dessen Assistenten ermitteln, was dann über viele hundert Seiten wiederum kaum eine Rolle spielt. Zusammen mit der postmodernen Spielerei der fiktiven Briefe Pakize Sultans und der Rolle ihrer Nachfahrin, der Erzählerin Mîna Mingerli, die auf den letzten Seiten des Buchs dann noch zu einer möglichen Analogie auf die türkische Staatsgründung zurechtgebogen wird

Fazit

All das wirkt wie das Gegenteil eines Buchs aus einem Guss. Viel zu lang, mit viel zu vielen Motiven und viel zu vielen Seiten ist dieser Roman, dem die Konzentration auf einen erzählerischen Aspekt gutgetan hätte. Dieses Buch wirkt wie ein Film, der im Schneideraum noch einmal komplett neu zusammengestückelt wurde – worunter die kohärente Logik und der Erzählfluss massiv leiden.

So ist Die Nächte der Pest leider alles andere als ein großer Wurf und forderte mir ob seines Umfangs von 700 Seiten wahrhaft Lesedisziplin ab, die ich ohne den dahinter lauernden Diskussionsabend über das Buch sicher nicht aufgebracht hätte. Kurzzeitig mag dem Buch ob seiner Thematik und dem medialen Getöse rund um das Erscheinen herum Aufmerksamkeit gewiss sein, auf lange Zeit gesehen wird dieses Buch zu den schwächeren Werken im Oeuvre des 2016 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Orhan Pamuk zählen.

Meinen Leseeindruck spiegelt dabei die Besprechung von Roman Bucheli in der Neuen Züricher Zeitung am ehesten wieder, aber auch auf den Blogs Kommunikatives Lesen oder Das Wort zum Buch findet man Besprechungen zu Die Nächte der Pest.


  • Orhan Pamuk – Die Nächte der Pest
  • Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
  • ISBN 978-3-446-27084-8 (Hanser)
  • 696 Seiten. Preis: 30,00 €
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Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen

Wenn die eigene Familie zur Ausgangslage eines Romans wird: Giulia Caminito erzählt in ihrem Debüt Ein Tag wird kommen vom anarchistischen Erbe ihrer Familie – und legt einen überzeugenden und in seiner Erzählweise herausfordernden Text vor. Wieder einmal eine erzählerische Entdeckung aus Italien, wie man sie vom Wagenbach-Verlag kennt.


Es sind zwei Brüder, die im Mittelpunkt von Ein Tag wird kommen stehen. Lupo und Nicola, so heißen die beiden Jungen, die als Söhne eines jähzornigen Bäckers im kleinen Dorf Serra de‘ Conti in der Nähe von Ancona an der Wende zum 20. Jahrhundert aufwachsen. Während ihre Brüder und Schwester noch im Kindbett sterben, ins Kloster geschickt oder erschossen werden, sind die beiden auf ganz unterschiedliche Art und Weise widerständig und überleben ihre Geschwister.

Zwei Brüder in den Marken

Giulia Caminito - Ein Tag wird kommen (Cover)

Lupo ist ein Wildfang, der keiner körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg geht und einen jungen Wolf mit dem funktionalen Namen Cane von Hand aufzieht. Nicola ist ein stiller und zerbrechlicher Geist, den das Intellektuelle anzieht. Der Dorfgeistliche will ihn unter seine Fittiche nehmen – doch es ist eine andere Denkschule, sich in den Marken und anderswo im Lande ausbreitet – und die auch auf die Familie Ceresa prägend einwirkt.

Denn während die Landbevölkerung in den Marken am Hungertuch nagt, unter dem Prinzip der Halbpacht ächzt und so etwas wie ein sozialer Aufstieg nicht vorgesehen ist, geht es den padrones und der reichen Oberschicht sehr gut. Bislang, denn unter dem Eindruck des aufziehenden Anarchismus wird auch die Landbevölkerung rebellisch. Lupo findet Aufnahme in der Gruppe von Gleichgesinnten, die sich im angrenzenden Ancona 1914 an der Settimana Rossa, einen Streik gegen die herrschenden Verhältnisse und geplanten Reformen der Regierung, beteiligten.

Anarchismus und Krieg

Doch nicht nur in den Marken und anderswo dreht sich der Wind und neue Verhältnisse scheinen möglich. Auch die übrige Welt steht nicht still – und bricht in Form des Ersten Weltkriegs in das Leben der Familie Ceresa in Serra de‘ Conti ein. Während Lupo als Agitator und Kämpfer bald in den Untergrund geht, bleibt Nicola vor seiner Berufung nicht verschont und muss an die Front, wo er die Kriegsgräuel des 1. Weltkriegs am eigenen Leib erfährt.

Diese Geschichte verschmilzt Giulia Caminito mit der Lebensgeschichte von Suor Clara, einer Nonne, die im nahen Kloster wirkt und die einst als Kind in Afrika geraubt wurde. Wie diese Geschichte mit der von Lupo und Nicola zusammenhängt, schält sich erst Stück für Stück heraus. Immer wieder verlässt Caminito den Pfad der Chronologie, springt in der Geschichte zurück, rückt einzelne Familienmitglieder der Ceresas in den Mittelpunkt. So gibt die Autorin den Leser*innen immer wieder neue Puzzleteile an die Hand, die schlussendlich ein Ganzes ergeben und sich stimmig fügen. Alles, was zuvor möglicherweise lose oder unverbunden erschienen mag, ergibt am Ende Sinn, wenn das Geheimnis der Herkunft der Brüder in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Besonderheit preisgegeben wird.

Fazit

Caminito schreibt mit viel Sprachgefühl (Übersetzung aus dem Italienischen durch Barbara Kleiner) und formal ambitioniert. Wie sie die einzelnen Teile zu einem Ganzen rundet, ihre Figuren psychologisch fundiert entwirft und das Dorfleben in den Marken sowie im Kloster einzufangen weiß, das ist wirklich bemerkenswert, insbesondere, da Ein Tag wird kommen das Debüt von Giulia Caminito ist.

Im Nachwort gibt Caminito Auskunft über ihr Schreiben und die Berührungspunkte mit ihrer eigenen Familiengeschichte, die hier als Inspirationsquelle für ihren Roman diente. Ein beeindruckendes Buch über Familie, Widerstand, die Gräuel des Ersten Weltkriegs und die Frage, was uns prägt und welche Macht die Familienbande hat. Wieder einmal eine jener Entdeckungen aus Italien, die den Wagenbach-Verlag auszeichnen.


  • Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen
  • Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
  • ISBN 978-3-8031-3325-0 (Wagenbach)
  • 272 Seiten. Preis: 23,00 €
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