Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.
Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.
Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.
Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.
Der Kampf um Birma
Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.
Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.
Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung
Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:
„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“
„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.
„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“
„Aber auch gute.“
Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281
Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.
Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.
Von der Suche nach den eigenen Wurzeln, dem Völkermord an den Armeniern und der hohen Kunst der Restauration erzählt Katerina Poladjan in ihrem Roman Hier sind Löwen. Ein widerspenstiges Buch mit einer ebenso widerspenstigen Protagonistin.
Triumphierend ließ sich Ano wieder auf die Matratze fallen. „Du widersprichst dir.“
„Ja.“
Ich widersprach mir. Auch Danil sagte oft zu mir, du widersprichst dir, du hast gleichzeitig mehrere Gedanken, die nicht zusammenpassen.
Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 218
Helen Mazavian ist in der Tat eine widersprüchliche Heldin. Ein Restaurationsauftrag bringt sie nach Jerewan, die Hauptstadt Armeniens. Dort will sie ein Heilevangeliar restaurarieren und die besondere Kunst der lokalen Buchmacherei erlernen.
Doch es ist nicht nur das Evangeliar, das sie reparieren will. Auch die eigenen Familiengeschichte will sie erforschen, Leerstellen auffüllen und die eigenen biographischen Bruchstellen kitten. Denn neben Russland und Deutschland hat ihre Familie auch in Armenien Wurzeln, über die Helen und ihre Mutter Sara nur wenig wissen. Die Buchrestauratorin will den Aufenthalt im kleinen Land als auch zu einer Art Provenienzforschung in eigener Sache nutzen. Work & Research in Armenien.
Doch die komplizierte und so kunstvolle Arbeit am Evangeliar tritt immer weiter hinter Helens Familienforschung zurück. Fremd im Land lässt sie sich treiben, beginnt eine Affäre, wird auf Familienfeiern eingeladen und sucht doch nur nach ihren Wurzeln. Dabei lernt sie ein Land kennen, das in seiner Zerrissenheit der Seelenlandschaft Helens ähnelt.
Ich weiß, dass viele viele [Armenier] ausgewandert sind, nach Frankreich, nach Amerika, in den Libanon, nach Russland. Es gibt ein armenisches Paradox. Jeder Armenier in der Welt könnte nach Armenien zurückkehren, aber sie denken nicht daran, es zu tun. Sie schicken Geld und sehen aus der Ferne zu, wie das Land vor die Hunde geht.
Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen, S. 152
Zwei Kinder auf der Flucht
In diese Geschichte hinein schneidet Katerina Poladjan eine weitere Geschichte, die mit dem von Helen zu restaurierenden Heilevangeliar zusammenhängt. Denn dieses befand sich einst im Besitz einer armenischen Familie, die bis auf zwei Kinder dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel. Aus Sicht der beiden Kinder erzählt Poladjan von diesem Genozid, dem zwischen 300.000 und 1.500.000 Menschen zum Opfer fielen, und der bis heute von der Türkei nicht anerkannt wird.
Die Flucht der beiden und der Kampf um das Überleben wird von ihr in kleinen Sequenzen geschildert, die manchmal fast einen bukolischen Ton aufweisen, etwa dann, wenn die beiden kleinen Kinder unter einem Strauch Zuflucht suchen. Was es bedeutet, Familie und die Heimat hinter sich zu lassen, das vermittelt die Autorin eindrücklich.
Das Heilevangeliar, das die beiden mit sich durch die karge und menschenleere Landschaft Armeniens schleppen, wird dabei für die Kinder auch zu einem Überlebensinstrument. Egal ob Entscheidungshilfe oder Kinoersatz – die gebundenen vier Evangelien begleiten die Kinder und finden schlussendlich auch zu Helen.
Ähnlich wie es Nino Haratischwili im Falle Georgiens gelingt, holt auch Katerina Poladjan hier ein uns fernes Land und seine Geschichte mithilfe der Literatur in unser Bewusstsein. Wer könnte schon vor der Lektüre von Hier sind Löwen zweifelsfrei sagen, wie die Hauptstadt Armeniens heißt oder wo das Land überhaupt liegt? Mit ihrer Prosa ruft uns Poladjan dieses in der Vergangenheit so gematerte Land und seine wechselvolle Geschichte wieder in Erinnerung. Und sie setzt nicht zuletzt der Kunst des Büchermachens und Bücherrestaurierens ein Denkmal.
Eine weitere Besprechung dieses Titels findet sich auf dem famosen Blog Kulturgeschwätz von Katharina Herrmann. Sie hat sich hier mit dem Buch und seinen Struktur im Besonderen und den vielen Bedeutungsebenen und Bezügen auseinandergesetzt.
Das neue Jahr bringt ja auch immer gute Vorsätze mit sich. So habe ich beschlossen, in losem Abstand hier eine kleine Reihe unter dem Titel Im Fokus zu beginnen. Eine Reihe, die in meinen Augen vergessene oder zu wenig gewürdigte Autor*innen wieder in den Fokus rücken soll.
In Zeiten, in denen die Bestsellerlisten Drehtüren in Kaufhäusern gleichen, in denen Bücher kürzere Haltbarkeitsdaten als Joghurt zu haben scheinen, in denen Vorschauen nun schon mit Vor-Vorschauen einhergehen, um noch zielgerichteter planen zu können, will ich mir ab und an den Luxus des Zurückblickens und des Fokussierens von Unbeachtetem gönnen.
Viele Autor*innen sind viel zu spannend, um sie dem Vergessen anheimfallen zulassen. Bestes Beispiel ist der Auftakt dieser Reihe. Diesen bestreitet der britische Schriftsteller James Gordon Farrell und sein Hauptwerk, die sogenannte „Empire-Trilogie“, die vor einigen Jahren bei Matthes&Seitz Berlin erschien und nun Im Fokus steht.
Der Lost Man Booker Prize
Wir schreiben das Jahr 2010. In England wird der sogenannte Lost Man Booker Prize per öffentlichem Voting vergeben. Die Idee dahinter: Bis 1970 wurden für den Man Booker Prize immer Bücher aus dem Vorjahr nominiert, ab 1971 kamen dann nur Titel aus dem laufenden Jahr in die Auswahl. Dies sorgte natürlich für eine Lücke im Prozedere, die man dann 2010 nachträglich schließen wollte. Und so wurde der Lost Man Booker Prize ins Leben gerufen. Den Sieg in der Abstimmung errang damals James Gordon Farrell, der für seinen Roman Troubles die Auszeichnung erhielt. 38 Prozent aller abgegeben Stimmen entfielen auf sein Werk, das doppelt so viel Stimmen wie das zweitplatzierte Buch auf sich vereinen konnte.
Ein Triumph, den James Gordon Farrell allerdings nicht mehr erleben sollte, war er doch zu dem Zeitpunkt schon seit über 30 Jahren tot. Einmal war ihm allerdings der Triumph des Gewinns vergönnt. 1973 erhielt er für seinen Roman Die Belagerung von Krishnapur den Man Booker Prize. Mit dem Sieg im Jahr 1970 wäre ihm ein ganz besonderes Privilieg zuteil geworden. So wäre James Gordon Farrell der erste Schriftsteller gewesen, der den Man Booker Prize zweimal gewinnen konnte. So war dieser Triumph bislang nur Peter Carey, J.M Coetzee und Hilary Mantel vorbehalten.
Wer ist dieser Mann, der Geschichte hätte schreiben können und der auch 30 Jahre nach seinem Tod noch so beliebt ist, dass er den Man Booker Preis postum erlangen konnte?
Ein Brite in Irland
Geboren wird James Gordon Farrell im Jahr 1935 als Nachfahre irischer Einwanderer in Liverpool. Zeitlebens zieht er viel um, 1945 übersiedelt die Familie nach Irland. Farrell arbeitet als junger Mann in der Arktis, studiert in Oxford und zieht anschließend nach Frankreich weiter, wo er als Lehrer arbeitet. Während dieser Zeit entstehen erste Erzählungen und Romane, in denen er sich unter anderem mit dem französischen Existenzialismus auseinandersetzt.
Weitere Romane folgen, sonderlich erfolgreich sind sie aber alle nicht. Vor allem der experimentelle Roman A Girl in the Head enttäuscht in kommerzieller Hinsicht doch sehr. Immerhin bemerkt ein Rezensent nach drei veröffentlichten Werken von James Gordon Farrell, dass er zwar noch nicht sein Thema und seine Form gefunden habe, das Talent aber durchaus erkennbar sei.
Zum Vorschein kam dieses Talent dann vollumfänglich im Hauptwerk Farrells, nämlich der sogenannten Empire-Trilogie. Diese erschienen 1970 bis 1978. Drei Werke bilden diese Trilogie, die den Niedergang des britischen Empires thematisiert. Den Anfang machte 1970 Troubles, das sich mit der gewaltsamen Abspaltung Nordirlands vom Rest der Insel beschäftigt. 1973 folgte dann Die Belagerung von Krishnapur; ein Buch, das sich mit dem Sepoy-Aufstand in Indien beschäftigt. Den Abschluss dieser Trilogie bildet das mit über 800 Seiten dickleibigste Werke Farrells: Singapur im Würgegriff. Ein Buch, das multiperspektivisch vom Ende der britischen Herrschaft über Singapur erzählt, erschienen 1978.
Eigentlich wäre aus der Trilogie ein Quartett geworden, James Gordon Farrell hatte es so geplant und einen Roman namens The Hill Station begonnen. Das Werk blieb allerdings unvollendet, da Farrell im August 1979 völlig überraschend verstarb.
Nach dem Erfolg seiner Bücher war Farrell auf die irische Halbinsel Sheeps Head gezogen. Dort, im Südwesten Irlands, lebte Farrell gerade einmal 149 Tage, ehe er beim Angeln im Sturm aufs Wasser hinausgezogen wurde. Aufgrund einer Polio-Lähmung in jungen Jahren war er nur eingeschränkt bewegungsfähig und starb so tragischerweise. Er wurde nur 44 Jahre alt.
Der Niedergang des Britischen Imperiums
Nun ist es natürlich immer müßig, über Eventualitäten und andere Ausgänge der Geschichte zu spekulieren. Aber bei James Gordon Farrell ist das Ganze ausnehmend reizvoll. Denn bei einer solchen Reife und Fülle von Themen, wie sie sich in seiner Empire-Trilogie findet, wäre es höchst spannend, welche Werke Farrell im Laufe seines weiteren Lebens noch vorgelegt hätte – das meint auch Salman Rushdie, der bemerkte:
There is no question that he would today be one of the really major novelists of the English language. The three novels that he did leave are all in their different way extraordinary.
Zweifelsohne wäre er [James Gordon Farrell] heute einer der größten englischen Schriftsteller. Die drei Romane, die er hinterlassen hat, sind alle auf ihre Art und Weise außergewöhnlich.
Wie gut und beliebt seine Werke auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch sind, das zeigt sich nicht zuletzt am Publikumsvoting des Lost Man Booker Prizes.
Auch ich habe mich durch die drei Empire-Trilogie mit höchstem Genuss gelesen; dem Berliner Verlag Matthes&Seitz und den Übersetzern Manfred Allié und Grete Osterwald sei es gedankt. Alle drei Werke sind eigene Kunstwerke, deren Komplexität mit jedem Buch zunimmt. Sie entführen auf meisterhafte Art und Weise in völlig andere Ecken der Erde, gemein ist ihnen nur der Untergang der Welt, die Farrell zuvor so liebevoll aufgebaut und beschrieben hat.
Alles ist vergänglich
Der Untergang der Dinge im Kleinen und der Untergang des britischen Weltreiches im Großen, das sind Themen, die die ganze Empire-Trilogie durchziehen. Denn mag am Anfang der Bücher noch alles in bester Ordnung erscheinen – Hotels noch stehen, Kautschukplantagen ihren Ertrag abwerfen und die Charaktere ihrem täglichen Broterwerb nachgehen – am Ende der Bücher ist nichts mehr davon übrig.
Das was sich gerade en miniature an bzw. in Großbritannien selbst beobachten lässt, das hat James Gordon Farrell schon vor 50 Jahren vorweggenommen: Zerfleischung, Selbstgefälligkeit, Zersplitterung, Verfolgung von Partikularinteressen. Das was der Brexit gerade in Großbritannien bewirkt, in den Kolonien und dem ganzen Empire trat das schon Jahrhunderte zuvor ähnlich auf. Und James Gordon lässt uns ausführlichst daran teilhaben.
Die Empire-Trilogie von James Gordon Farrell
Postkoloniale Literatur
Seine Empire-Trilogie lässt sich ganz klar sowohl in zeitlicher als auch thematischer Hinsicht in den Bereich der postkolonialen Literatur einordnen. Schon mit der Unabhängigkeit Indiens hatte diese Bewegung des Postkolonianismus in England im linksintellektuellen Milieu langsam eingesetzt. Man wollte eine neue Sichtweise auf die kolonialisierten Länder und Kulturen erlangen. So begann man, sich für die zuvor unterjochten und ausgebeuteten Länder außerhalb von Wirtschaftsinteressen zu interessieren. Nicht nur in der Forschung gewann diese neue Betrachtungsweise stetig an Zuwachs, auch die Kunst interessierte sich zunehmend für die Welt der Kolonien, die sich alle sukzessive vom Commonwealth emanzipierten. Mitte der 70er Jahre erreichte die Welle des Postkolonialismus einen ersten Höhepunkt – was genau mit dem Erscheinen der Empire-Trilogie zusammenfällt.
Und auch inhaltlich zeigt sich James Gordon Farrell als aufmerksam betrachtender und beschreibender Postkolonialist. Er interessiert sich für sein Personal, indem neben den britischen Besatzern auch Einheimische immer eine tragende Rolle spielen. Genau analysiert und beschreibt er, welche Auswirkungen die wirtschaftlich und terretorial expansive Politik Großbritanniens hatte. Besonders im Buch Singapur im Würgegriff illustriert er den Kolonialismus umfassend. In Dialogen und Streitgesprächen im Buch lässt er unterschiedliche Ansichten (auch der Briten selbst) aufeinanderprallen. Bringt man dem unzivilisertem Rest der Welt nun Savoir vivre und Wohlstand? Oder beutet man die Ressourcen der Länder auf Kosten der Ärmsten aus (wie im Falle von Singapur im Würgegriff die Kautschukplantagen des Landes)? Manchmal schon fast etwas enervierend genau und vollumfänglich geht Farrell diesen Fragen nach (und bietet auch im Anhang seiner Bücher stets immer eine voluminöse Bibliographie mit weiteren Lektüreeinstiegen an).
Ein Autor mit Haltung und Humor
Koloniale Lehnsherren, Rassismus, Überheblichkeit – all das fängt Farrell präzise in seinen Büchern ein. Seine eigene Haltung (die sich klar auch aus den Büchern herauslesen lässt) wurde bei der Preisverleihung des Booker Preises 1973 sehr deutlich. Dort, auf offener Bühne, kritisierte Farrell den Hauptsponsor des Preises, den er soeben erhalten hatte. Der Firma Booker warf er vor, für den wirtschaftlichen Profit des Unternehmens, die Landwirtschaft der Dritten Welt auszunehmen. Hier zeigte sich ein kämpferischer Mann, der für die in seinen Büchern propagierten Werte auch außerhalb der Papierseiten einsteht.
Wer nun allerdings den Eindruck bekommen hat, Farrells Werk ist politische und geschichtliche Literatur mit einer Prise Aufklärertum, der mag in Teilen rechthaben. Allerdings ist Farrell in meinen Augen zuvorderst ein grandioser Komödiant. Deshalb grandios, weil in seinen Büchern neben dem Witz in seinen verschiedenen Schattierungen auch immer jede Menge Traurigkeit und Nostalgie steckt. Seine Bücher sind beides: tragische Komödien und zugleich komische Tragödien, die Humor jeglicher Couleur beheimaten.
Da tritt eine Irin als lebende Kanonenkugel auf, die zur Freude des malayischen Publikums in die Luft geschossen werden soll. Doch dann gibt es zur Überforderung der lokalen Veranstalter Probleme mit dem Kanonenrohr und der Oberweite der lebenden Kanonenkugel. Oder da ist die Teegesellschaft im Majestic Hotel in Troubles, die in einem Gewächshaus ohne Licht sitzt und schon fast von den Pflanzen überwuchert wird. Betagtes Personal klettert aus Luken, Statuen werden gesprengt, es wird nackt im Garten geturnt. Die Empire-Trilogie ist ein Feuerwerk des eleganten, absurden, skurrilen und pointierten Humors, das nur eines (gottseidank) vermissen lässt: Plattheit und Unterforderung des Publikums.
Hier vereint sich der Humor mit spannenden Rahmenhandlungen, hier bekommt man detailreiche Welten geschildert, die so schon längst untergegangen sind. Hier lernt man viel dazu, hier bekommt man einen Eindruck davon, was Kolonialismus einst bedeutete. Bücher, die informieren, unterhalten und den skurrilen, britischen Humor feiern. Eine Trilogie, die genauso wie ihr Urheber immer wieder neue gelesen und besprochen werden sollte.
P.S.: Sparfuchs-Tipp
Wem die fest gebundenen Bücher im Übrigen für ein Kennenlernen zu teuer sind, für den habe ich noch einen Tipp: Matthes&Seitz veröffentlicht nun sukzessive James Gordon Farrells Empire-Trilogie auch als Paperback zum deutlich günstigeren Preis. Troubles ist bereits erschienen, Singapur im Würgegriff folgt in diesem Frühjahr. Es lohnt sich auf alle Fälle!
P.P.S.: Schöne Kritiken zu zwei von drei Werken finden sich auch auf den Seiten von Deutschlandfunk Kultur. Eine ausführliche Kritik zu Singapur im Würgegriff findet sich hier, eine zu Troubles hier.
Man nehme etwa 30 Prozent Jules Verne und 70 Prozent Colson Whitehead, vermische kräftig, rühre einmal um et voilà: man erhält Washington Black von Esi Edugyan. Ein Roman, der von einer unglaublichen Reise erzählt, von Rassismus und von unbändigem Forscherdrang (übersetzt von Anabelle Assaf).
Schon das Cover zeigt die Richtung, in die sich das Buch bewegt. Denn die darauf abgebildete Flugmaschine spielt eine zentrale Rolle in Edugyans Buch. Sie ist es, die den Sklavenjungen George Washington Black und den Weißen Christopher Wilde zusammenbringt. Dieser ist der Bruder von Blacks Herr und Plantagenbesitzer Erasmus Wilde. Jener herrscht auf Barbados über seine Leibeigenen mit sadistischer Härte und quält sie, wo er nur kann. Ganz anders sein Bruder Christopher, der Erasmus besuchen kommt und zu dem Washington schon bald eine Beziehung aufbaut.
Christopher, genannt Titch, ist ein Charakter, der Züge Alexander von Humboldts trägt: Naturwissenschaftler, aufgeschlossener Geist und Abolitionist. Ihn treibt der Plan eines Luftschiffs um – und Washington Black erscheint ihm dafür der perfekte Partner zu sein. Der junge Schwarze ist ein talentierter Zeichner, neugierig und ergänzt sich intuitiv mit Wilde. Zusammen arbeiten sie an dem Start der wunderlichen Flugmaschine, die tatsächlich bald zur Notwendigkeit für Titch und Washington wird. Denn nach dem Freitod von Christophers Cousin müssen die beiden von Erasmus‘ Plantage fliehen. Zusammen treten sie die Reise im Fluggerät an, die die beiden einmal um die Welt führen wird. Südamerika, Nova Scotia und England sind dabei nur ein paar Stationen, die wir mit Washington im Laufe des Buchs bereisen.
Einmal um die halbe Welt
Washington Black ist eine reizvolle Mischung aus historischer Fiktion und Reiseroman. Wie der eingangs erwähnt Jules Verne hat auch Esi Edugyan viel Freude dabei, technische Gerätschaften zu erfinden, mit der sie ihr Personal auf Reisen schickt. Doch eine heitere Schnitzeljagd ist ihr Buch zu keiner Zeit. Stattdessen wirft sie auch einen genauen Blick auf die damaligen Zustände auf Barbados, Südamerika und anderswo. Die brutale Sklaverei (die Colson Whitehead in seinem Roman Underground Railroad ähnlich präzise beschrieb) und die ständige Gefahr, selbst außerhalb der Südstaaten gefangen genommen und versklavt zu werden, Edugyan schildert sie eindrücklich. Sie zeigt den brutalen Rassismus ungeschönt und wie verschiedene Gesellschaften auf Washington Black reagieren (etwa im vermeintlich aufgeklärten England oder im Ewigen Eis).
Dennoch hat ihr Roman nie eine zu große Schwere, weil Esi Edugyan eben auch viel auf Tempo und Handlung setzt. Auf den über 500 Seiten hetzen die beiden Protagonisten manchmal fast etwas atemlos (und für meinen Geschmack zu reibungslos) durch die Weltgeschichte. Kleine Abzüge gibt es von mir auch für die Figurengestaltung, denn Washington Black ist ja eigentlich noch ein Kind. Er hat nie eine Schulbildung erhalten und wird nur kursorisch von Titch erzogen. Dennoch teilt er uns Lesern mit, dass es nach „Holzkohle und Naphthalin“ (S. 337) röche. Woher er eine derartige Benennungsstärke und solche olfaktorischen Kenntnisse hat, das erschließt sich mir nicht ganz. Solche Unstimmigkeiten gibt es einige im Lauf des Buchs, wo die Perspektive verrutscht oder Washington mehr Kenntnisse besitzt, als er eigentlich haben kann. Hier merkt man die Schwäche des historischen Romans, der doch mit unserer heutigen Sicht auf die Welt verfasst ist, statt eine genuine Figur in den Mittelpunkt zu stellen. Auch fehlen Widerstände, die eine solche im Buch beschriebene Reise mit sich bringen würde (Krankheiten, Irrwege, etc.). Alles geht glatt.
Fazit
Nichtsdestotrotz unterhält das Buch wirklich gut. Es besitzt Tempo und Drive, nimmt die Leser*innen mit an exotische Schauplätze und wirft einen Blick auf die Themen Sklaverei und Rassismus. Unstimmigkeiten in der Figurengestaltung oder leichte Unwuchten im Plot seien da verziehen. Ein Buch in der Tradition von Underground Railroad.
Whitney Scharer schreibt in ihrem Debüt Die Zeit des Lichts ein klassisches Biopic über Lee Miller, die Geliebte Man Rays. Nicht weniger, leider aber auch nicht mehr.
Ausgangspunkt ist dabei Aufenthalt Lee Millers in Paris. In ihrer Heimat, den USA, war sie als gefragtes Model für Vogue und Co aktiv. Nun verbringt sie ihre Tage in den Bistros und auf den Partys rund um Montparnasse. Bei einer dieser Partys begegnet Lee Miller Man Ray. Der Fotograf hat sich mit seinen Porträtfotografien und Auftragsarbeiten einen Namen gemacht und betreibt ein Atelier, bei dem die Pariser Bohème ein und aus geht.
Die Fotografin Lee Miller
Mit Beharrlichkeit wird Lee Miller zunächst zu Rays Assistentin, später auch zu seiner Geliebten. Im brodelnden Paris der 20/30er Jahre reift Lee zur ernstzunehmenden Fotografin und Künstlerin heran und macht die Bekanntschaft von Personen wie Jean Cocteau, Ilse Bing oder André Breton. Doch nach und nach stellt Lee Miller fest, dass auch in Paris deutlich mehr Schein als Sein herrscht. So mancher strahlende Künstler stellt sich doch eher als trügerisch und falsch heraus. Auch Man Ray selbst hat seine Abgründe und ihre Liaison entpuppt sich als reichlich explosiv. Doch die Amerikanerin kämpft um ihre Selbstbestimmung und künstlerische Anerkennung. So ist Die Zeit des Lichts auch eine Geschichte des Kampfs gegen Konventionen und eine Geschichte einer Emanzipation.
Ein brodelndes und rauschhaftes Paris
Whitney Scharer entführt mit ihrem Debüt direkt hinein in ein pittoresk-brodelndes Paris voller Bistros, Kleinkunstbühnen und rauschhaften Partys. Künstlercliquen ziehen durch die Stadt, private Mäzene schmeißen Gatsby-ähnliche Partys. Sie inszeniert die Stadt und ihre Bewohner als großen Rausch, in dem sich Lee Miller zunehmend sicherer und souveräner bewegt.
Doch weder für die Schilderung der Kunst der Fotografie noch der von Paris findet Scharer neue Wege oder einen überzeugenden Zugriff. Genauso gut hätte der Roman in Berlin zur gleichen Zeit spielen können, Unterschiede wären nicht auszumachen. Und auch von der Faszination, die durch Bilder entstehen kann, konnte mir Whitney Scharer kaum etwas vermitteln. Das Problem, das ich schon bei William Boyds Die Fotografin hatte, kam auch bei Die Zeit des Lichts für mich zu tragen: die Übersetzung der Welt des Bildermachens in die der Sprache klappt nur bedingt. Eine eigene Möglichkeit, das Fotografieren und dessen Reize in Sprache zu übertragen, auch Whitney Scharer findet sie nicht.
Unkonventionelles Leben, konventioneller Roman
So unkonventionell das Leben Lee Millers auch gewesen sein mag, so konventionell ist leider das Buch gestaltet. Wir lernen zu Beginn Lee als Schatten ihrer selbst kennen. Als Kolumnistin für Kochkultur verdingt sie sich und bewirtet daheim große Tafelrunden. Sie ist dem Alkohol alles andere als abgeneigt und die Zeit war nicht gut zu ihr. Ihre Chefin stellt sie bei einer dieser Tafelrunden vor die Wahl: entweder beschreibt Miller ihre Lebensgeschichte, oder ihr Vertrag als Kolumnistin endet.
Mit diesem erzählerischen Kniff setzt dann die Rahmenhandlung ein, die die chronologisch die Paris-Phase aus Lee Millers Leben schildert. In diese geradlinig ablaufende Erzählung schneidet Whitney Scharer immer wieder kurze Episoden aus Millers Leben als Kriegsfotografin während des Zweiten Weltkriegs. Doch wie wurde aus Lee Miller diese Kriegsreporterin? Was passierte zwischen ihren Erlebnissen in Paris und im Zweiten Weltkrieg? Was geschah, bis wir Lee Miller im Prolog 1966 und Epilog 1974 wiedertreffen? All das erzählt Whitney Scharer zu meinem Bedauern nicht. Die Zeit des Lichts ist für mich voller Leerstellen, die ich gerne von der Autorin gefüllt bekommen hätte. Lee Millers Leben gäbe dies ja auf alle Fälle her. Aber stattdessen viel Weißraum in diesem Biopic, das von Nicolai von Schweder-Schreiner aus dem Englischen übertragen wurde. Leider für meinen Geschmack zu konventionell und zu brav, als dass es mich wirklich begeistert hätte.
Ein kleiner Tipp am Rande: wer neugierig geworden ist auf die Beziehung von Man Ray und Lee Miller, dem sei die unten angehängte Arte-Doku anempfohlen. Und ein Interview mit Whitney Scharer gibt es auch, und zwar unter folgendem Link.