Category Archives: Historischer Roman

Steffen Kopetzky – Damenopfer

Ein Leben, das auch fünf Bücher gefüllt hätte. In seinem neuen Roman erzählt Steffen Kopetzky vom Leben und Sterben Larissa Michailowna Reissners, die gleich ein Dutzend Leben lebte, immer mit einer klaren kommunistischen Mission vor Augen und bereit für ein Damenopfer, um ihre Ziele zu erreichen. Eine facettenreiche Lektüre, literarisch interessant gestaltet und zugleich ein Anknüpfungspunkt an Kopetzkys Bestseller Risiko aus dem Jahr 2015.


Wie fasst man ein solches Leben in einen Roman? In gerade einmal dreißig Lebensjahren war Larissa Reissner Journalistin in Afghanistan, waghalsige Agitatorin, Trotzki-Verbündete, Komintern-Strategin, Polit-Kommissarin der Wolgaflotille, Revolutionärin, Mutter, Lehrbeauftragte und bestens verknüpfte Planerin eines waghalsigen Plans.

Dutzende Facetten einer Frau, der Steffen Kopetzky mit einem ebenso facettenreichen Erzählkonzept nahekommen möchte, dessen Struktur an Eva Menasses Quasikristalle erinnert und mit dem Kopetzky nach eigenem Bekunden an den Surrealismus und die harte Schnitttechnik des ebenfalls im Buch auftretenden Sergej Eisenstein anknüpfen möchte. Diese filmischen Referenzen der 20er Jahre bildet Kopetzky hier durch einen vielstimmigen Chor an Erzähler*innen nach.

Ho Chi Minh und Anna Achmatowa als Erzähler*innen

Steffen Kopetzky - Damenopfer (Cover)

Anstelle eines personalen Erzählers entscheidet sich der Romancier für eine Vielzahl von prominenten Erzählerinnen und Erzählern, die in ihrem Leben an entscheidenden Punkten Kontakt mit der 1920 geborenen Larissa Michailowna Reissner, genannt Lyalya, hatten. Darunter sind Männer der Weltgeschichte wie Ho Chi Minh, Dichter*innen wie Boris Pasternak oder Anna Achmatowa und Militärs wie Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski. Sie alle erzählen aus ihrer Perspektive von den Berührungspunkten mit dem Leben Larissa Reissners. Es sind Begegnungen, die mal nur kurz dauerten oder sich über ein halbes Leben hinzogen – allen Erzähler*innen aber blieb die Frau eindrücklich im Gedächtnis.

Das ist bei diesem Leben allerdings auch kein Wunder. Denn egal ob Larissa Reissner in Afghanistan reportierte oder die Niederschlagung des Hamburger Aufstands der KPD beobachtete, bei der Rückeroberung Kasans im Bürgerkrieg auf Seiten der Bolschewiken kämpfte oder mit ihrem Ehemann Fjodor Raskolnikow als Politkommissarin die Wolgaflotille beaufsichtigte – stets betrieb sie ihre Unternehmen mit größtmöglicher Intensität.

Ein waghalsiger Plan

Das größte Vorhaben ihres Lebens zieht sich über die einzelnen Erzählstimmen hinweg durch den Roman. Es ist ein waghalsiger Plan, mit dem sie während ihrer Zeit in Afghanistan im Jahr 1923 zum ersten Mal befasst ist. Dort stößt sie auf die Spuren eines unter dem Pseudonym Neumann schreibenden Strategen. Er hielt den Gewinn Deutschlands gegen die imperialistische Kraft Englands für möglich. Ein Plan, den Larissa adaptieren möchte, um den Sieg des Kommunismus und damit die große Freiheit gegenüber der Weltreiche Englands oder Amerika zu erreichen. Sie setzt sich auf die Spur dieses Mannes, hinter dem sich kein anderer als der Major und letzte Ritter des Königreichs Bayern verbirgt, der aus Kopetzkys Risiko bekannte Oskar Ritter von Niedermayer.

„Niedermayer, Oskar. In Afghanistan zwischen 1915 und 1917, Hauptmann der Königlich Bayerischen Armee im Auftrag des Großen Generalstabs. Jetzt gerade, 1923, gibt es eine Buchveröffentlichung in Deutschland über seine Erlebnisse während der Expedition. Er schreibt nun als Oskar von Niedermayer. Ist also irgendwann nach seiner Rückkehr offenbar noch geadelt worden.“

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 139
Larissa Reissner (Porträt)

Während in Russland Trotzki und Stalin um die Nachfolge Lenins ringen, lernt Larissa Reissner unter Einsatz eines sprichwörtlichen Damenopfers am Ufer des Wannsees schließlich endlich jenen sagenumwobenen Militärstrategen Niedermayer, den deutschen Lawrence von Arabien, kennen.

Zum Dritten im Bunde der Revolutionäre wird der „Rote Napoleon“ Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, mithilfe dessen Reissner den Sieg des Kommunismus vorantreiben möchte. Doch bei aller Ambition dieser Pläne für eine Deutsch-Russische Weltrevolution kommt das Ende des Vorhabens abrupter als gedacht. Denn gerade einmal mit dreißig Jahren verstirbt Larissa Reissner in einem Moskauer Krankenhaus 1926 überraschend an Typhus.

Brüche und Lücken eines Lebens

Unter großer Anteilnahme wird die junge Frau zu Grabe getragen, wofür sogar der Dichter und später mit seinem Doktor Schiwago zu Weltruhm gelangende Boris Pasternak ein Gedicht verfasst, in dem ein ganzes Stück weit die Anlage des Erzählkonzept Steffen Kopetzkys selbst paraphrasiert wird:

Im Gegensatz zu einer Zeichnung bestand ein Gedicht aus einzelnen Teilen, Worten, die nicht miteinander verbunden waren, und glich darin dem Leben selbst. Es war aus Brüchen und Lücken aufgebaut. Die Natur aber hörte niemals auf, die Menschen selbst lebten eingebettet in der Geschichte, und obwohl ihr Leben aus lauter Fragmenten bestand, hielt es doch irgendwie zusammen. Das war, was er zu feiern wünschte: dass es die Einheit des Lebens nicht gab und es dennoch ein Ganzes war. Dieses Wunder zu preisen war die Aufgabe der Kunst, und das wollte er in seinem Gedicht „Zum Andenken an Larissa Reissner“ zum Ausdruck bringen, tastete sich heran, Stunde um Stunde arbeitend und leidend.

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 426

Wie schon in seinen letzten Werken Propaganda oder Risiko spannt Steffen Kopetzky auch hier wieder einen ganz weiten Bogen auf. Das führt soweit, dass er den Totengräber des Grabs von Larissa Reissner eine Episode widmet und sogar die Geschichte des Friedhofs, die bis in die Zeit von Katharina der Großen zurückreicht, in einem Rückgriff schildert.

Ganz Kopetzky-typisch verbindet auch Damenopfer Militärgeschichte mit einer persönlichen Biografie. Kulturgeschichte, Erzählung der politischen Entwicklung Russlands in der Post-Leninphase und Geopolitik vereinen sich mit einer ambitionierten Erzählstruktur. Schauplätze in Afghanistan, Leipzig oder Moskau, dazu eine Vielzahl an Figuren und Erzähler*innen und nur wenig Stringenz in der Erzählung selbst, das erfordert viel Aufmerksamkeit.

Fazit

So gefällig wie Kopetzkys letzter mit leichter Hand skizzierte Pandemie-Handstreich Monschau ist das freilich nicht. Dafür entlohnt Damenopfer aber mit einem facettierten Porträt einer faszinierenden Frau. Steffen Kopetzky erweckt die russische Geschichte der 20er und 30er Jahre mitsamt ihrer wichtigen politischen, militärischen und kulturellen Impulsgeber zum Leben und liefert ein ambitioniertes Werk ab, das viele seiner Erzählthemen fortführt und wache Leserinnen und Leser sehr belohnt!


  • Steffen Kopetzky – Damenopfer
  • ISBN 978-3-7371-0151-6 (Rowohlt)
  • 448 Seiten. Preis: 26,00 €
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Margaret Kennedy – Das Fest

Eine Familienpension am Fuße hochaufragender Klippen – und viele Gäste, die es einem nicht unbedingt leicht machen. In Das Fest erzählt die Britin Margaret Kennedy von eigentümlichen Urlaubern und einer Katastrophe in Nord-Cornwall. Eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1950.


Nein, ein Hotel ist es nicht unbedingt, auch wenn es den Namen Pendizack-Hotel trägt. Die Besitzerin Mrs Siddal hat ihr Zuhause in Cornwall zu einem Hotel umfunktioniert, das eigentlich aber eher eine Familienpension ist. Ihre drei Söhne und ihr Mann leben mit ihr im Haus – die Einnahmen bringen aber die Gäste, die das direkt am Fuß der Steilküsten gelegene Haus besuchen. Das Meer vor der Haustür, die steilen Klippen im Rücken, keine Nachbarn in unmittelbarer Umgebung, so die Selling Points ihrer Familienpension.

Eine Familienpension in Cornwall

Auch wenn die Auslastung des Hotels in den Augusttagen des Jahres 1947 zunächst noch zu wünschen übrig lässt, so versammelt sich schon bald eine skurrile Runde an Hotelgästen, die ihre Sommerfrische dort in Cornwall verbringen wollen. Das kinderlose Ehepaar Palsey, der hochmütige Kanonikus Wraxton mitsamt seiner Tochter Evangeline, Mrs. Cove mit ihren drei Kindern und die Familie von Lady Gifford, die vor allem mit ihren Sonderwünschen schon vorab die Nerven der Siddals malträtiert.

Margaret Kennedy - Das Fest (Cover)

So unterliegt die (eingebildete) Kranke einer strengen ärztlichen Diät, um ihre Gesundung voranzutreiben. Wie sie Mrs. Siddal in einem Brief vorab informiert hat, benötigt die Lady unbedingt Geflügel, Wild, frische Eier, frisches Gemüse im Gegensatz etwa zu Margarine, Trockenmilch oder Nahrungsmitteln aus Konserven, die verpönt sind. In Zeiten der Mangelwirtschaft nach dem Krieg sind diese Forderungen gar nicht einmal so leicht zu erfüllen.

Aber nicht nur in Sachen Anspruchshaltung wird die Lady noch öfter anecken, auch die Anreise im Zug gestaltet sich für die Herrschaften trotz bestochenem Personal schon schwierig, da sie die Bekanntschaft mit Mrs. Cove und ihren Kindern machen. Diese erweist sich als ebenso renitent und dickköpfig wie die adelige Matriarchin, sodass der Urlaub spannend zu werden verspricht.

Schrullige Gäste – und schrulliges Personal

Doch nicht nur die anreisenden Hotelgäste sind skurril bis schwierig – auch das Hauspersonal ist mit vielen Schrullen gesegnet. So gibt es die dauerklatschende und notorisch neugierige Mrs Ellis, die statt zu arbeiten lieber Maulaffen feilhält. Ihr zur Seite steht das Zimmermädchen Nancibel. Fachkräftemangel ist nicht nur ein Signum der Neuzeit – auch 1947 mangelt es schon an ausreichenden Bewerbern für die anderen anfallenden Tätigkeiten im Hotel, sodass auch Mrs. Siddal und ihre Söhne mit anpacken müssen, um ihren Gästen eine gute Zeit in Cornwall zu ermöglichen.

Davon erzählt Margaret Kennedy gerade zu Beginn des Romans mit einer Vielzahl von Techniken. So schreibt die Haushälterin Mrs. Ellis einen larmoyanten Klagebrief, Lady Gifford informiert über ihre Anforderungen und Wünsche für den Urlaub ebenfalls per Brief, Mr. Palsey schreibt Tagebuch, um seine Perspektive zum Ausdruck zu bringen. Später gibt Margaret Kennedy diese Formenpluralismus zugunsten eines konventionellen multiperspektivischen Erzählens wieder auf.

Es entfaltet sich die Geschichte einer Tragödie, deren Ausgang aufgrund des Präludiums absehbar ist. Im Vorspiel vor der eigentlichen Romanhandlung tauschen sich der lokale und ein in Cornwall urlaubender Pfarrer über die Katastrophe des Felssturzes aus, die sich vor kurzer Zeit ereignet hat und die für alle Pendizack-Bewohner den Tod bedeutete. Einzig die Teilnehmenden an einem Fest haben die Tragödie überlebt, da sie sich in sicherer Entfernung der Felsmassen befanden.

Ferien und andere Katastrophen

So treibt der Text neben aller Ferienschilderungen auch unaufhörlich auf die sich nahende Katastrophe zu. Daneben zeichnet Das Fest auch ein Bild des Mangels, der über das Kriegsende hinaus in England herrschte. Zwar ist es eine mildere Form der Knappheit als zu zurückliegenden Kriegszeiten, aber auch hier konkurriert man noch um Mäusespeck, Karamellbonbons und Türkischen Honig. Der Schreck der Kriegserlebnisse sitzt den Menschen noch in den Knochen und man blickt auch ganz genau auf das Verhalten der Oberschichte, das sich hier in insistierenden Fragen über den Aufenthaltsort der Giffords während der Kriegszeit äußert (auf die hin Lady Gifford einräumen muss, mit ihren Kindern nach Amerika geflohen zu sein, anstelle sich mit der gemeinen Bevölkerung solidarisch verhalten zu haben).

Margaret Kennedys Roman ist einer, der neben aller Sommerfrisch auch in der berückenden Kulisse Cornwalls die sozialen Zustände nicht aus dem Blick verliert. Es zeigt sich, dass die heute vieldiskutierten Themen des Fachkräftemangels oder der Anspruchshaltung der jungen Generation auch 1947 schon Thema waren, etwa wenn Mrs Cove über den schwächelnden Leistungswillen lamentiert:

„Es ist nicht das Geld, dem die Menschen heutzutage nachjagen. sonst wären wir nicht an diesem Tiefpunkt angelangt. Alles, was sie wollen, ist weniger Arbeit und kürzere Arbeitszeit. Der Hunger ist der einzige Ruf, dem sie folgen. Kaum sind sie satt, werden sie schlapp. Sie wollen nichts, was nach Anstrengung klingt. Auch keinen höheren Lebensstand, es sei denn, jemand bezahlt ihn für sie.

Margaret Kennedy – Das Fest, S. 350 f.

Eine versierte Autorin

MArgaret Kennedy (Porträt)
Margaret Kennedy

Neben solchen gesellschaftsdiagnostischen Dialogen ist Das Fest auch voller Humor. Figuren sprechen nebeneinander her oder fallen sich gegenseitig ins Wort. Zwischen dem Hotelierssohn und der Kanonikus-Tochter entspinnt sich eine zarte Liebesbande. Die Coves und die Giffords belauern sich beständig gegenseitig. Das ist schön gemacht und zeigt eine versierte Autorin, die Margaret Kennedy mit mehr als einem Dutzend Romane und Drehbüchern auch war.

Schade einzig und allein, dass man im herausgebenden Schöffling-Verlag auf ein einordnendes Nachwort zum Leben und Werk Margaret Kennedys verzichtet hat. Den Lesenden, denen das Leben und das vielstimmige Oeuvre der 1967 verstorbenen Autorin sonst unbekannt sein dürfte, gibt man im Buch lediglich eine biographischen Minimalskizze an die Hand. Hier hätte eine etwas ausführliche Darstellung zu ihrem vielfältigen Wirken aus kundiger Feder eine schöne Ergänzung dargestellt,

Fazit

Abgesehen davon ist Das Fest ein nostalgischer Roman, der zwar aufgrund seiner Struktur alles andere als überraschend ist, dafür aber ein genaues Bild vom Nachkriegsengland auf Sommerfrische in Cornwall zeichnet. Verschwundener schwarzer Bernstein, eine Autorin ab Abwegen, Jagd auf Mäusespeck, naseweise Kinder, überforderte Hausangestellte und noch viel mehr. Margaret Kennedys Buch lädt ein zu einer entschleunigten Lehnstuhlreise ins Pendizack-Hotel und einer Sommerfrische voller besonderer Charaktere.


  • Margaret Kennedy – Das Fest
  • Aus dem Englischen von Mirjam Madlung
  • ISBN 978-3-89561-079-0 (Schöffling)
  • 432 Seiten. Preis: 24,00 €
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Eugen Ruge – Pompeji

Redner, Strippenzieher, Machthungrige – mit seinem neuen Werk Pompeji legt Eugen Ruge einen historischen Roman vor, der sehr deutlich auf die Gegenwart zielt und auf unseren Umgang mit nahenden Katastrophen und auf rhetorisches Blendwerk blickt.


Wobei, ist das wirklich ein historische Roman? Eigentlich nicht, denn das, was Eugen Ruge in Pompeji verhandelt, das ist in der Wahl des Gegenstandes und der Erzählmittel so gegenwärtig und aktuell, dass man auch vonseiten des dtv-Verlags auf eine Labelung als historischer Roman verzichtet hat und stattdessen einfach die Zuschreibung des Romans auf das eruptive Cover gesetzt hat.

Eugen Ruge - Pompeji (Cover)

Im Gegensatz zum englischen Bestsellerautor Robert Harris, der im Jahr 2004 den Vulkanausbruch von Pompeji in seinem gleichnamigen Roman verarbeitete, ist Ruge Werk deutlich mehr als eine Nacherzählung jener damaligen Ereignisse, die Harris einst in seinem Roman darbot. In dessen acht Tage umfassender Schilderung stützte sich der britische Autor auf einen Krimiplot rund um eine Verschwörung am Fuße des Vesuv, um mit den Mitteln des Spannungsromans das bekannte historische Ereignis zu garnieren.

Ruge verzichtet auf solche erzählerischen Hilfsmittel. Er interessiert sich mehr für Machtpolitik, für Lobbyarbeit und die Strategien zur Verdrängung unangenehmer Erkenntnisse, womit Pompeji viele Anknüpfungspunkte zur Gegenwart aufweist. Allen voran liest sich sein Buch wie ein Kommentar auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe, auch wenn es im Buch die Erkenntnis eines aktiven Vulkans ist, die statt der heutigen Erkenntnisse über den notwendigen Wandel unseres Lebens verdrängt wird.

Interesse am politischen Pompeji und den Mechanismen der öffentlichen Meinung

Konzentrierte sich der Handlungsrahmen bei Robert Harris damals auf das Ausbruchsjahr 79 nach Christus, fasst Eugen Zeit und Material deutlich weiter. Sein Interesse gilt dem Leben dort in Pompeji vor der Katastrophe. Schon einmal war die Stadt einige Jahre zuvor von einem schweren Beben erschüttert worden. Doch die Bequemlichkeit der Menschen hat rasch für eine Verdrängung der damaligen Katastrophe gesorgt. Schon längst hat man wieder zu einem Alltag gefunden, den Ruge in seiner Fantasie schildert. Pompeji alias Colonia Cornelia Veneria als Ort der Politik, als Forum der öffentlichen Meinungen, das ist es, was ihn im vorliegenden Werk beschäftigt.

Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner. Dies ist die Geschichte des Vulkanvereins von seinen chaotischen Anfängen bis zu dem Tag, da er sich zu Tode feierte. Aber vor allem ist dies die Geschichte seines Gründers oder jedenfalls des Mannes, der sich dafür hielt. Es ist die Geschichte des vielbewunderten, vielgeliebten, aber auch vielgehassten, des unglaublich schlauen, aber vielleicht auch ganz mittelmäßigen Bürgers Jowna alias Josephus alias Josse.

Eugen Ruge – Pompeji, S. 11

Jener Josse steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentlich stammt er aus niederem Geschlecht, ist Sohn eines aus Pannonien geflohenen Metzgers, der sich nun in Kampanien niedergelassen hat. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau Jadwiga und dem kleinen Sohn in ärmlichen Umständen.

Vom Sohn eines Metzgers zum Bewerber um das Kapitol

Seinen Sohn hat der Metzger als Zeichen der Assimilierung und der Bewunderung des römischen Lebensstils dort in Pompeji auf den Namen Josephus ins Register eintragen lassen. Später wird daraus Josse. Ein Muster für den Umgang mit der eigenen Identität und Legende, der später noch viele weitere Beispiele folgen sollen.

Jener „Josse“ Josephus begreift Pompeji als Spielfeld, das zum gesellschaftlichen Aufstieg und den kreativen Umgang mit der eigenen Identität einlädt. So schart er eine Gruppe junger Taugenichtse um sich, verbringt die Tage zwischen Körperertüchtigung und Debatten.

Erst der Auftritt eines griechischen Sachverständigen wird zum Wendepunkt in Josses bislang recht ereignislosem Leben. Dieser hält einen Vortrag im sogenannten Vogelschutzverein, den Josse und seine Getreuen eigentlich nur der Aussicht auf die Anwesenheit von Frauen wegen besuchten. Doch die im Vortrag geäußerten Erkenntnisse des Griechen, man lebe in Pompeji auf einem Vulkan, fasst Josse trotz fehlender rhetorischer Ausbildung kurz und prägnant zusammen, sodass der junge Mann dort das erste Mal von sich reden macht.

In der Folge wird er weitere Reden halten, wird unter die Fittiche eines Rhetoriktrainers genommen, macht die Bekanntschaft mit Aufsteigern in Pompeji, wird eine Kolonie am Meer gründen, für die Abkehr von der Stadt und ein sicheres Leben in seiner Kolonie werben, um nach der Bekanntschaft mit einer höherstehenden Pompejianerin schließlich die genau umgekehrte Botschaft zu verkünden und mithilfe seines von Unterstützern finanzierten neuen Vulkanvereins für ein Leben mit dem Vulkan werben.

Der Aufstieg von Josse in Pompeji

Eugen Ruge zeigt in seinem Werk einen Aufsteiger, der teils aus günstigen Umständen, teils aus eigenem Vermögen und teils aus eigenem Unvermögen immer höher in die pompejianeische Gesellschaft aufsteigt. Mit rhetorischem Geschick und viel Blendwerk macht er von sich reden, stachelt Menschen an und wird wiederum von der Machtelite als Werkzeug benutzt.

Damit knüpft Eugen Ruge ein Stück weit an Werke wie Bertolt Brechts Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui an. Zugleich beschreibt er auch Mechaniken von Demagogen und Verführern, die in Sachen eigener Standpunkte eine erstaunliche Wendigkeit und Ungreifbarkeit an den Tag legen. Und nicht zuletzt beschreibt Pompeji auch die politischen Versuche, aus einer sich abzeichnenden Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.

So porträtiert Eugen Ruge Josse als Aufstieger, der es schließlich bis zum ernsthaften Bewerber für das Kapitol schafft, nachdem seine Getreuen in einer Schmutzkampagne andere Kandidaten aus dem Rennen geschlagen haben. In Pompeji ist es eben nicht nur der Vulkan, der Dreck in die Luft schleudert. Dirty Campaigning, Super-PACS – Begriffe, die man (noch) aus dem US-amerikanischen Wahlkampf rund ums Kapitol kennt, Ruge zeigt sie in seinem Roman schon als Mittel des antiken Kaitolwahlkampfs. Er zeigt Josse als Profiteur der Krise, die er selbst fleißig befeuert, um an die Macht zu gelangen.

Moderne literarische Gestaltungsmittel

Auch die literarischen Gestaltungsmittel des Buchpreisträgers sind doch eher Mittel von heute. Da gibt es Invektive zu lesen, die wenig römisch, dafür sehr zeitgemäß sind. Im Wahlkampfstress um das Kapitol muss Josses Geldgeberin und Chefstrategin einmal feststellen, dass ihr Besitz um ganze vier Prozent gesunken ist, obschon die Prozentrechnung erst im 15. Jahrhundert und die Betriebswirtschaftslehre noch einmal deutlich später erfunden wurde. Josse predigt, man müsse lernen „mit dem Vulkan zu leben“.

Das erinnert in seiner Inszenierung von historischem Stoff mithilfe von moderner Mittel und klarer Brüche in Sachen historischer Geschlossenheit stark an Regiearbeiten etwa von Baz Luhrman.

Das kommentierende und erzählende Wir führt die Lesenden immer wieder an der Hand, blendet sich aus Gesprächen aus, rafft Erkenntnisse und Handlungen zusammen, nimmt Vorausschauen vor und leitet quecksilbrig durch die Ereignisse.

Fazit

So ist Pompeji eine große literarische Freude. Mehr Don’t look up denn historische Nacherzählung, auch wenn Ruge im Nachwort versichert, die historischen Umstände und intellektuellen Bewegungen sehr akkurat studiert zu haben.

Hier wagt ein Autor, einen historischen Stoff auf seine Gegenwärtigkeit abzuklopfen, mit den literarischen Möglichkeiten zu spielen und aus der Vergangenheit auf das Jetzt zu blicken. Mit großem Gespür für politische Manipulationstechniken, rhetorische Nebelkerzen und die Skrupellosigkeit von Machteliten, der der Ruges Aufstieger Josse hier begierig nacheifert ist das ein hervorragender und themensatter Roman geworden, den man nur loben kann!


  • Eugen Ruge – Pompeji
  • ISBN 978-3-423-44177-3 (dtv)
  • 429 Seiten. Preis: 21,99 €
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Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug ins Chaos? In Gabriele Tergits Roman Der erste Zug nach Berlin will die junge Amerikanerin Maud Deutschland nach dem Krieg besuchen. Sie tut das im Gefolge einer Expedition voller besonderer Charaktere und lernt ein Land kennen, in dem alle nur Opfer gewesen sein wollen und in dem bezüglich alter Nazieliten eine erstaunliche Kontinuität herrscht. Böse, treffend, schnell.


Ist Gabriele Tergit nach ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren zumeist für ihre groß angelegte Familiensaga Effingers oder die Mediensatire Käsebier erobert den Kurfürstendamm bekannt, so gibt es aus dem Werk der 1982 in London verstorbenen Autorin noch immer viel zu entdecken. Der erste Zug nach Berlin ist dafür der beste Beweis.

Diesen kurzen Roman siedelt Gabriele Tergit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Die junge Ich-Erzählerin Maud begleitet im Gefolge ihres Onkels Phipps eine amerikanische Reisedelegation nach Deutschland. Die Neunzehnjährige steht kurz vor einer Hochzeit mit ihrem gleichaltrigen Freund und so ist diese Reise noch einmal die große Gelegenheit zum ungebundenen Reisen und Abenteuer, ehe sie in den Stand der Ehe eintritt.

Von Amerika ins Nachkriegsdeutschland

Im Zug finden sich illustre Gestalten, die Maud ganz genau beobachtet und karikiert:

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minverva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck.

Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin, S. 9

Inmitten vulgärer Amerikaner, Engländer mit geerbten Adelstiteln und vieler weiterer Unikate macht sich nun Maud auf, um zu reportieren und das Land der Täter kennenzulernen. Auf der Reise kommt es zu zahlreichen Diskussionen. Man streitet über Rassismus, die Press oder die richtige Strategie für das Re-Education-Programm, das den Deutschen die Folgen ihres Tuns vor Augen führen soll. Man ist sich uneins, die Argumente und Ansichten fliegen hin und her – und das zudem noch oftmals auf Englisch, das Gabriele Tergit immer wieder in den Passagen einfließen lässt (deren Übersetzungen sich dann aber auch im Anhang des Buchs finden).

Der Umgang mit der Schuld

Gabriele Tergit - Der erste Zug nach Berlin (Cover)

Ähnlich wie zuletzt auch Andreas Pflüger in Ritchie Girl blickt auch Gabriele Tergit in ihrem in den 50er Jahren entstandenen Roman auf die deutsche Nation und ihren Umgang mit der Schuld. In vielen Gesprächen will Maud ergründen, wie eine ganze Nation unter ihrem Führer Hitler mehrere Kontinente mit ihrem Krieg überziehen und Millionen von Menschen ermorden konnte. Die Erkenntnisse, die ihre Gespräche zutage fördern, sind aber ernüchternd.

Niemand will etwas getan haben, alle sind ausnahmslos Opfer, äußern antisemitische Klischees, sehen sich von feindlich gesinnten Juden in England und Amerika zu Unrecht angegriffen und weißen jegliche Schuld von sich, die sie den Alliierten zuschieben. Täter war man keinesfalls und wusste von nichts etwas – und wenn Maud und ihre Delegation dann tatsächlich auf ein misshandeltes Opfer der Nationalsozialsten stoßen, dann stirbt dieses Opfer in der Folge unterversorgt und in ärmlichen Verhältnissen, ausgegrenzt von der übrigen Gesellschaft.

Es ist viel Bitternis über diesen infamen Umgang mit der eigenen Schuld und die Kontinuitäten der Karrieren, die Nazikader an den Tag legen, wenn sie nach dem Ende des „3. Reichs“ weiterhin an zentralen Schaltstellen der Macht sitzen. Das verbindet sich in Der erste Zug nach Berlin mit viel Fatalismus und Uneinigkeit unter Amerikanern, Russen und Engländern, die allesamt auch nicht frei von Rassismus und Stereotypen sind.

Orientierung an Gabriele Tergits Original-Typoskript

Gabriele Tergits Buch ist trotz seiner Kürze keine einfache Lektüre. Sie vermengt erregte Dialoge, die vom Englischen ins Deutsche wechseln und umgekehrt, erzählt in schnellen Schlaglichtern, rast so manches Mal nur durch die Handlung und ist auf ein fast atemloses Erzählen bedacht, bei dem der Leser wie Tergits Heldin Maud so manches Mal erst begreifen muss, was hier gerade verhandelt wurde oder über was sich die Delegation da ganz genau echauffiert.

Die ganze Fülle dieses trotz seiner Kürze so vielfältigen Romans wird nun erstmals durch die vorliegende Ausgabe erlebbar. Denn wie Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, orientiert sich die aktuelle Ausgabe am Original-Typoskript Gabriele Tergits. Zwar gab es im Jahr 2000 bereits eine Ausgabe des Romans, doch der damalige Herausgeber griff stark in den Text ein, glättete, kürze und strich. Diese Bereinigungen sind nun wieder entfernt, wodurch ein vielstimmiger Roman erscheint, der uns mitnimmt direkt in die Zeit unmittelbar nach der Stunde 0 in Deutschland (die es so ja gar nicht gab, wie Der erste Zug nach Berlin eindrücklich zeigt).

Mehr Meinungen zu Gabriele Tergits Roman gibt es auch auf dem Blog von Birgit Böllinger und im HeymannBlog von Sönke Schneider.


  • Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin
  • Artikelnummer: 17460X (Büchergilde Gutenberg)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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