Category Archives: Kriminalroman

Andreas Pflüger – Endgültig

Blinde Gerechtigkeit

Jenny Aaron war einst eine Spitzenagentin für eine geheime Unterabteilung des BKA, ehe ein Einsatz in Barcelona alles über den Haufen warf. Der Einsatz lief fürchterlich schief und seitdem plagt sich die Agentin mit schwersten Schuldvorwürfen herum und ist zudem blind. Dies hält sie allerdings nicht davon ab, weiterhin für Gerechtigkeit und Wahrheit einzutreten. Mit einer unglaublichen Selbstverbissenheit und unterstützt von ihrem Vater, einem Urgestein der GSG9, hat sie sich zurückgekämpft und ist ein echtes Ass in Sachen Körperbeherrschung und Verhören. Ihre Blindheit ist ihr dabei nur Ansporn, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten

PflügerDie Ereignisse, mit den Andreas Pflüger die blinde Koryphäe in Endgültig konfrontiert, sind aber dazu angetan, sie an ihre Grenzen und darüber hinaus zu führen. Ausgangspunkt ist der Mord an einer Gefängnispsychologin in der JVA Tegel. Der mutmaßliche Mörder ist nur bereit, mit einer Person zu sprechen – Jenny Aaron. Das damit verbundene Psychospielchen entpuppt sich nur als Auftakt zu einer wahren Tour de Force, die Jenny mit alten Feinden und tief verschütteten Traumata konfrontiert. Denn wie es scheint, ist das jetzige Spiel, in dem sich Jenny wiederfindet, nur die Spitze eines Plans, der vor langer Zeit geschmiedet wurde, um Rache an der blinden Polizistin zu nehmen und sie büßen zu lassen. Doch kann sie dem diabolischen Plan wirklich entrinnen?

Selten hatte ich in letzter Zeit einen so spannenden, einen so gut geschriebenen und einen so temporeichen Roman in meiner Hand, wie dies bei Andreas Pflügers Endgültig der Fall ist. Der Autor trat bislang eher als Drehbuchautor der Weimarer Tatort-Folgen mit Christian Ullmen und Nora Tschirner in Aktion, doch auch ein Buch hat er bereits geschrieben. Dieses trägt den Titel Operation Rubikon und wurde auch mit Stars wie Jörg Schüttauf und Justus von Dohnány verfilmt.

Andreas Pflüger

Andreas Pflüger

Sein neuer Thriller ist ebenfalls mehr als filmreich, wobei das Wort Kopfkino hier einen doppelten Reiz hat. So entfesselt der Autor nicht nur tolle Bilder und inszeniert ein wahres Feuerwerk an einprägsamen Szenen, auch schafft er das Kunststück, den Leser an der Lebenswelt von Blinden teilhaben zu lassen. Er beschreibt Jenny Aarons Welt und sensibilisiert dafür, wie es sein muss, blind durchs Leben zu gehen. Vorher machte ich mir nie Gedanken, wie man Salz- und Pfefferstreuer einfach auseinanderhalten kann. Nun weiß ich das auch, dank Andreas Pflüger (Antwort – Salz raschelt, Pfeffer gibt keinen Laut von sich. Simpel – es muss einem aber auch erst auffallen.). Erinnert hat mich das Buch auch an Sebastian Fitzeks Thriller Der Augensammler, wobei jener Roman eher Kreisklasse ist, verglichen zu diesem Premium-Liga-Thriller. Alleine wer schon Sätze ersinnt wie „Die Herzmaschine jagt Verzweiflung in die Venen“ (S. 16), zeigt, dass es hier um mehr geht als die Lust am Krawall.

Natürlich darf man dem Buch auch Stereotype vorhalten – Jenny Aaron ist genauso übermenschlich gezeichnet, wie ihr Gegner allumfassend böse ist. Da diese Überzeichnung aber auch zu unterhalten weiß, war ich gewillt, diesem manchmal sehr hollywoodesken Setting zu verzeihen, da Pflüger das Spannungslevel und das Tempo über sämtliche 455 Seiten zu gehen weiß. Ein gut geplotteter Thriller, zudem auch fein gestaltet mit Brailleschrift und gelbem Buchschnitt.

Dieses Buch ist ein echter Kracher, ein Highlight im Spannungssegment dieses Frühjahrs und setzt Maßstäbe – breiteste Leseempfehlung von meiner Seite!

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Lyndsay Faye – Das Feuer der Freiheit

Timothy Wilde unter Feuer

FeuerEin Feuerteufel geht um in New York. Immer wieder gehen die Produktionsstätten des Stadtrats Robert Symmes in Flammen auf. Mit der Ergreifung des Brandstifters wird Timothy Wilde beauftragt, einer der ersten Polizisten im Schmelztiegel New York. Doch nicht nur hier brennt es – in der gärenden Stadt stehen Wahlen bevor, und so wirft auch Timothys umtriebiger Bruder Valentine seinen Hut in den Ring.  Sein Gegner hierbei – just Robert Symmes. Und geistige Brandstiftung gibt es nach der landläufigen Meinung in der Stadt auch – Frauen fordern energisch ihre Rechte ein und wollen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Eine der Wortführerinnen ist dabei die Frauenrechtlerin Sally Woods, die eins aus einer Fabrik von Robert Symmes geworfen wurde. Steckt sie hinter den Anschlägen auf seine Immobilien?

Im dritten und damit abschließenden Band um den Polizisten und Kupfersternträger Timothy Wilde ist so gut wie alles miteinander verzahnt. Das Buch nimmt Bezug auf die beiden Vorgängerbände Der Teufel von New York und Die Entführung der Delia Wright und führt die Fäden aus beiden Bänden nun zu einem schlüssigen Ende. Auch wenn die Lektüre der beiden Vorgänger vieles erleichtert – gelesen haben muss man sie nicht, Faye erklärt und erläutert mit einigen Rückblenden die Vorgeschichte Timothys. Das Feuer der Freiheit ist ein komplexes Buch, in dem die Gaunersprache Flash wieder viel Verwendung findet. Dieses ungewöhnliche Stilmittel wird mithilfe des beigefügten Glossars etwas erläutert.

Neben einem Glossar findet sich auch ein Nachwort der Autorin, in dem sie auf das große Subthema eingeht, das den Roman durchzieht. Nach der Verschleppung und Versklavung von unschuldigen farbigen Amerikaner aus dem Norden in den Süden geht es nun im vorliegenden Titel um den Kampf der Frauen um Selbstbestimmung. Jedes Kapitel wird mit einem Zitat aus einer Quelle eingeleitet, das sich mit diesem Thema beschäftigt. Viel Neues über die Widerstände und Abläufe dieses Ringens um Selbstbestimmung erfährt man hier und wird neben aller Unterhaltung auch gut informiert.

Darüberhinaus ist das Buch keineswegs trocken, sondern vermag wieder mit Spannung, Witz und viel Lokalkolorit zu überzeugen. Die Holmes-Watson-Dynamik vom Ich-Erzähler Timothy und seinem Bruder Valentine ist diesmal nicht so ausgeprägt, dennoch ein toller historischer Krimi mit einem komplexen, aber nicht zu komplizierten Plot, der wieder viel Freude macht!

 

 

Hier noch die chronologische Übersicht der New-York-Trilogie von Lyndsay Faye:

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Don Winslow – Way down on the High Lonely

Neal Careys dritter Einsatz

Drei Jahre sind vergangen, seit den turbulenten Ereignissen aus China Girl, die den jungen Privatdetektiv Neal Carey gefordert haben. Seitdem saß der Amerikaner im Reich der aufgehenden Sonne in einem buddhistischen Kloster fest, ehe nun Joe Graham auftaucht. Dieser ist Neals Mentor und hat ihn für die Bank rekrutiert, ein exklusives Unternehmen mit einer ebenso exklusiver Klientel. Für diese Bank soll Neal nun ein weiteres Mal auf ein Himmelfahrtskommando gehen. Der Sohn einer Hollywoodproduzentin wurde entführt und niemand weiß, wo sich das Kind und der Kindsvater befinden, der den Jungen gekidnappt hat.

Way down on the High Lonely - Don Winslow

Neal Carey No. 3

Ein Fall wie gerufen für Neal, der undercover ermitteln muss. Seine Spuren führen ihn schon bald in die tiefste Provinz nach Nevada, wo noch echte Cowboys und Ranger leben. Es scheint, als sei der Vater und der entführte Junge auf einer dieser Ranches untergekommen und würde sich dort vor der Welt verstecken. Neal Carey beschließt, sich auf dem Nachbargut einzuquartieren und die benachbarte Ranch in aller Ruhe auszukundschaften und zu unterwandern. Doch damit beginnen erst die Probleme, denn die Cowboys auf der entsprechenden Ranch scheinen fanatische Rassisten zu sein, die den Schwarzen, Juden und allen sonstigen Ethnien und Menschen den Kampf angesagt haben. Neal Carey muss sein ganzes kriminalistisches Talent aufbieten, um den entführten Jungen aus diesem Schlamassel zu befreien.

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Elisabeth Herrmann – Totengebet

Vernau im Kibbuz

Eine junge Frau in einem Kibbuz in Israel in den 80er Jahren auf der Flucht. Ein Angriff auf den Berliner Rechtsanwalt Joachim Vernau – was verbindet diese Ereignisse?

Elisabeth Herrmann - Totengebet (Cover)

In Elisabeth Herrmanns neuem Krimi Totengebet sind die Beziehungen der Ereignisse zunächst genauso unscharf wie die Erinnerungen Vernaus an jene Nacht, die ihn in ein Berliner Krankenhaus brachte. Die Zeitungen machen mit Vernau als Helden von Berlin auf. Er soll einen jüdischen Mitbürger vor rechten Schlägern geschützt haben und dafür Läsionen in Kauf genommen haben. Doch Vernau misstraut den offiziellen Erklärungen, kommen ihm doch ganz andere Erinnerungsfetzen in den Sinn. Er erinnert sich an eine junge Frau namens Rachel Cohen, die ihn in dringlicher Mission aufsuchte und nach den nebulösen Ereignissen in jener Nacht spurlos verschwand. Vernau ahnt, dass hinter dem Auftauchen und Verschwinden der jungen Frau ein Geheimnis stecken muss, und so macht er sich auf eigene Faust daran, die Nacht zu rekonstruieren und den Spuren der jungen Frau zu folgen. Doch es scheint, als sei Rachel Cohen ohne Spuren verschluckt worden.

Die Geschichte, die sich hinter dem nichtssagenden Titel Totengebet verbirgt, ist reichlich verwinkelt. Elisabeth Herrmann lässt Joachim Vernau diesmal in ein Kapitel seiner Vergangenheit reisen, das er schon längst abgeschlossen glaubte. 1987 verdingte er sich nämlich mit ein paar anderen Freiwilligen als Helfer in einem Kibbuz in Israel. Die damaligen genossenschaftlichen Gemeinschaften boomten, und so half auch Vernau damals mit anderen Deutschen und Juden in einem solchen Kibbuz als Volunteer beim Pflanzen und Kultivieren der Wüste aus. Doch nicht nur Arbeit spielte damals eine Rolle, in jenem Sommer verdrehte auch eine israelitische Frau allen Männer im Kibbuz den Kopf. Wo liegt nun die Verbindung zwischen der Zeit der Selbstfindung im Kibbuz und dem Auftauchen der jungen Frau in Berlin?

Die Spur führt nach Israel

Ein Kibbuz in Israel in den 80er Jahren (c) Michael Coghlan
Ein Kibbuz in Israel in den 80er Jahren (c) Michael Coghlan

Der neue Fall von Joachim Vernau entfaltet sich erst langsam und spielt zu einem großen Teil in Israel. Wohltuend, dass sich Herrmann nicht in Wiederholungen ergeht und den gefühlt 3269. Krimi mit Bezug auf das Dritte Reich und den Nationalsozialismus schreibt, sondern sich einem anderen Thema aus der israelischen Geschichte zuwendet. Die Geschichte der Kibbuze und die Schilderungen des Lebens in Tel Aviv und auf dem Land in Israel besitzen einen ganz eigenen Reiz und sind durchaus originell zu nennen. Etwas aufgesetzt wirken hingegen die gelegentlich eingestreuten Seitenhiebe auf die AfD und den Rechtspopulismus – auch wenn einer der Charaktere hier für die BfD in den Berliner Senat möchte. Dieser etwas aufgepfropft wirkende Seitenstrang wollte sich für mein Empfinden nicht ganz harmonisch ins Buch einfügen.

Ansonsten bietet Elisabeth Herrmann nach dem Durchhänger Der Schneegänger wieder Krimikunst auf gewohnt gutem Niveau. Die konstruierte Handlung weiß zu unterhalten und mit einem exotischen Setting zu punkten.

Hier noch die Übersicht der bislang erschienen Krimis mit dem Berliner Anwalt Joachim Vernau:

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Kurzkritiken

Hier einmal wieder zwei kurze (Noir)Empfehlungen für nicht ganz so kurze Bücher

Ryan Gattis: In den Straßen die Wut

978-3-499-27040-6(1)

Los Angeles, 29. April – 5. Mai 1992. Ganz Los Angeles brennt. Bürgerkriegsähnliche Zustände dominieren die Stadt der Engel und an allen Ecken und Enden droht Gefahr. Dieses Chaos nutzen die rivalisierenden Banden, um alte Rechnungen zu begleichen. Latinos, Koreaner, Amerikaner – die Gewalt macht vor keinem Halt (nicht umsonst lautet der Originaltitel All involved). Gattis erzählt aufgeteilt in sechs Teile/Tage ausgehend von einem Latino konsequent aus der Ich-Perspektive von Morden, die wieder andere Gewalt auslösen, und springt von Charakter zu Charakter. So entsteht ein vielschichtiges Bild von einer Stadt und sechs Tagen im Ausnahmezustand.

Ein schmutziger Noir-Roman in der Tradition von James Ellroy oder Don Winslow. Ein packendes Porträt voller Gewalt und Gangrivalität.

Tom Cooper: Das zerstörte Leben des Wes Trench

New Orleans: Der Süden Amerikas, das Hinterland, das Armenhaus des Landes. Nachdem die Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon den Golf von Mexiko fast vollständig verseucht hat, schlagen sich die Fischer und Bewohner des Landstrichs noch schlechter durchs Leben als bisher. Während ein Vertreter der Ölgesellschaft für seine Firma zu retten versucht, was zu retten geht, und dabei die Menschen über den Tisch zieht, flüchten sich andere in die Kriminalität. Manche bauen Gras an, andere versuchen sich als Glücksritter und suchen versunkene Schätze im Golf. Inmitten dieses bunten Ensembles versucht der Fischerjunge Wes Trench seinen Weg zu gehen und sich selbst treu zu bleiben. Doch inmitten eines solch zerstörten Umfelds ist dies alles andere als leicht.

Ein düsterer Southern-Noir-Roman aus einem düsteren Landstrich in Episodenform – Empfehlung!

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