Steph Cha – Brandsätze

Ein erschossener schwarzer Jugendlicher. Polizeigewalt, Proteste, Black Lives Matter. Es ist kaum möglich, näher an die amerikanische Gegenwart heranzukommen als in diesem Roman. Steph Cha erzählt in Brandsätze von zwei Familien, deren Schicksal durch eine verhängnisvolle Tat miteinander verknüpft ist. Und von Rassismus und Gewalt, die eine ganze Nation nicht zur Ruhe kommen lassen (übersetzt von Karen Witthuhn).


Es herrscht eine feindselige und aufgeheizte Stimmung in Los Angeles dieser Tage. Ein schwarzer Junge wurde erschossen. Die Polizei behauptet, der Junge wollte in eine Wohnung einbrechen. Dabei hatte er die Schlüssel für seine Wohnung vergessen und wollte an der Rückseite des Gebäudes in seine Wohnung einsteigen. Nach dem gewaltsamen Tod kocht nun die Stimmung über. Polizeigewalt, struktureller Rassismus, Proteste vonseiten der Black Lives Matter-Bewegung. Was sich wie eine Blaupause der jüngsten Vorfälle in Kenosha oder Wisconsin liest, hat sich die amerikanische Autorin Steph Cha in Wahrheit schon 2019 ausgedacht und veröffentlicht. 2019 spielt auch der Hauptteil ihres Romans Brandsätze, der um zwei ganz unterschiedliche Familien kreist.

Steph Cha - Brandsätze (Cover)

Da ist die Familie von Grace Park. Koreanische Einwanderer, die sich mit einem kleinen Laden im koreanischen Bezirk der Stadt eine eigene Existenz aufgebaut haben. Und da ist die Familie von Shawn Matthews. Die beiden Familie verbindet eine Bluttat, die sich kurz vor den Rodney King-Unruhen 1991 in Los Angeles zutrug.

Shawn sollte zusammen mit seiner Schwester Ava Milch für die Familie besorgen. Seit Monaten herrschte in der Stadt eine angespannte Lage zwischen den verschiedenen Ethnien, insbesondere zwischen Koreaner und Schwarzen. Nach einem Handgemenge im Laden erschoss die Ladenbesitzerin Ava, die das benötigte Geld noch in der Hand hielt, mit einer Handfeuerwaffe. Bei der Ladenbesitzerin handelte es sich um Grace Parks Mutter, die nach dem Vorfall mit einer Bewährungsstrafe davonkam.

Zwei gegensätzliche Familien

Diese Geschichte erfährt Grace erst stückweise, nachdem ihre Mutter niedergeschossen wurde. Der oder die Täter sind flüchtig. Für die Polizei steht aber schnell fest, wo sie nachforschen muss. Die Matthews geraten in das Blickfeld der Polizei, insbesondere, da man in Shawns Familie schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Derweil nehmen die Spannungen in Los Angeles immer weiter zu, nicht zuletzt auch aufgrund des eingangs geschilderten Todes eines weiteren schwarzen Jungen.

Abwechselnd blickt Steph Cha in ihrem Roman immer wieder auf die beiden gegensätzlichen Familien. Da die Familie Matthews, die mit Rassismus und einem schweren Erbe hadert. Und da die Familie Park, die sich anpassen und den amerikanischen Traum zu ihrem eigenen machen wollte, die aber auch trotz aller Assimilierungsversuche mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Steph Cha selbst hat einen Migrationshintergrund, vermeidet in ihrem Roman allerdings geschickt, für eine der beiden Familien Partei zu ergreifen. Sie erzählt ihre Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit basiert, völlig ausgewogen und weckt für beide Seiten dieser Tragödie Verständnis. Das ist erzählerisch ungemein klug gemacht und besitzt eine Relevanz, die dieser Tage immer größer zu werden scheint. Ein literarisch gut ausbalancierter Sprung mitten hinein in die Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen. Ein souveränes Buch, das auch Leser*innen von Celeste Ng, Alexi Zentner oder Leonard Pitts jr. begeistern dürfte. Diese Brandsätze haben es in sich!

Das sieht auch Marcus Müntefering bei Spiegel Online so. Und auch die Frankfurter Rundschau ist vom Roman begeistert. Jetzt dürften gerne noch ein paar Blogger*innen nachziehen. Das Buch hätte es verdient!


  • Steph Cha – Brandsätze
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-7472-0115-2 (Ars Vivendi)
  • 336 Seiten. Preis: 22,00 €
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Familienaufstellung mit Abgründen

Stephan Roiss – Triceratops

In our family portrait, we look pretty happy.
We look pretty normal, let’s go back to that

Pink: Family Portrait

Blickt man auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises, so fällt auf, dass es ein großes, bestimmendes Thema gibt: Dysfunktionale Familien. Da ist Helena Adler, die in Die Infantin trägt den Scheitel links eine solche Familie heraufbeschwört. Hier die bigotte Mutter, da der dem Alkohol nicht abgeneigte Vater. Und mittendrin die Erzählerin, die mit kindlicher Präzision auf dieses familiäre Bildnis blickt. Auch die nächste Österreicherin auf der Longlist, nämliche Valerie Fritsch, hat sich dieses Themas angenommen. Auch bei ihr gibt es in Herzklappen von Johnson & Johnson Abgründiges aus dem Schoß der Familie zu entdecken. Sie erzählt über drei Generationen hinweg von gottesgläubigen Großmüttern, Großvätern mit Herzklappen und schmerzunempfindlichen Kindern. Und von dem, was Generationen verbindet und trennt.

Auch Bov Bjerg präsentiert in seinem nominierten Roman Serpentinen eine besondere Familienaufstellung. Er bringt seine Ahnenreihe auf folgenden Nenner:

„Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere“

Bjerg, Bov: Serpentinen, S. 5

Im Roman erzählt Bjerg von einem Vater und seinem Sohn, die einen Ausflug auf die schwäbische Alb unternehmen. Stets reist die Kenntnis um die suizidalen Tendenzen in der männlichen Ahnenreihe der Familie mit. Und dann ist da auch noch Stephan Roiss, der in seinem Debüt Triceratops einmal mehr von einer dysfunktionalen Familie erzählt.

Eine Familie mit Abgründen

Im Gegensatz zu den anderen Büchern ist die Erzählinstanz in Roiss‘ Fall allerdings ein Wir. Dieses Wir ist ein namenloser Junge. Seine ältere Schwester war ein Wunschkind, er ein Unfall. Die Mutter der beiden glänzt oftmals durch Abwesenheit. Der Grund: sie befindet sich in psychologischer Behandlung. Oder wie sie es später selbst formuliert:

„Keiner kann aus seiner Haut“, sagte Mutter. „Ich war doch krank. Das habe ich mir ja nicht ausgesucht.“

Sie massierte ihre schmalen Handgelenke.

„Mein Vater hat sich das auch nicht ausgesucht. Der Krieg hat ihn krankgemacht. Und dann hat mein Vater mir seine Krankheit vererbt und ich wiederum habe – „

Sie hielt einen Moment inne.

„Ich … Ich habe es von ihm gelernt und – „

Mutter presste die Augen zusammen. Die Nachbarin klopfte das Keschernetz auf den Terrassenfliesen aus.

„Ich habe euch so viel Liebe gegeben, wie ich konnte. Ich wollte nie irgendjemandem etwas Böses.“

Roiss, Stephan: Triceratops, S. 185

Der Großvater hat sich als Kriegsheimkehrer auf dem heimischen Hof erhängt. Die Tochter fand den Vater im Stall. Damals sei dann der Wahnsinn auf die Tochter übergesprungen, so erzählt man es sich. Und nun kämpfen Sohn und Tochter beide auf ihre eigene Art und Weise mit dem familiären Erbe. Dass dieser Kampf nicht für alle Beteiligten gut ausgehen wird, so viel sei an dieser Stelle verraten. Bei dem dunklen und düsteren Ton, der im Buch herrscht, überrascht das allerdings wenig.

Das Wir erzählt

Stephan Roiss hat ein Buch geschrieben, das tief hinabsteigt in die Abgründe einer Familie. Seine Figuren, allen voran der Ich-Erzähler, sind Figuren, die im Kopf bleiben. Diesen Effekt erzählt Roiss durch eine gewisse Beiläufigkeit, mit der manche krassen Begebenheiten geschildert werden. Zudem bedient er sich auch einer verknappten und gerafften Darstellung (auch das so ein Merkmal einiger Bücher auf der Longlist). Viele Seiten sind nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Schlaglichtartig skizziert Roiss Dialoge und Szenen, die gerade durch diese Prägnanz im Kopf bleiben.

Stephan Roiss - Triceratops (Cover)

Ganz schlüssig erscheint mir die gewählte Erzählform eines Wir allerdings nicht. Eine dissoziative Persönlichkeitsspaltung seines namenlosen Erzählers oder einen anderen zwingenden Grund für diese außergewöhnliche Erzählperspektive erschloss sich mir nicht. Hätte sich Roiss auf ein handelsübliches (und für mich besser lesbares) Ich oder Er beschränkt, hätte dieser Roman keinerlei Qualitätseinbußen verzeichnet.

Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich für mich benennen kann. Ansonsten ist das Buch in seiner Stimmung und seinem Setting als Debüt mehr als beachtlich geraten. Tempo, Sound, Figuren – es stimmt alles. Zwar ist Triceratops alles andere als eine Feelgood-Lektüre. Aber als Schilderung einer österreichischen Familie mit schwerem Erbe weiß dieses außergewöhnlich erzählte Buch zu überzeugen. Und dass man sich gegen sein Schicksal nicht panzern kann wie ein Triceratops, das zeigt Roiss auch äußert eindrücklich. Zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wieder einmal eine echte Entdeckung des österreichischen Verlags Kremayr & Scheriau.


  • Stephan Roiss – Triceratops
  • ISBN 978-3-218-01229-4 (Kremayr & Scheriau)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €

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Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Um den deutschsprachigen historischen Roman ist es nicht gut bestellt. Er gleicht oftmals lieblos produzierter Dutzendware, gerne auch in Form von Trilogien oder mehr, und liest sich, als hätten die Autor*innen eine Geschichte aus der heutigen Zeit einfach ein paar Jahrhunderte nach hinten datiert. Autos werden durch Kutschen oder Pferde ersetzt, die weiblichen Heldinnen sind durchweg tough und emanzipiert und man redet wie im 21. Jahrhundert miteinander. Belanglosigkeit allenorten.

Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand (Cover)

Doch da gibt es dann zum Glück auch noch Christine Wunnicke. Die Münchner Autorin hat sich im Lauf der Jahre ihre eigene Nische erschrieben. Geschichten voller Exotik, skurrilem Humor und fantasievollen Handlungsbögen, die alle anderen historischen Romane noch blasser wirken lassen, als sie es eh schon sind. Zweimal gelang ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Der Fuchs und Dr. Shimamura im Jahr 2015, Katie 2017). Nun erscheint dieser Tage ihr neues Werk Die Dame mit der bemalten Hand. Und siehe da: auch dieses dritte Buch schaffte den Sprung auf die Longlist des Preises.

Und das zurecht, denn auch dieser Roman ist wieder ein origineller historischer Roman, der diesmal auf eine Insel in Indien entführt.

Drei Männer auf einer Insel

Dort, auf der Insel Elephanta beziehungsweise Gharapuri treffen 1764 zwei ganz unterschiedliche Männer aufeinander. Da ist zum Einen der aus Bremen stammende Carsten Niebuhr, den ein Forschungsauftrag seiner Göttinger Universität hierhergeführt hat. Eigentlich sollte ihn die Reise mit einer Gruppe anderer Forscher nach Arabien führen. Aber es kam alles etwas anders.

Jahrs darauf verließ Carsten Niebuhr Göttingen, um sich mit dem Philologus von Haven, dem Physikus Forsskål, einem Zeichner, einem Arzt und einem schwedischen Diener von Kopenhagen nach Konstantinopel einzuschiffen. Ein vielhundertseitiges Schriftstück, das die Instruktionen und alle Fragen enthielt, welche Professor Michaelis an die Bibel und ans Morgenland stellte, lag in seinm Gepäck. Vueke Gelehrte, aus vielen Ländern Europas, hatten brieflich etwas dazu beigesteuert.

Wunnicke, Christine: Die Dame mit der bemalten Hand, S. 38

Auch der zweite Mann auf der Insel hatte eigentlich ein anderes Reiseziel, nämlich Mekka. Dorthin wollte sich der Astrolabienbauer Musa al-Lahuri samt seines Helfers Malik aus Jaipur ursprünglich begeben. Doch die Windstille hat auch dieses Gespann auf Gharapuri stranden lassen. Dort, auf dieser von wenigen Menschen und vielen Affen bewohnten Insel stößt al-Lahuri nun auf den vom Fieber gezeichneten Niebuhr. Ein Schiff zur Abfahrt von der Insel ist nicht in Sichtweite. Und so lernen sich die beiden Männer allmählich kennen. Man erzählt sich gegenseitig die Lebensgeschichten oder das was man dafür hält. Man redet miteinander und aneinander vorbei, beobachtet den Himmel und kommt ins Philosophieren. Orient trifft auf Okzident.

Präzise gesetzt und von Humor durchdrungen

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein Buch, das trotz oder gerade wegen seiner Kürze von 166 Seiten eine genaue Lektüre erfordert. Wunnicke lässt ihre Figuren sich ein ums andere Mal in einem babylonischen Sprachgewirr zwischen Sanskrit, Deutsch und Arabisch verfangen. Die skurrilen Figuren agieren mal hinterlistig, mal tollpatschig, mal staunend, mal salbadernd. Durch Wunnickes ganz eigene Sprache, die pointierten Dialoge und den ihr eigenen Humor entfaltet sich in diesem Buch ein originell verknapptes Panorama zwischen Ost und West.

Der Eingang zum Tempel auf der Insel Elephanta (Stahlstich). Quelle: Wikipedia

Leser*innen, die historische Romane als breit auserzählte Auswanderer-Pilger-Königskinder-Sagas kennen, dürfte das freilich irritieren. Hier ist alles reduziert und mit Genauigkeit gesetzt. Die Figuren, obwohl oft historisch verbürgt, werden von Christine Wunnicke wild auf dem Schachbrett der Geschichte hin- und hergezogen und sind von eigensinnigem Leben erfüllt.

Wie angenehm ist es, dass solche Originalität auch ihren Platz auf dem Buchmarkt hat – wenngleich Christine Wunnicke immer noch den Status eines Geheimtipps besitzt und auch der Berenberg-Verlag, in dem die Autorin erscheint, mit seinen wunderbar gestalteten Büchern eine eher kleinere Rolle auf dem Buchmarkt spielt. Umso schöner, wenn solch literarischer und verlegerischer Mut belohnt wird, wie in diesem Falle mit einer abermaligen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises. Für die Shortlist ist dieses Buch wahrscheinlich zu eigen und wenig massenkompatibel, da es sich den gängigen Schemata widersetzt und für viele zu reduziert und karg sein könnte. Ich freue mich aber wirklich für Christine Wunnicke und die Aufmerksamkeit, die diesem Buch hoffentlich zuteil wird! Die Dame mit der bemalten Hand verdient es.

Marie Schmidt traf die Autorin für die SZ, Hauke Harder verfasste für den Leseschatz ebenfalls eine Rezension. Und auch bei Sätze&Schätze findet sich seit neuestem eine Rezension zum neuen Buch von Christine Wunnicke.


  • Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand
  • ISBN 978-3-946334-76-7 (Berenberg-Verlag)
  • 168 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michael Crummey – Die Unschuldigen

Die Einöde Neufundlands, irgendwann um 1800 herum. Mitten in der menschenfeindlichen Umgebung aus zerklüfteter Küste, Eis und Einsamkeit – ein minderjähriges Geschwisterpaar. Von ihrem Kampf ums Überleben und ihrem Zusammenleben erzählt der Kanadier Michael Crummey in seinem Debüt Die Unschuldigen.


Werden Kinder heute in jungem Alter zu Waisen, ist da ein umfangreiches Netz aus Verwandten und staatlichen Stellen, das sich ihrer annimmt und um ihr Wohl kümmert. Doch zweihundert Jahre zuvor war es um solche Kinder deutlich schlechter bestellt. Nicht nur Charles Dickens beleuchtet die soziale Realität in seinen Büchern das Schicksal von Waisenkindern eindrücklich. Was ist aber, wenn man noch einmal einen Schritt weitergeht und das soziale Netz der Zivilisation, wie durchlässig es auch immer sein mag, weglässt? Davon erzählt Michael Crummey, der seine Geschichte um zwei Geschwister in der absoluten Einöde Neufundlands ansiedelt.

Michael Crummey - Die Unschuldigen

Dort, an der Küste leben Evered und seine Schwester Ada. Die Eltern verdienen ihr kärgliches Brot mit dem Fang und Pökeln von Fisch, den sie an die jährlich vorbeisegelnde Crew eines Schiffes verkaufen, Im Gegenzug dazu erhalten sie Ressourcen für ihr Überleben draußen in der menschenfeindlichen Umgebung. Von allem ist stets zu wenig da, der Wind pfeift erbarmungslos über die Hütte, im Winter ist vor lauter Schnee und Eis nicht an Arbeiten zu denken. Irgendwie schlägt sich die Familie allerdings durch – bis kurz hintereinander die kleine Schwester, Mutter und Vater sterben. Evered und Ada bleiben als Waisen zurück. In die nächstgelegene Stadt wollen die beiden nicht. Sie versuchen, die Arbeit ihrer Eltern fortzuführen und dem Schicksal zu trotzen. Dabei ist Evered erst elf Jahre alt, seine Schwester sogar noch zwei Jahre jünger.

Eine wuchtige Geschichte

Gemeinsam nehmen sie die Arbeit in den Schären auf, versuchen sich das Handwerk des Fischfangs und elementare handwerkliche Fähigkeiten selbst beizubringen. Ihre größten Gegner sind Hunger, die unwirtliche Landschaft vor ihrer Hüttentür und die Einsamkeit.

Dieses Leben oder eher Überleben fängt Michael Crummey mit wuchtigen Bildern und einer Sprache ein, die die Härte des Lebens illustriert. So bezeichnet Evered seine Schwester schon einmal als „Pisstrine“ (Übersetzung aus dem kanadischen Englisch durch Ute Leibmann). Manche Szenen erfordern einen robusten Magen, etwa wenn die beiden ein verunglücktes Schiff durchsuchen und an Bord auf einige unappetitliche Szenen stoßen.

Auch zeigt der Kanadier die limitierte Erlebnis- und Vorstellungswelt der beiden. So erleidet ein Schoner in den Schären vor ihrem Zuhause Schiffbruch. In der Folge werden Dinge wie ein Fernglas oder ein runder, wohlschmeckender Laib angespült. Den Geschwistern fehlt ein Wort für diese Köstlichkeit, bis sie später von Gästen in ihrer Hütte über den Namen der Leckerei aufgeklärt werden: Käse.

Wie es sich angefühlt haben muss, dieses Überleben in der Einsamkeit Neufundlands, in Die Unschuldigen lässt es sich eindrucksvoll erleben. Das Buch ist wuchtig und beobachtet nicht zuletzt auch die Frage von Einsamkeit, Erwachsenwerden und Begehren sehr direkt. Ohne zu viel verraten zu wollen: die im Buch beschriebene Welt ist mit unserer heutigen moralischen Welt und unseren gesellschaftlichen Regeln nicht wirklich deckungsgleich. Aber das ist es ja auch, was Literatur sollte. Uns andere Welten mit anderen Regeln präsentieren – und die Wertung derselben dem mündigen Leser überlassen. Beziehungsweise der mündigen Leserin. Und das gelingt Michael Crummey in seinem Buch ausnehmend gut.

Fazit

Crummeys Buch avancierte in Kanada zum Bestseller, erhielt einige Preise – und das zurecht. Die Unschuldigen ist ein besonderes Buch, das plastisch und präzise das Schicksal der Waisenkinder in einer unwirtlichen und erbarmungslosen Umgebung schildert. Vergleiche etwa mit Ian McGuires Nordwasser sind nicht falsch. Eine raue, archaische Welt nahe des ewigen Eises, der Kampf ums Überleben, der hohe Opfer erfordert und Taten, die gegen unseren ethischen Kodex verstoßen. Das alles findet man in Michael Crummeys Buch. Lektüre mit Wucht.

  • Michael Crummey – Die Unschuldigen
  • Aus dem kanadischen Englisch von Ute Leibmann
  • ISBN: 978-3-8479-0052-8 (Eichborn-Verlag)
  • 351 Seiten. Preis: 22,00 €
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Deniz Ohde – Streulicht

Von der Rückkehr an den Ort der Kindheit, vom schwierigen Kampf um Bildung und gesellschaftliche Anerkennung und von unsichtbaren Schranken erzählt Deniz Ohde in ihrem Debüt Streulicht. Endlich eine deutsche Antwort auf Didier Eribon, Annie Ernaux und Co.


Schon seit längerem machen es uns die Literat*innen aus Frankreich vor. Autor*innen wie Didier Eribon oder Annie Ernaux erkunden auf Grundlage ihrer eigenen Biografien Mechanismen und Schranken der Gesellschaft. Sie versuchen, über die eigene Geschichte (oder mithilfe von Autofiktion) die Bruchlinien und blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart zu erkunden. Im Falle von Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelang dem Franzosen auch bei uns einer veritabler Bestseller. Darin setzt sich Eribon mit der Frage auseinander, warum in seiner Heimat nun so viele Menschen den Front National unterstützen und vom linken Spektrum ins rechte übergewechselt sind. Eine Analyse, die auch bei uns viele Leser*innen interessierte.

Oder etwa Annie Ernaux, die in ihren Werken anhand ihrer eigenen Biografie genaue Erkundungen des Milieus ihrer Eltern (Der Platz und Eine Frau) oder ihrer eigenen Sozialisation unternimmt. Mit wachsendem Erfolg wird die französische Autorin auch in Deutschland übersetzt und gelesen.

Deniz Ohde - Streulicht (Cover)

Bei aller Begeisterung für diese Werke stellte sich doch die Frage, warum man bei solch soziologisch grundierter Literatur eigentlich immer nur bei unseren Nachbarn fündig wurde. Das Interesse ist ja da, was nicht auch die Bestsellerplatzierungen der beiden Autor*innen zeigen. Nur deutsche Stimmen, die eine solche Art von Literatur schrieben, waren bislang nicht wirklich präsent. Bislang.

Denn mit Streulicht ist nun ein Roman zu entdecken, der genau hinschaut auf die Mechanismen und Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft. Der den versteckten Rassismus genauso wie den offenen beleuchtet. Sich für die Verwerfungslinien unseres Miteinanders interessiert. Und der Klassismus, Identität und Herkunft erforscht und betrachtet. Dies gelingt der 1988 geborene Deniz Ohde, indem sie einmal mehr eine Heimkehrer-Geschichte erzählt.

Heimkehr an den Rande des Industrieparks

Die namenlose Erzählerin zieht es zurück an den Ort ihrer Kindheit, ihr Zuhause. Der Vater lebt noch, die Mutter ist schon verstorben. In dem trostlosen Haus, das sich Zuhause nennt, kehren die Erinnerungen zurück an ihre Kindheit und ihre Familie. Wie sie dort aufwuchs in der Siedlung hinter dem Industriepark, dessen Schlote und Rohre die ganze Silhouette der Stadt prägen. Dort, wo die meisten ihrer Mitmenschen in Lohn und Brot steht und auch ihr Vater schaffte, vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche, Bleche in Lauge tauchte. Dort, wo der Industrieschnee an kalten Tagen auf alle Häuser niedersinkt und alles mit Asche und Grau überzieht. Und dort, wo der Park nachts glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse und orangeweises Streulicht aus Neonröhren die Nacht hell macht (S. 14).

Dorthin kehrt die Erzählerin zurück und nimmt uns als Leser*innen mit in ihre Kindheit. Als sie mit Pikka und Sophia das Gebiet rund um die Chemiefabrik durchstreifte. Als sie in die Schule kam und an sich und den Lehrern scheiterte. Und wie sie trotzdem beharrlich gegen alle Wahrscheinlichkeiten zur Bildungsaufsteigerin wurde. Wie sie beschloss, beginnend mit einem Zeitabonnement, dass für sie trotz ihrer Herkunft (die Mutter stammt aus einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste) trotzdem mit der Hauptschule nicht Schluss sein sollte. Dass ihr Name nicht ihre Karriere vorbestimmen sollte. Wie sie sich ihren Weg erkämpfte, durch alle Bildungsinstitutionen hindurch, von der Hauptschule bis zur Akademikerin. Davon erzählt Streulicht. Und das tut das Buch auf beeindruckende Art und Weise.

Vom unsichtbaren Rassismus

Das Buch erzählt aber auch von Rassismus, vom Gefühl, nicht dazuzugehören. Vom Gefühl, den einen Namen, der einen zum Ausländer macht, lieber zu verschweigen. Und von der Notwendigkeit, sich immer etwas mehr anstrengen zu müssen als die anderen.

Was sie nicht erzählen würde, wäre die Geschichte von meinem zwölften Geburtstag, als ich auf einem der Schultische einen Kuchen auspackte, den meine Mutter für die Klasse gebacken und in Alufolie eingeschlagen hatte. „Was ist das, ein Dönerspieß?“, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heiße Herdplatte streift, ein siebter Sinn. […]

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagte sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschen langsam zu Bode, wo sie kleben blieben wie zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte.

Ohde, Deniz: Streulicht, S. 123 f.

Fazit

Damit passt dieses Buch auch sehr gut in diese Zeit, in der die Debatten über Rassismus und Chancengerechtigkeit leider viel zu oft im Nichts versanden. Streulicht erzählt uns, wie es ist, wenn man nicht so wirklich dazugehört und sich seinen Platz im Leben gegen Widerstände erobern muss. Sein genauer Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft und das Bildungswesen zeichnen das Buch dabei aus.

Dass das Buch nun auch selbst ausgezeichnet wurde, und zwar mit einer Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises, das ist nur folgerichtig. Denn Ohdes Buch ist präzise in seiner Beschreibung unserer Gesellschaft. Der Blick in die Unterschicht und das moderne Industrie-Proletariat überzeugt. Genauso schafft sie es, den Weg einer Bildungsverliererin hin zu einer -gewinnerin plausibel zu erzählen, auch gerade durch die Nicht-Verhaftung an Realien, die das ganze Buch kennzeichnet. Für mich ist Streulicht ein Kandidat für die Shortlist des Buchpreises. Gerade auch, da das Buch eben eine deutsche Antwort auf die eingangs erwähnten (zumeist) französischen Autoren ist.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Hubert Winkels schreibt in der SZ über Ohdes Buch. Auch im Deutschlandfunk wurde Streulicht besprochen und zwar hier. Die taz widmete dem Buch ebenfalls eine Besprechung.


  • Deniz Ohde – Streulicht
  • ISBN: 978-3-518-42963-1 (Suhrkamp)
  • 284 Seiten. Preis: 22,00 €

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