Stefan Zweig – Die Welt von gestern

Man sollte mehr Stefan Zweig lesen. Diese Erkenntnis hat sich für mich nach der Lektüre von Zweigs Autobiographie Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers noch einmal verfestigt. Durfte ich bereits Zweigs Miniaturen Sternstunden der Menschheit in der kommentierten Salzburger Ausgabe lesen, widmete ich mich nun den im Exil entstandenen Erinnerungen des Österreichers. Bei der Ausgabe, die mir hierbei vorlag, handelt es sich um die von Oliver Matuschek kommentierte Fassung, erschienen im S.Fischer-Verlag. Mit 704 Seiten enthält sie über 230 Seiten Anmerkungen, Fußnoten und Hintergrundinformationen zu der Entstehungsgeschichte der einzelnen Kapitel sowie Fotografien und graphische Abbildungen.

Ohne Nachschlagewerke oder ein persönliches Archiv fertigte der 1881 in Wien geborene Schriftsteller seine Lebenserinnerungen an, wie er schon im Vorwort seines Buches betont. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der folgende Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 hatten den Schriftsteller dazu bewogen, seine Heimat in Salzburg zu verlassen. Fortan lebte er unstet, ging erst nach England, um dann über New York, Argentinien und Paraguy bis nach Brasilien zu emigrieren, wo er sich 1942 in Petropolis zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben nahm. Posthum erschienen seine Erinnerungen an jene Welt von gestern, die er hinter sich ließ beziehungsweise lassen musste. Seine Bücher, seine gesammelten Autographen und Erinnerungen blieben umzugsbedingt zurück, am Ende behielt Zweig nur seine Erinnerungen, die er auf Papier bannte und die einen präzisen Weg Europas vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnen.

Flucht ins Exil

Seine Erinnerungen umfassen dabei Persönliches genauso wie Politisches, Soziologisches und Begegnungen mit anderen Größen seiner Zeit. In einer wunderbaren, nicht antiquiert zu nennenden Sprache schildert er ausgehend von seinen Jugenderinnerungen und seiner Gymnasialzeit seinen Werdegang. Er zeichnet dabei seine Karriere als Schriftsteller nach, die ihn auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Erfolgs zu einem der meistgelesenen und übersetzten Schrifsteller der Welt werden ließ. Dies änderte sich, als die Nationalsozialisten ihn vom Buchmarkt tilgen ließen, da Zweig trotz seines literarischen Renommees als Jude alles andere als wohlgelitten war. Paradoxerweise sorgten die Nazis selbst aber auch für einen Erfolg des Schriftstellers: als dieser das Libretto für die Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss verfasste, wurde noch einmal ein Werk des Autoren zugelassen, ehe Zweig anschließend zur geächteten Person wurde.

Die Begegnungen mit Richard Strauss finden im Buch genauso ihren ausführlichen Platz wie die die Kontakte mit den Weggefährten wie Hugo von Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Romain Rolland oder Émile Verhaeren. Allen diesen Dichtern und Denkern widmet Zweig Vignetten, mal schwärmerische, mal verhaltenere Zeilen. Dabei gelingt es ihm, einen wirklichen europäischen Blick auf die Kulturlandschaft zu entwickeln, seine Übersetzungen und Reisen machen ihn zu einem weltoffenen und interessierten Menschen, der die Leser seiner Autobiographie an diesem kosmopolitischen Blick teilhaben lässt. Stark tritt in den Kapiteln (insbesondere in denen über den Ersten Weltkrieg) Zweigs Überzeugung von der Idee Europas in den Vordergrund. Seine Absagen an nationale Kraftmeiereien und den nach dem Kriegsende erblühenden Revanchismus sind deutlich und besitzen auch 75 Jahre nach dem Erscheinen seiner Erinnerungen große Aktualität und Richtigkeit.

Eindringliche Erfahrungen

Auch insgesamt betrachtet bleibt Zweigs Schaffen von großer Bedeutung, seine Themen sind universell und lesen sich frisch. Wie guter Geschichtsunterricht entfalten sich Zweigs chronologischen Schilderungen und bleiben fesselnd und eindringlich, obwohl die Geschehnisse eigentlich ja bekannt sind. Dabei spart Zweig bei aller Persönlichkeit, die durch die Form der Autobiographie bedingt ist, auch bestimmte Themen aus. Er interessiert sich eher für die geschichtlichen Zusammenhänge und sein künstlerisches Schaffen, denn für so etwas Privates wie die Liebe. Zweigs Beziehungen finden in der Welt von gestern eigentlich nicht statt.

Den von ihm gewählten Ansatz und seine entwickelten Erinnerungsbögen finde ich, um dies nun abschließend noch einmal aufzugreifen, wirklich wunderbar und – ja, ich bemühe das Wort – meisterhaft. Eine Autobiographie, die die Zeit überstehen wird und ein wahrer Klassiker ist. Frisch, eindringlich und fabelhaft geschrieben gehört sie immer wieder gelesen.

Auch Oliver Matuschek hat am Gelingen der vorliegenden Ausgabe natürlich einen immanenten Anteil, schließlich liefert er einen erhellenden Anmerkungsapparat, der Zweigs Erinnerungen noch einmal vertieft. Mit zahlreichen Fußnoten arbeitet er die Verweise in Zweigs Werk heraus, ergänzt durch konkrete Informationen auf dem neuesten Stand der Zweig-Forschung und rundet so das Leseerlebnis ab. Einzig etwas schade, dass beide Textkorpusse völlig unverbunden nebeneinander stehen. So muss man stets vom Anmerkungsapparat zu Zweigs Erinnerungen springen und umgekehrt. Alleine aus dem Text des Österreichers wird durch die Nicht-Verwendung von Fußnoten nicht ersichtlich, an welchen Passagen Kommentierungen erfolgten. So muss man immer etwas blättern oder auf Verdacht zu Matuscheks Erläuterungen springen in der Hoffnung, die vorliegende Stelle sei eine kommentierte. Hier hätten Einmerkungen im Text für mehr Klarheit sorgen und Brücken bauen können (wenngleich sie natürlich im Lesefluss irritieren können, aber ich lese hier ja bewusst eine kommentierte und keine reine Text-Ausgabe).

Ansonsten aber von diesen kleinen Anmerkungen abgesehen ist die Konzeptionierung dieser Ausgabe absolut stimmig und zeitlos. Es bleibt nur zu hoffen, dass Zweigs Erinnerungen immer wieder neu gelesen und bedacht werden – mit dieser kommentierten Ausgabe wird hierzu ein großer Schritt getan!


Bildrechte Titelbild: Andreas Maislinger – http://www.gedenkdienst.org/deutsch/stellen/stelle34.php4, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11224860

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Jean-Francois Parot – Commissaire Le Floch und das Geheimnis der Weißmäntel

Siebzehn Jahre hat es gedauert, bis die in Frankreich erfolgreiche Reihe um den Commissaire Nicolas Le Floch nun auch bei uns erschien. In der Übersetzung von Michael von Killisch-Horn liegt der Auftakt für die mehrbändige historischen Krimirreihe um den französischen Kommissar im Blessing-Verlag nun vor. Hat sich das Warten gelohnt?

In meinen Augen ja, denn Jean-Francois Parot gelingt es, die Leser zugleich in ein längst vergangenes Paris zu versetzen und zugleich einen vertrackten Mordfall zu präsentieren. Lösen darf jenen Fall der junge Nicolas Le Floch, der zu Beginn des Buchs aus seiner Heimat in der Bretagne auf Empfehlung seines Ziehvaters nach Paris geschickt wird. Dort untersteht er direkt dem obersten Polizeichef, der ihn mit einer heiklen Mission betraut. Der König wird von einem Minister mit vertraulichen Schreiben erpresst. Ein Commissaire, der den Fall lösen sollte, ist verschwunden und nun liegt es an Nicolas Le Floch, den Verbleib des Commissaires und den der Schreiben zu ermitteln.

Ein Fall, der höchstes Fingerspitzengefühl fordert und der zur echten Belastungsprobe für den jungen Le Floch wird. Man sieht die Stadt durch dessen Augen, folgt ihm in die finsteren Gassen und durchmisst auch die ganze Pariser Stadtgesellschaft, vom König bis hin zum Lumpenproletariat.

Jean-Francois Parot zeichnet ein ungeschöntes Bild von der französischen Hauptstadt um das Jahr 1760 fernab von dem Bild, das heute unser Denken dominiert. Von Haussmann-Boulevards, Eiffelturm und Hygiene keine Spur, dafür dominieren Dreck, leichte Mädchen und gedungene Mörder die Straßen. Als studierter Historiker mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert kennt sich Parot hier zweifelsohne gut aus. Schön auch, dass er trotz seiner akademischen Bildung nie zu viel Theorie oder Faktenlastigkeit in seine Erzählung einstreut.

Abgerundet wird dieser verheißungsvolle Auftakt der Reihe durch ein Personenregister, ein Glossar und angehängte Kurzbiographien der historisch verbürgten Personen, die den Roman bevölkern.

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Mein kleiner Jahresrückblick 2017

So, nun ist schon wieder ein Jahr vorbei – so banal diese Erkenntnis, so unvermittelt kommt sie auch daher. Tatsächlich habe ich das Gefühl, diese zwölf Monate seien im Schnelldurchlauf an mir vorbeigeflitzt. Der Blick in mein Lesejournal zeigt dann aber, dass trotz der manches mal recht hektischen Zeit auch einige produktive Momente darunter waren. Insgesamt hat es zu genau 180 gelesenen Büchern dieses Jahr gereicht. Eine erkleckliche Zahl, die sich aus der Überschneidung von beruflichem und privatem Lesen ergibt. Eine Rezension all dieser Titel ist natürlich nicht möglich (und lohnt auch oftmals nicht), stattdessen sei nun hier also dieses kleine Resümee über mein literarisches Jahr gezogen:

Ein große Freude war mir die Begleitung des Bayerischen Buchpreises, den ich zusammen mit den Kompetenzblogs 54Books und Sätze&Schätze begleiten durfte. Neben den netten Kontakten waren wirklich viele lesenswerte Neuentdeckungen unter den nominierten Büchern (Das Floß der Medusa, Blau, Justizpalast). Zudem durften wir drei BloggerInnen auch der Preisverleihung in München beiwohnen und twittern. Größter Erfolg hierbei – unser Hashtag #baybuch trendete in Deutschland kurzzeitig auf Platz 2 der Twittercharts hinter Der Höhle der Löwen. Wäre ja gelacht wenn wir die im nächsten Jahr auch noch zersägen.

Positiv auch, dass die meisten der von mir bewusst ausgewählten und gelesenen Büchern der Lektüre lohnten. Vor großen literarischen Enttäuschungen blieb ich 2017 gefeit, die neuen Machwerke von Arne Dahl, Juli Zeh oder Paulo Coelho seien da einmal ausgenommen. Bei der Rückschau stellte ich wieder einmal fest, dass das Jahr im Ganzen wenig Raum zum Meckern lies.

So viele spannende Bücher und Ideen, man weiß gar nicht wo man anfangen soll. Festgestellt habe ich, dass sich während meines Lesejahres unterschiedliche Schwerpunkte und Interessen ausgeprägt haben. Vor allem die spanischsprachigen Autoren haben es mir angetan, so standen 2017 überproportional viele Werke aus diesem Kulturraum auf meinem Lesezettel: Carlos Ruiz Zafon, Gabriel Garcia Marquez, Albert Sanchez Pinol, Juan Vasquez und Rodrigo Hasbún sind nur einige Autoren, die mir schöne Lesestunden beschert haben.

 

 

Auch viele Schwergewichte mit 700 Seiten und mehr waren darunter (und alle herausragend gut, genannt seien stellvertretend nur drei: Annie ProulxAus hartem Holz, Michael RoesZeithain und Chris KrausDas kalte Blut).

Weitere Highlight waren für mich Gottesdiener von Petra Morsbach, Der Gentleman von Forrest Leo, Telex aus Kuba von Rachel Kushner und Licht von Anthony McCarten. Außergewöhnliche Helden, nuancierte Charakterzeichnungen, fesselnde Plots, außergewöhnliche Schauplätze. So sollten Bücher immer sein – doch nicht alle sind es. Umso schöner, dass diesen vier Büchern dieses Kunststück gelingt.

 

Weitere Highlights in meiner Jahresbilanz waren die Romane Die goldene Stadt von Sabrina Janesch, Die Geschichte der Einsamkeit von John Boyne, Transatlantik von Colum McCann und Die Rettung des Horizonts von Reif Larsen. Egal ob Peru, Irland oder Kroatien – die Bücher erschlossen mir neue Räume und ließen mich im Kopf reisen (auch wenn man natürlich einwenden könnte, dass nicht alle dieser Titel 2017 erschienen, aber es geht ja hier um Bücher, die ich dieses Jahr für mich entdeckte).

 

Bei einem anderen Genre hingegen stellt sich bei mir zunehmend ein Gefühl von Überdruss ein- die Rede ist von Krimis und Thrillern. Die Namen und Plots klingen austauschbar, das Personal bleibt meist diffuser als Novembernebel. Tumbe Ermittler stampfen durch die bayerische Provinz und jodeln die Lösung des Falles herbei, depressive trinkende Hausfrauen beobachten Morde und zweifeln an ihren Erinnerungen oder Serienkiller morden mit exotischen Werkzeugen und führen die unfähige Polizei an der Nase herum.

Den Vogel in puncto sinnlosester Buchtitel und absurderster Plot des Jahres hat dabei einmal mehr der Leserliebling Sebastian Fitzek mit Flugangst 7a abgeschossen.  (ein militanter Veganer will auf die Verbrechen der Milchindustrie hinweisen, ein Psychiater reserviert sich 4 Plätze in einem Flugzeug und soll auf jenem Flug eine ehemalige Patientin zurücktherapieren, damit diese das Flugzeug, in dem sie sich befinden, zum Absturz bringt, sonst stirbt seine Tochter). Hat man da noch Worte? Verkaufen tut sich dieser Schrott aber blendend, die Leser lieben es und man könnte beim Blick in die einschlägigen Foren denken, Fitzek sei der nächste Nobelpreisträger. Für mich ist dieser Mann ja ein inverser König Midas. Alles was er anfasst, wird zu Mist.

Aber genug des Meckerns, auch bei den Krimis ließen sich 2017 auch großartige Perlen entdecken. Dieser Bücher, die die vorhersehbaren oder absurden Muster aufbrechen und etwas ganz Neues kreieren, sie bescherten mir höchst spannende Lesestunden. Es seien hier die Werke von Andreas Pflüger (Operation Rubikon, Niemals), Viet Thanh Nguyen (Der Sympathisant) und Dennis Lehane (Dunkelheit, nimm meine Hand) genannt.

 

Insgesamt bin ich also, wie schon während des Artikels bemerkt, hochzufrieden mit meinem Lesejahr 2017. Besonders freut es mich auch, wie sich der Blog hier entwickelt, wie er wächst, neue Leser erhält und wie sich spannende Kontakte und differenzierter Meinungsaustausch ergeben. Das belebt und macht das Lesen und Schreiben zu einer großen Freude. So kann es 2018 weitergehen!

 

Was waren eure Bücher des Jahres? Was hat euch 2017 begeistert oder wovon wollt ihr nichts mehr lesen?

 

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Viet Thanh Nguyen – Der Sympathisant

Zwei Herzen in meiner Brust

Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit zwei Gesichtern. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin. (Nguyen, Viet Thanh, Der Sympathisant, S. 9)

Was für ein Einstieg in den Roman Der Sympathisant von Viet Thanh Nguyen. So groß wie der Einstieg in das Buch ist auch der ganze Rest dieses außergewöhnlichen Romans – ein ganz großer Wurf! Nguyens Buch betrachtet die Verwerfungen Vietnams in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Doppelagenten, der nicht mehr weiß, welchem Land seine Treue gehört und wer er eigentlich selbst ist.

Diese Dialektik, die schon durch das kongeniale Cover und das Intro eingeführt wird, setzt sich in der Person des Ich-Erzählers fort. Jener sitzt gerade in Haft und legt nun ein schriftliches Geständnis ab. Mithilfe dieses klassischen Kniffs fächert nun Nguyen die Biographie seines (Anti)Helden auf. Wer er ist und wie er zu dem wurde, was er nun ist, das blättert sich langsam vor den Augen des Lesers auf. Die Janusköpfigkeit dieses Erzählers gründet schon in seiner Geburt, denn er kam als Bastard eines Amerikaners und einer Vietnamesin zur Welt. Diese Mischung verwehrte ihm zeitlebens den Zugang zu geschlossenen Kreisen und sorgt dafür, dass er schon in der Schule stets abgestoßen wurde und sich außerhalb der Gesellschaftsschichten wiederfand.

In seinem Wirken setzt sich diese doppelte Polung nahtlos fort, denn schon zu Beginn des Romans muss der Sympathisant im Gefolge eines Generals aus dem unter Beschuss stehenden Saigon fliehen. Hier setzt die Handlung ein und begleitet die Flucht des Erzählers bis nach Amerika. Dort lässt sich der General mit seiner Entourage in Los Angeles nieder. Während nun die Expats aus Vietnam ein Leben fernab von Panzerbeschuss und militärischen Verwerfungen führen, wird der Sympathisant langsam zwischen seinen Identitäten zerrieben. Besonders deutlich wird dies bei einer der eindrücklichsten Episoden des Buchs – denn als „echter“ Vietnamese soll er Hollywood beim Drehen eines Blockbusters unterstützen, der den Vietnamkrieg thematisiert. Auch wenn dieser Film im Buch den Arbeitstitel Das Dorf trägt, so sind doch die Bezüge kristallklar erkennbar (Francis Ford Coppola lässt grüßen).

Immer weiter erodieren die Sympathien, immer unklarer wird, wohin der Sympathisant eigentlich gehört. Diese Zerrissenheit fasst Viet Thanh Nguyen in sprachgewaltige Bilder (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch durch Wolfgang Müller). Weiß oder schwarz? Der Sympathisant ist eindeutig grau, weder ist er klarer Held, noch Antiheld. Zerrieben zwischen den Polen, gebunden an ein Land, das ebenso fremdbestimmt ist und war wie der Sympathisant selbst. Nguyen bietet keine Antworten, sondern beobachtet nur, die Gräuel des Krieges fasst er genauso wie sinnliche Szenen in Worte. Zu Recht wurde dieser Roman mit dem Pulitzerpreis im Jahr 2016 ausgezeichnet, denn der vietnamesisch-amerikanische Autor schafft es in diesem meisterhaft komponierten Buch, einen Gegenblick auf das normalerweise von der amerikanischen Lesart dominiert Kapitel Vietnam und dessen Konflikte zu werfen. Stark!

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Klaus Modick – Der kretische Gast

Goethes Heldin Iphigenie wollte einst das Land der Griechen mit der Seele suchen – Johann Martens ist in Klaus Modicks Der kretische Gast schon dort angekommen. Und dies in mehr als stürmischen Zeiten, wie schon der Ankunftsflug zeigt. Denn nicht nur die Maschine wird in den Luftströmungen über der griechischen Insel durcheinandergewirbelt – auch die politischen Verhältnisse sind mehr als turbulent. Denn Johann Martens betritt im Jahre 1943 die Insel. Die Deutschen haben Kreta mehr oder minder okkupiert, doch die Zivilbevölkerung leistet Widerstand, die Truppenstärke bröckelt und die Siegesserie der Deutschen hat sich schon lange ins Gegenteil verkehrt.

Eine angespannte Lage, von der Martens anfangs nur wenig merkt. Denn ihn führt ein ganz spezieller Auftrag nach Kreta. Er soll für Hitler-Deutschland die Kuntsschätze der Insel dokumentieren und archivieren. Der attisch-hellenistische Kunst mündet laut Meinung der Auftraggeber ja unmittelbar in die arische Kunst – und Martens soll diese blödsinnige These nun mit Material aus Kreta unterfüttern. Dieser kommt seinem Auftrag natürlich gerne nach, hält ihn die Arbeit doch von seiner unter Bombenbeschuss stehenden Heimat fern. Zudem verlor er Eltern und Geliebte in einem Bombenangriff, sodass Kreta für ihn einen Neustart bedeutet. Und dieser nimmt sich auch gut aus. Zusammen mit seinem griechischen Führer Andreas Sidaris erkundet er die Insel, ein klein wenig die Kunstschätze und sehr ausführlich die kretische Lebensart.

Modick zeigt zunächst ein Kreta wie von der Postkarte oder Nikos Kazanthakis‘ Alexis Sorbas. Viel Glückseligkeit, Ouzo, Sonne und Gastfreundschaft. Von den aufziehenden Wolken ist anfangs wenig zu spüren. Aber Klaus Modick ist ein zu guter Schriftsteller, um sich nur auf Griechenlandklischees auszuruhen. Seine Geschichte greift viel tiefer, je weiter die Erzählung voranschreitet. Denn schon bald steht Martens‘ Loyalität auf einem harten Prüfstein, als er sich zwischen seinen Auftraggebern und den rebellischen Kretern entscheiden muss. Und dann ist da auch noch die hübsche Eleni, die Johann gewaltig den Kopf verdreht …

Für die Erzählung wählt Klaus Modick zwei Handlungsstränge, um Johann Martens Schicksal zu erzählen. Da ist zunächst der 1943 spielende Strang, der dessen Abenteuer auf der Insel beschreibt. Sekundiert wird das Ganze von einem 1975 spielenden Erzählbogen, in dessen Mittelpunkt Hollenbach steht, ein junger Mann auf Sinnsuche, der die Geheimnisse seines Vaters ergründen will. Jener Vater war 1943 der Vorgesetzte von Johann Martens – so entfaltet sich ein reizvolles Panorama aus Vergangenheit und Gegenwart, das für viel Abwechslung sorgt.

Über 550 Seiten gelingt Klaus Modick mit Der kretische Gast das, was man landläufig einen wunderbaren Schmöker nennt. Auch wenn dieses Werk Klaus Modicks schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, lohnt die Lektüre des kretischen Gastes immer noch über die Maßen. Klaus Modick ist und bleibt ein wunderbarer Schriftsteller, der mit Keyserlings Geheimnis schon bald wieder von sich hören lassen wird!

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