Samuel W. Gailey – Die Schuld

Wie lange geht das gut, vor einer Schuld davonzulaufen – oder geht das überhaupt? Die junge Alice O’Farrell probiert es in Samuel W. Gaileys Krimi Die Schuld, muss auf ihrem Weg von Pennsylvania nach Wilmington aber feststellen, dass man dem Schicksal nicht wirklich entkommen kann.


Einst war sie eine verheißungsvolle Schwimmerin und lebte zusammen mit ihrer Familie ein recht durchschnittliches, aber zufriedenstellendes Leben. Nun, sechs Jahre später muss die inzwischen 21-jährige Alice feststellen, dass all das Geschichte ist. Denn nachdem ihr kleiner Bruder trotz der ihr aufgetragenen Betreuung einen tragischen Tod fand, geriet Alice‘ Leben aus den Fugen.

Sie floh aus ihrem Zuhause, lebte auf der Straße und ist nun im Jahr 2011, in dem der Hauptteil von Gaileys Krimi spielt, vollkommen abgestürzt. Sie verdingt sich in einem heruntergekommenen Strip-Etablissement hinter dem Tresen, gibt sich dem Alkohol hin, wobei regelmäßig Abstürze und Blackouts an der Tagesordnung sind – sogar ein eigenes Bewertungssystem für die Heftigkeit der Abstürze hat sie bereits entwickelt.

Sie traf meist bemerkenswert schlechte Entscheidungen, wenn sie sich betrank, was oft der Fall war, also jeden Tag. Anders gesagt, sie konnte sich an keinen einzigen nüchternen Abend in den letzten Jahren erinnern. Es war ein Teil von ihre geworden. Nicht dass sie stolz drauf war, aber sie hatte sich damit abgefunden. Wer konnte schon aus seiner Haut?

Samuel W. Gailey – Die Schuld, S. 19

Nach einem solchen Absturz erwacht Alice zu Beginn des Buchs – nur um ihren Chef neben sich vorzufinden. Dieser befindet sich allerdings noch in einem erheblich prekäreren Zustand als Alice selbst – er ist nämlich tot.

Alice auf der Flucht

Neben seiner Leiche in seinem Zuhause findet sich eine Tasche mit tausenden von Dollars sowie jeder Menge Betäubungsmittel. Nachdem sie nach einem Zögern die Polizei über den Tod ihres Chefs informiert hat, tauchen schon nach kurzer Zeit zwei Gangster auf, die den Besitz des Verstorbenen an sich nehmen möchten. Nach einem Shootout mit der Polizei und vielen Toten beschließt Alice, die Tasche mit dem Geld an sich zu nehmen und zu fliehen. Ein folgenschwerer Fehler, denn nun haftet sich der kleingewachsene Sinclair in Begleitung des tumben Phillip an die Fersen der Flüchtigen, die sie zusammen auf ihrer Flucht verfolgen.

Samuel W. Gailey - Die Schuld (Cover)

Es ist ein recht klassischer Krimiplot, den Samuel W. Gailey in Die Schuld kredenzt. Da das gefallene Mädchen, das die Tasche mit Geld an sich nimmt und fliegt, da die Gangster, die sie verfolgen, um wieder in den Besitz des gestohlenen Geldes zu gelangen. Auch ist der Krimi in vielen Passagen oftmals eher ein solides B-Movie denn ein wirklich origineller Plot, etwa wenn die beiden Gangster den zitternden Motelverwalter „interviewen“, um an weiterer Infos über den Verbleib von Alice zu gelangen.

Hier hat man das Gefühl, ähnliches schon dutzendfach gelesen und gesehen zu haben. Dennoch aber gibt es auch Punkte, die Die Schuld über eine platte Wiedererzählung des Bekannten hinausheben.

Das ist die Frage des Umgangs mit eigener Schuld, die hier vielfach gespiegelt wird. So läuft Alice ja gleich vor einer zweifachen Schuld davon. Da ist natürlich die Tasche mit dem Geld, das ihr nicht gehört und das für viel Ärger sorgt. Genauso läuft Alice ja aber auch bereits seit ihren Teenagertagen vor dem Tod ihres Bruders davon, den sie hätte eigentlich beaufsichtigen sollen.

Ein Absturz und die Verdrängung von Schuld

Ihren Absturz, ihre Flucht und den Alkohol und die Menschlichkeit, die ihr während dieses Absturzes in Form des Kammerjägers Elton begegnet, das zählt zu den interessanten Aspekten dieses Krimis, der immer wieder zwischen den initialen Ereignissen im Jahr 2015 und der Gegenwart sowie zwischen der Perspektive der Jäger Sinclair und Phillip sowie der Gejagten auf ihrer Flucht durch die halbe USA hin und herwechselt.

Die Welt, in der der Samuel W. Gailey die Geschichte ansiedelt, ist dabei eine dunkle und vor allem dreckige Welt. Trailerparks, schäbige Motels ohne Zimmerservice, viel Düsternis und Schmutz wohnt diesem Erzählen inne. Zudem ist Die Schuld auch kein wirkliches Plädoyer für den amerikanischen Nah- und Fernverkehr, denn selbst das Reise mit der Bahn oder dem Bus ist hier schmutzig und wenig einladend.

In der Logik der Geschichte selbst ist das aber höchst stimmig und zeigt die ganze Tristesse, die Alice Lebensbahn seit dem Tod ihres kleinen Bruders genommen hat.

Nun bleibt nur noch die Frage bestehen, ob es gelingen kann, vor dem eigenen Schicksal und den unverarbeiteten Traumata zu fliehen oder diese zu verdrängen. Die Antwort darauf liefert Samuel W. Gailey auf eigene Art und Weise – lesen muss man sie allerdings schon selbst!


  • Samuel W. Gailey – Die Schuld
  • Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
  • ISBN 978-3-948392-96-3 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 26,00 €
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R. F. Kuang – Babel

Es klingt zugegebenermaßen nach einer wilden Mischung: Babel ist ein Fantasyroman, angesiedelt in einem alternativen Oxford der 1830er Jahre, der sich hauptsächlich mit Sprache, Kolonialismus und Übersetzen beschäftigt. Was in der reinen thematischen Zusammenfassung noch recht disparat klingen mag, entfaltet im Falle von R. F. Kuangs Buch eine große Faszination, die auf mich den gleichen Reiz ausübte wie im Roman das Silber auf das gesamte britische Empire .


Sprache und Übersetzen als zugrundeliegende Themen eines Fantasyromans einer Amerikanerin, der in Oxford, also dem Herzen britischer Gelehrsamkeit spielt? Dass das funktioniert, stellt die Rebecca F. Kuang in ihrem Roman Babel eindrücklich unter Beweis. Denn sie weiß, wovon sie schreibt, was auch ein Blick in ihre eigene Biografie zeigt. Denn die Autorin arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Übersetzerin, hat an der Universität von Oxford einen Soziologie-Master im Fach zeitgenössischer Chinastudien erworben, besitzt noch dazu einen Philologie-Master in Chinastudien, den sie an er Universität von Cambridge erlangt hat.

Viele dieser beruflichen und studierten Themenfelder finden sich in ihrem Roman, der im seuchengeplagten Kanton in den 1830er Jahren seinen Ausgang nimmt. Hier wird ein Junge kurz vor dessen Tod vom englischen Professor Lovell gerettet, der ihn mithilfe eines mysteriösen Silberbarrens anders als die restliche Familie vor dem Tod bewahren kann. Er nimmt den Jungen als sein Mündel an und reist gemeinsam mit seiner Haushälterin Mrs Piper zurück nach in sein Herrenhaus in Hampstead nahe London. Dort soll der Junge, der sich auf der Überfahrt in seine künftige Heimat das Alias Robin Swift zu seinem neuen Namen erwählt hat, eine grundlegende Ausbildung erhalten.

Gewissenhaft bereitet ihn der britische Professor auf eine besondere Karriere vor – denn für ihn ist ein ganz besonderer Ausbildungsplatz vorgesehen. Er soll in Oxford Sprachen und Übersetzungskunst studieren, um später der Gilde der Übersetzer im legendären Bauwerk Babel beizutreten. Dort übersetzen und übertragen viele studierte Arbeitskräfte und Professoren Texte aus der ganzen Welt, korrespondieren und leisten damit wichtige Arbeit für das Fundament des britischen Empires, das auf der Kraft des Silbers beruht.

Silber, die Kraft des britischen Empires

Denn durch die Kraft der unterschiedlichen Sprache werden Silberbarren mit Energie aufgeladen, die wiederum das koloniale Weltreich Großbritanniens am Laufen hält. Übersetzungen und Herleitungen von Begriffen sind es, die ins Silber hineingraviert diesem seine unnachahmliche Kraft verleihen. Eine Kraft, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen der Städte Anwendung findet. Laternen leuchten heller, Gärten blühen ausgiebiger und der Unrat in den Abwasserrohren wird durch die Einwebung von Silberadern schneller abtransportiert.

Sie standen gemeinsam am Fenster. Während er den Blick über Oxford streifen ließ, hatte Robin den Eindruck, dass die ganze Stadt einer exakt konstruierten Spieluhr ähnelte, die sich ausschließlich auf Zahnräder aus Silber verließ, um so zu funktionieren; wenn das Silber jemals versiegen sollte, wenn die Resonanzstäbe zerfallen sollten, dann würde ganz Oxford kreischend zum Stillstand kommen. Die Glockentürme würden verstummen, die Droschken würden mitten auf der Straße stehenbleiben, und die Bürgerinnen und Bürger würden erstarren, ihre Gliedmaßen mitten in der Bewegung eingefroren, ihre Münder offen, das nächste Wort unausgesprochen.

R. F. Kuang – Babel, S. 282

Es ist wahrlich ein komplexes Räderwerk der Technik und vor allem der Macht, dem auch Robin später einmal dienen soll. Als chinesischstämmiger Brite kommt ihm im Zusammenwirken von Sprache und Silber nämlich eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn als er in Oxford sein Studium antritt, findet er sich in der Gesellschaft anderer Studierender, die ebenso wie Robin aus Kolonien oder weit entfernten Gegenden stammen. Vor allem deren Muttersprachen sind es, die sie für die Babbler (so eine nimmermüde Verballhornung der Spracharbeiter im Übersetzungsturm) so interessant machen, schließlich sind diese bislang noch kaum erschlossen. Viel Potential für neue Übersetzungen auf den Silberbarren also, mit denen auch Robin und Co das Fortbestehen des britischen Empires sichern sollen.

Doch wie der junge Student im Lauf dieser Mischung aus Fantasy, Campusroman und Kolonialismuskritik namens Babel feststellen muss: die Mehrsprachigkeit und sein Studium hat nicht nur Vorteile. Denn es ist keineswegs gesichert, dass die Arbeit an den Übersetzungswerken dem hehren Ziel der Völkerverständigung dient. Wie er nach einem zufälligen Treffen mit Mitgliedern des geheimen Hermes-Bundes feststellen muss, kann Übersetzung kann auch ein Akt der Ausbeutung sein. Doch für welche Seite wird sich Robin entscheiden?

Das Räderwerk der Macht

Babel beleuchtet ausgiebig die Macht der Sprache und der kulturellen Hegemonie, die im Falle von Rebecca F. Kuangs Roman durch die Kraft des Silbers symbolisiert wird. So beruht die Macht des Empires auf den mit Übersetzungen gravierten Silberbarren, die das Reich durch Ausbeutung anderer Länder gewinnt. Konzentriert ist die Macht und Wirkung des Silbers ganz auf die Kapitale London, in der sich wiederum alle Macht in den Kreisen der Eliten und Mächtigen verdichtet. Ein großes System der Ungerechtigkeit, das durch die Arbeit in Babel weiter gefestigt und am Laufen gehalten wird.

R. F. Kuang - Babel (Cover)

Und auch wenn die Welt von Babel auf den ersten Blick eine fantastische sein mag, so sind die Parallelen zu historischen Wegmarken in der Geschichte des British Empire groß. Die Opiumkriege, die industrielle Revolution, die zur Verarmung der Weber führt, Ludditen und Maschinenstürmer – und die davon unbeirrte Ordnung der reichen Eliten oben und armer Bevölkerung unten, einem nach Macht und Größe strebendem Weltreich und die damit einhergehende Ausbeutung des restlichen Teils der Welt. All das führt Babel eindrücklich vor Augen.

Zu den größten Verdienste Rebecca F. Kuangs zählt dabei, dass ihr die Verbindung aus kritischem Denken und Unterhaltung so mühelos gelingt. Sozial-, Kapitalismus- und Kolonialismuskritik, Elementen aus Bildungsroman, Dark Academia, Coming of Age, Frantz Fanon und Bibelzitate und ein ganzes Proseminar an Übersetzungstheorie: es steckt alles drin, was diesen Roman zudem in vielen aktuellen Diskursen und Trends verankert (was auch ein Stück weit den immensen Erfolg des Buchs weltweit erklärt).

Auf keiner Seite bricht Babel an seiner Last zusammen, im Gegenteil. Ebenso luftig und filigran wie die Bauwerke in den Gassen Oxfords, die Robin und die anderen durchstreifen, so ist auch dieser Roman. Ein unterhaltsamer Roman mit Mehrwert, der die Vergleiche zu Joanne K. Rowlings Harry Potter aufgrund der ähnlich liebevoll beschriebenen Schul- beziehungsweise Universitätswelt evoziert.

Eine Hymne auf das Übersetzen

Und nicht zuletzt, sondern vor allem ist Babel auch eine Hymne auf das Übersetzen, die Mehrsprachigkeit und die Kraft des Worts (weshalb auch die beiden formidablen Übersetzerinnen Heide Franck und Alexandra Jordan an dieser Stelle unbedingt Erwähnung finden müssen, die Babel im Deutschen neugeschöpft haben).

Kuang schafft ein Grundverständnis für die Komplexität und Schwierigkeiten von Übersetzungen, die ja immer Neuschöpfungen und Nachbildungen anderer Sprachen und Texte sind – bis hin zur Frage, ob es so etwas wie eine „reine“ Übersetzung überhaupt geben kann.

Immer ist die Übertragung und das Übersetzen Thema – was sich nicht nur in der Theorie oder der Namenswahl Robin Swifts äußert, der ähnlich wie Jonathan Swifts Schöpfung Gulliver bei dessen Reisen permanent zwischen Sprachen und Heimaten hin und herwechselt, sondern auch die Handlung vorantreibt.

Seine Überfahrt aus China nach London und später einmal retour, sein Schwanken zwischen der Welt des Turms von Babel und der Welt der revolutionären Anhänger des Hermes-Bundes, seine Ausgrenzung in der britischen Gesellschaft aufgrund des Äußeren, die alternative Freundschaft mit seinen ebenfalls ausgegrenzten Mitstudent*innen, die Bewertung anderer Figuren – stets ist dieser Roman in Bewegung, nimmt Robin unterschiedliche Positionen ein, entwickelt sich und schwankt in seinen Loyalitäten. Auch das ist es, was Babel trotz der immensen Lauflänge von über 700 Seiten so unterhaltsam und kurzweilig macht.

Fazit

So möchte ich eine große Empfehlung für diesen vielschichtigen, fantasievollen, unterhaltsamen wie kritischen Roman aussprechen, der in ein Oxford reisen lässt, das auf den ersten Blick zwar silberdurchwirkt und glänzend wirken mag, aber seine wahre Seiten erst spät zeigt. Rebecca F. Kuang gelingt es, die Leser*innen vollumfänglich in eine andere Welt abtauchen zu lassen, deren Bezüge zur Gegenwart aber unübersehbar sind. Babel hinterfragt unsere Ordnung, feiert das Übersetzen und die Widerstandskraft des Einzelnen. Besser noch als jeder Silberbarren!


  • R. F. Kuang – Babel
  • Aus dem Englischen von Heide Franck und Alexandra Jordan
  • ISBN 978-3-8479-0143-3 (Eichborn)
  • 736 Seiten. Preis: 26,00 €
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Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe

Aus kleinen Handlungen entsteht das Leben, aus vielen Leben entsteht die Welt, so heißt es in Cho Nam-Joos neuem Roman Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe. Doch was ist, wenn diese Handlungen immer nur negative Auswirkungen haben und man sich auf einer schiefen Ebene wiederzufinden meint, auf der es immer nur nach unten geht? Davon erzählt die südkoreanische Autorin anschaulich und zeigt eine kleine Familie, der das Scheitern in den Genen zu liegen scheint.


Dass unser Viertel zu den ärmsten in Seoul gehörte, konnte man sich an fünf Fingern ausrechnen. Die Quote von Jugendlichen, die von zu Hause ausrissen, war hier am höchsten, die derjenigen Schüler, die auf die Oberstufe gingen, am niedrigsten. Und auch wenn es hierzu keine Statistiken gab, stand doch fest, dass die Vielfalt der Beilagen auf dem abendlichen Essenstisch, die Anzahl der Schuhpaare pro Person und die Häufigkeit, mit der man ein Bad nahm, hier am geringsten waren. Das Viertel S-dong, ein typisches Seouler „Mondviertel“, kleine Häuschen auf steilen Hügeln, „dem Mond nahe“, mein Zuhause.

Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe, S. 25

Sie, die hier so schonungslos über ihr Zuhause spricht, ist Mani, die zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einem dieser Mondviertel in einer Wohnung in erbarmungswürdigem Zustand lebt oder besser gesagt haust.

Eine offene Toilette in Form eines Lochs im Boden wurde zwar einmal durch ein Sitzklo ersetzt, für die allgemeinen Zustände ist aber der vorherige Zustand der Toilette bezeichnend. Fernab der pulsierenden Stadtviertel lebt die kleine Familie in einer zu kleinen Wohnung mit schlechter Isolierung, heruntergekommenem Äußeren und gesperrten Zugangswegen, was im Gesamteindruck eher einem Slum aus dem Mittelalter denn einer wirklichen Wohnung in einer Großstadt Ende der 2000er-Jahre gleicht.

Ein Leben wie in einem Slum

Zwar wird immer wieder eine Aufwertung der Wohnungen in Aussicht gestellt, gar von einem Neubau und einer damit einhergehenden Entschädigung der Bewohner des Wohnviertels ist die Rede – konkret ändert sich aber nichts an den defizitären Zuständen.

Cho Nam-Joo - Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah (Cover)

Doch nicht nur die Wohnung der Familie Manis ist heruntergekommen, auch die restlichen Faktoren ihres Lebens sind alles andere als glücksbegünstigt. Ihre Arbeitsstelle hat sie verloren, ihr Traum einer Karriere als Kunstturnerin nach Vorbild der rumänischen Kunstturnerin Nadia Comaneci hat sich längst zerschlagen, Beziehungen sind auch gescheitert und so wohnt sie nun mit 37 Jahren als eine Art alter Jungfer, so ihre kritische Selbstbetrachtung, noch immer mit ihren Eltern unter dem durchlässigen Dach der Wohnung in S-dong.

Mit der Ehe ihrer Eltern steht es nicht viel besser. Für ihre Tochter hatten sich Manis Großeltern eigentlich einen Sprössling aus gutem Hause vorgestellt, den Absolventen einer höheren Schule – stattdessen wurde es einer der Arbeiter, der die höhere Schule baute. Statt einem Studium an einer Fachhochschule wurde Manis Mutter noch im ersten Semester schwanger und brach den vorgesehenen Bildungsweg ab. Die Karriere ihres Vaters sieht auch nicht besser aus. Er arbeitete in einer Brikettfabrik, gab diese Arbeit aber zugunsten seines Traums von einem eigenen Schnellimbiss auf, der allerdings immer konkreter vom Ruin bedroht wird.

Gescheiterte Lebensentwürfe, gescheiterte Leben?

Die Konsequenz der lebensplanerischen Fehlschläge der südkoreanische Kleinfamilie am Übergang zu gescheiterten Leben zeigt Cho Nam-Joo mit großer Genauigkeit, wofür sie immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden hin und herwechselt. So beschreibt sie die Kämpfe um besseres Wohnen dort im „Mondviertel“, die Wahlkämpfe und Bestechungen der Bauträger, geht aber auch zurück in die Schulzeit Manis und zeigt den Wunsch der Schülerin nach einer Karriere im Kunstturnen, der aber auch durch Mobbing und das mangelnde Geld ihrer Eltern vereitelt wurde.

Betrachtet man Nam-Joos Erzählung hinsichtlich des eingangs benannten Zitats, lässt sich auf Hinblick der Familie konstatieren, dass die meisten Handlungen der Familie gescheitert sind. Auch das Leben der drei, das aus diesen Handlungen erwuchs, kann man – zumindest bis zum Zeitpunkt der Handlung von Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah – nach gewöhnlichen Maßstäben als gescheitert ansehen. Nun bleibt in letzter Konsequenz dann die Frage nach der Welt, die aus den kleineren Schicksalsschlägen und Ausgrenzungen solcher Menschen wie der Familie Manis erwächst.

Diese schwingt in Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah immer mit, in dem sich Cho Nam-Joo als wahrhaft sozialkritische und genau beobachtende Autorin präsentiert, die auch vor Beschreibung sanitärer Ausnahmesituationen und der damit verbunden fäkalen Zustände oder anderer hygienisch heikler Themen nicht zurückschreckt.

Eine sozialkritische Autorin mit genauem Blick

Es ist eine Genauigkeit und Schonungslosigkeit, die sie auch schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Kim Jiyoung, geboren 1982 unter Beweis stellte und den sie hier nach dem Thema der Benachteiligung von Frauen nun auf die gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen in den Slums der „Mondviertel“ erweitert.

Ihre Schilderungen des Lebens dort in den Vierteln und die Erbarmungslosigkeit, mit der das Leben Menschen wie der prototypischen Kleinfamilie mitspielt, lässt nichts Gutes für die Gesellschaft in Südkorea erahnen. Der Mond mag zwar nah sein, wo diese Familien wohnen, die Sonnenseite des Lebens bekommen sie allerdings nicht zu sehen.

Dieses Thema der Sozialkritik und der Anklage herrschender Verhältnisse führt auch in einer klaren Linie von Cho Nam-Joos eigener Kindheit in Armut über ihren Überraschungserfolg Kim Jiyoung, geboren 1982, den vor drei Jahren erschienen Roman Miss Kim weiß Bescheid bis hin zu dem diesem Buch, das zeigt, dass Cho Nam-Joo über diese Jahre nichts von ihrer Sozialkritik eingebüßt hat. Im Gegenteil.

Fazit

Hier erzählt eine engagierte und genau beobachtende Autorin, die ihre Wut über die herrschenden Zustände in wuchtige und zugleich fein ausbalancierte Prosa zu überführen weiß. Schriebe die Autorin auf Deutsch, sie wäre eine geradezu prädestinierte Aspirantin für den Brecht-Preis, die Sozialkritik mit spannenden Plots und großer erzählerischer Genauigkeit verbindet.

Ein spannender Titel, der Einblicke in südkoreanische Milieus und Zustände erlaubt, die man hierzulande so gar nicht auf dem Schirm hat, obgleich natürlich auch die Hoffnung besteht, dass sich nun einige Jahre nach der beschriebenen Handlung auch in den Mondvierteln alles zum Besseren gewendet hat. Liest man Wo ich wohne, da ist der Mond ganz nah, darf man daran aber durchaus so seine Zweifel haben…


  • Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
  • Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks
  • ISBN 978-3-462-00583-7 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
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Daniel Kehlmann – Lichtspiel

In seinem neuen Roman Lichtspiel holt Daniel Kehlmann den heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Regisseur G. W. Pabst zurück ins Licht – und blickt auch auf die dunklen Seiten in dessen Leben. Kehlmann gelingt ein Roman, der sich literarisch das abschaut, wofür Pabst einst berühmt war: die Schnittkunst.


Lichtspiel ist ein Roman über einen Menschen, dessen Leben alleine schon genug Material für einen spannenden Roman bietet. Wie etwa Hans Pleschinski in Wiesenstein zeigt auch Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman einen Künstler zur Zeit des Nationalsozialsmus, dessen Hadern mit den Machthabern, aber auch seine Anpassung an ein System, das für den einst „roter Pabst“ genannten Regisseur eine wichtige Rolle vorsah.

Ein linker Regisseur – gefördert von den Nationalsozialisten

1925 machte G. W. Pabst erstmals mit seinem Film Die freudlose Gasse von sich Reden. Dieser Stummfilm sorgte für den Durchbruch von Greta Garbo, die neben Stars wie Asta Nielsen in der Verfilmung des Buchs von Hugo Bettauer zu sehen war. Ungeschönt zeigte der Filme die soziale Kluft und die grassierende Armut in einem Wiener Armenviertel, was zum Ruf Pabsts als sozialrealistischer und dezidiert linker Regisseur beitrug, was dieser wiederum mit Filmen wie seiner Adaption der Dreigroschenoper oder den Antikriegsfilm Westfront 1918 verstärkte.

Filme mit dem Hollywoodstar Louise Brooks folgten – und auch in Hollywood versuchte Pabst Fuß zu fassen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Teils vom maladen Zustand seiner Mutter, teils mit dem Versprechen völliger Kunstfreiheit heimgelockt begab sich Georg Wilhelm Pabst dann wieder zurück nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Dort drehte er mit Förderung durch das Propagandaministerium unter anderem mit dem Schauspieler Werner Krauß, den er in seinem Film Paracelsus besetzte. Sein letzter Film dieser reichsdeutschen Phase, Der Fall Molander, gilt als verschollen.

Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus blieb Pabst dem Medium Film verbunden, drehte weitere Werke, ehe der Österreicher 1956 mit Durch die Wälder, durch die Auen den letzten seiner rund 40 Filme drehte. 1967 schließlich verstarb Pabst in Wien und geriet als Zeitgenosse von anderen Regiestars wie Fritz Lang oder Leni Riefenstahl etwas ins Vergessen.

G. W. Pabst – der Meister des Schnitts

Daniel Kehlmann holt den einst als „Meister des Schnitts“ gerühmten Regisseur wieder zurück ins öffentlich Bewusstsein – und bedient sich für die Montage seines Romans ebenjener Schnittkunst, die auch Pabst zum gefeierten Stummfilm- und später Tonfilmregisseur machte.

Daniel Kehlmann - Lichtspiel (Cover)

So beginnt der Roman auch alles andere als erwartet. Denn nicht Pabst steht im Mittelpunkt, sondern ein inzwischen schon reichlich dementer ehemaliger Assistent des Meisters, der in der Nachkriegszeit im österreichischen Fernsehen interviewt wird. Extra aus seinem Altersheim abgeholt soll er vor laufender Kamera über seine Zusammenarbeit mit Pabst und die gedrehten Filme, darunter Der Fall Molander, Auskunft geben.

Dies spannt die erzählerische Klammer des Romans auf, der mit den tatsächlichen Dreharbeiten des Films in Tschechien unmittelbar vor Kriegsende seinen Ausklang finden wird. Dazwischen montiert Kehlmann weitestgehend chronologisch entscheidende Szenen aus Pabsts Leben, die er fiktional anreichert und aneinanderreiht. Trotz eines anfänglichen Gefühls der Unverbundenheit fügen sich diese in der Gesamtheit des Buchs doch, obgleich die Schnitte sehr hart sind.

Licht und Schatten eines Lebens

So nimmt Kehlmann Pabsts Frau Trude oder den Sohn in den erzählerischen Fokus, erzählt von Hollywoodstars, denen er begegnet. Auch Nazi-Funktionäre oder ein Hausmeister haben ihre Auftritte, bei denen Pabst so manches Mal auf den ersten Blick kaum auftaucht – aber er ist doch immer präsent.

Aus all den Figuren und Momenten formt sich das Bild eines Menschen, der für den Film lebte, dafür aber auch immer wieder Kompromisse einging und sich anpasste.

„Drehen kann fast jeder“ , sagte Pabst. „Beim Schneiden macht man erst wirklich einen Film“

Daniel Kehlmann – Lichtspiel, S. 398

Doch nicht nur die Schnitte und die Montage sind in diesem Buch herausragend. Auch spielt Kehlmann mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens, etwa wenn man Zweifel an Pabst und seinem Blick auf die Realität bekommt. So gleicht ein Antrittsbesuch bei Propagandaminister Goebbels einem halluzinierendem Trip, bei dem nicht wirklich klar ist, was sich nun abspielt. Auch der Tathergang eines Unfall mit einer Leiter in der heimischen Bibliothek im österreichischen Dorf Dreiturm provoziert zumindest Fragen. Immer wieder gibt es solche Szenen, die sich nicht wirklich auflösen lassen und in ihrer Ambiguität fortbestehen.

Diese Doppelbödigkeit flicht Kehlmann auch an anderen Stellen immer wieder geschickt ein. Großartig beispielsweise die Szene, in der Pabsts Frau Trude ob ihrer Passgenauigkeit zu einem literarischen Zirkel von Frauen einflussreicher Nazis geprüft wird und in dem sich alle gegenseitig belauern und darüber die erschreckend schlechte Prosa des NS-Autoren Alfred Karrasch in den Himmel loben (die ihr Mann dann trotzdem für die Machthaber verfilmen wird).

Dieser Sinn für Zwischentöne, für Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit macht aus einem Künstlerporträt eines interessanten Menschen einen auch literarisch überzeugenden Roman, der die Erinnerung an G. W. Pabst wachhält.

Fazit

Lichtspiel ist ein Text, bei dem sich das ganze Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen hart geschnittenen Szenen miteinander ins Bild setzt und einen Schritt zurücktritt. Dadurch entsteht das Bild eines Künstlers und Menschenlenkers, der trotz seinem Sinn für Schnitt, die Montage und den genauen Blick gerne auch die Augen verschloss vor den Ungerechtigkeiten und dem Terror der Nazis (etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Leni Riefenstahl oder eigenen Dreharbeiten, bei denen auch Kriegsgefangene und Insassen von Arbeitslagern zum Einsatz kamen).

Kehlmann gelingt ein schwebendes, spannend erzähltes und literarisch ebenso interessant gestaltetes Künstlerporträt, das Licht und Schatten im Leben eines Menschen zu einem tatsächlichen Lichtspiel miteinander vereint.

Auf den Seiten des Rowohlt-Verlages gibt es auch ein einsichtsreiches Interview zu Kehlmanns Perspektive auf Pabst und die Themen des Romans.


  • Daniel Kehlmann – Lichtspiel
  • ISBN 978-3-498-00387-6 (Rowohlt)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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