María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier

Vom Stachelschwein bis zum Käfer – alles in María Ospina Pizanos Naturgeschichte ist beseelt. Sie erzählt in Für kurze Zeit nur hier vom Leben und Überleben der Tiere – und ihrem Nebeneinander neben dem Mensch. Leider lässt der Roman dabei eine überzeugende Idee hinter den einzelnen Episoden vermissen.


Alles beginnt mit einem Straßenhund, der im ersten Teil dieses aus insgesamt vier Episoden bestehenden Romans von den Straßen Bogotás weggefangen wird. Kati – so der spätere Name der Hündin – trifft im Tierheim auf die Hündin Mona, mit der sie sich anfreundet. Damit kommt dieses Hündinnengespräch übertitelte Kapitel schon zu seinem Ende und María Ospina Pizano wendet sich dem nächsten Tier in ihrer Reihe zu. Dafür geht es in die Luft, denn die Wanderung eines Scharlachkardinals steht im Fokus jenen Kapitels, das sowohl das längste und das überzeugendste in diesem Buch ist.

Der Weg dieses Zugvogels ist einer voller Mühen und Gefahren, die Pizano ausführlich schildert. Der zur Ordnung der Sperlingsvögel zählende Kardinal entgeht auf seinem Weg in den Süden nur knapp einem großen Vogelsterben zwischen den Wolkenkratzern Manhattans. Er überfliegt Statuen, sieht Geflüchtetencamps voller Minderjähriger an der Grenze zwischen den USA und Mexiko unter sich hinwegziehen. Er taucht auf dem Radar von Flughäfen auf und lässt sich weder von ausgebrachten Pestiziden noch von Ozeanen aufhalten, die er überquert, um dann am Ende seiner Kräfte doch noch sein Ziel zu erreichen.

Von Hunden, Vögeln, Maden und Stachelschweinen

María Ospina Pizano - Für kurze Zeit nur hier (Cover)

Dieser Episode folgen noch zwei kürzere Geschichten. Die erste handelt von einer Made, die in der Tradition Eric Carles zum Käfer wird und nach ihrer Verpuppung einige Abenteuer erlebt. Nach ihrem Weg aus der Erde gelangt das Käferweibchen zunächst in einen Kühlschrank – was dann schon eher an den Käferspezialisten Franz Kafka erinnert. Aus dem Kühlschrank setzt sich die Reise per Mangoldblatt und Auto über hundert Kilometer bis nach Bogotá fort, um schlussendlich im Magen einer Amsel zu landen.

Die letzte Geschichte in diesem fast ausschließlich aus tierischer Perspektive geschilderten Erzählreigen ist eine Erzählung, in der die menschliche Perspektive am ausgeprägtesten ist. Hier erzählt die 1977 in Bogotá geborene María Ospina Pizano von einer Frau, deren Hund einst ein trächtiges Stachelschwein riss. Das kaum überlebensfähige Stachelschweinbaby rettete die Frau aus dem Bauch der Mutter und zog es auf. Doch angesichts der Strafen, die die kolumbianische Regierung für die private Haltung solcher Wildtiere vorsieht, überantwortet sie das Jungtier nun einem sogenannten Wildtier- und Wildpflanzenversorgungs- und -begutachtungszentrum in Bogotá. Dort soll das junge Stachelschwein ausgewildert werden.

Es sind vier Geschichten, die nicht nur im Ausdruck und der Länge recht verschiedene sind. Sie alle verbinden sich zu einem mehr oder minder funktionierenden Reigen, da Pizano im letzten Teil des Romans das Zwiegespräch zwischen denen im ersten Teil eingeführten Hündinnen Kati und Mona wieder aufgreift, ehe es durch eine Adoption Katis zum Erliegen kommt.

Nezahualcóyotl und das indigene Erbe Kolumbiens

Wirklich rund oder stimmig ist das leider nicht wirklich, obschon Pizanos Debüt gleich mit einem Literaturpreis, nämlich dem Premio Sor Juana Inés de la cruz ausgezeichnet wurde und viele lobende Pressestimmen auf dem Buchrücken versammelt.

Kommend von der Forschung über Gewalt, Natur und Erinnerung in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur hat María Ospina Pizano an der Harvard University studiert – und diesen gelehrten Hintergrund merkt man Für kurze Zeit nur hier auch an.

So ist das Zitat, das dem von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzten Buch den Titel gibt, eine Zeile des Herrschers und Dichters Nezahualcóyotl, der im 15. Jahrhundert im präkolumbischen Mesoamerika lebte. In seinen Zeilen beschwört er die Vergänglichkeit unseres Daseins auf der Erde. Damit liefert Pizano den wohl deutlichsten Hinweis, in welcher Tradition sich Maria Ospina Pizanos Text sich sieht.

Das kulturelle und indigene Erbe Südamerikas speist diesen Roman, nicht nur in vielen Zitaten. Vor allem der Gedanke des Animismus, als der Beseeltheit der ganzen Welt und damit auch der Tiere, spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, das Tieren auf der Erde und in der Luft eine Perspektive gibt.

Dazu gesellen sich viele Gedanken und Theorien von Denker*innen und Autor*innen wie Ocean Vuong, Cristina Peri Rossi, Jaques Derrida oder Gabriela Mistral, die im Text aufgegriffen werden.

Der fehlende rote Erzählfaden

Doch leider ist die animistische Perspektive ebenso wie die ganze Erzählhaltung dieses Romans nicht überzeugend, da sich María Ospina Pizano mit erzählerischer Halbherzigkeit begnügt. Statt konsequent aus den Augen der Tiere auf die Welt zu blicken, ist es ein wenig überzeugendes Gemisch aus auktorialem Erzähler und Tierperspektive. Woher soll das Käferweibchen wissen, dass es hundert Kilometer zurückgelegt hat und sich nun in Bogotá befindet? Woher weiß die Hündin, dass es ein Bolero ist, der der Kehle ihrer neuen Besitzerin entströmt oder dass die Statue, die sie in Bogotá passiert, Simon Bolivar zeigt? Die profunde Kenntnis menschlicher Kulturbegriffe der Tiere bleibt ebenso unklar, wie das erzählerische Ziel María Ospina Pizanos.

Statt sich wirklich konsequent auf die tierische Perspektive eizulassen und daraus auch auf das zerstörerische Verhalten der menschlichen Spezies in puncto Vergangenheit und Gegenwart zu schauen, schwankt sie zwischen Tier und Mensch, zwischen indigenem Erbe und unterschiedlich überzeugenden Kapitel, denen zumindest für mich in der Gesamtschau einen überzeugenden roten Faden vermissen ließen, der dabei helfen würde, die einzelnen Episoden zusammenzuhalten.

Alles wird kurz angerissen, verfliegt dann aber wieder wie der über Manhattan kreisende Vogelschwarm. In ihrer Erzählhaltung und Qualität sind Pizanos Geschichten, deren Verbindung nicht über kleine gegenseitige Cameos der Tiere und Figuren in den anderen Geschichten hinausreicht, einfach zu disparat.

Eher Kurzgeschichten denn ein stimmiger Roman

Was hätte dieses Buch für Chancen geboten. Der Umgang mit dem indigenen Erbe in Kolumbien, das Miteinander von Tier und Mensch auf dem Planeten, das eher einem Gegeneinander gleicht, und die Veränderungen, denen dieses Miteinander unterliegt. Auch die Wanderungen der Tiere hätte ein spannender Ansatzpunkt werden könnten, ahmt doch der Mensch zunehmend das Wanderverhalten von Tieren nach, und das nicht nur im gezeigten Grenzland zwischen Süd- und Nordamerika. All das hätte hochinteressantes Erzählmaterial ergeben.

Aber leider blitzt all dies nur kurz auf. Durch die Unverbundenheit der Episoden hat Für kurze Zeit nur hier eher den Charakter von Kurzgeschichten, die kaum in faszinierende Tiefen vordingen wollen oder können. Dass es möglich wäre, das zeigt ja wie schon erzwähnt die Geschichte des Scharlachkardinals, die Pizanos Erzähltalent und die profunde Beschäftigung mit ihren Themen erahnen lässt. In der Ganzheit aller Geschichten ergibt sich aber leider trotz viel Potential kein überzeugender und stimmiger Roman.

Mir ist das leider zu wenig. Wie man überzeugender den Blickwinkel ändert und aus ungewohnter Perspektive erzählt, das hat Samantha Harvey zuletzt mit Umlaufbahnen bewiesen. Dahinter bleibt María Ospina Pizano in allen Belangen leider zurück.


  • María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-293-00622-5 (Unionsverlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Nenad Veličković – Nachtgäste

Wie kann man nur vom Grauen des Krieges erzählen? Nenad Veličković entscheidet sich in seinem Roman Nachtgäste für die Perspektive einer jungen Frau, die in ihren Notizen und Niederschriften das Bild des belagerten Sarajevo inmitten des Bosnienkriegs entstehen lässt. Nicht nur die junge Frau fragt sich, wer hier eigentlich gegen wen kämpft – und vor allem wozu?


Obschon die Gräuel des Bosnienkrieges in den 90ern mehr oder minder vor unserer Haustür stattfanden, sind die Erinnerungen an das Kriegsgeschehen schon wieder sehr verblasst, wenn sie überhaupt je so präsent waren wie andere Kriegsgeschehen zur der damaligen Zeit, etwa der kurz zuvor begonnene Zweite Golfkrieg, den die USA gegen den Irak führten.

Auch in der Literatur fristet der Bürgerkrieg, der fast 100.000 Menschen das Leben kostete und zur Flucht und Vertreibung von fast 2,2 Millionen Menschen führte, ein Schattendasein. Zwar behandeln deutsche Autoren (Tijan Sila, Tanja Miljanović, Saša Stanišić) den Konflikt ebenso wie kroatische Autoren, darunter Miljenko Jergović oder Faruk Šehić – auf Interesse stoßen die zumeist von idealistischen Kleinverlagen herausgegebenen Werke besonders der fremdsprachigen Autor*innen dabei nur bedingt. Angesichts der überwältigenden Fülle von westlich zentrierter Literatur hat es diese Art von Büchern schwer.

Aus Logiergästen werden Nachtgäste

Nenad Veličković - Nachtgäste (Cover)

Der österreichische Jung und Jung-Verlag unternimmt jetzt einen weiteren Versuch, den im Original bereits 1995 erschienenen Roman Nenad Veličkovićs seinem Publikum zugänglich zu machen. Schon einmal war das Buch in deutscher Übersetzung im Jahr 1997 unter dem Titel Logiergäste erschienen. Nun liegt der Roman knapp zwanzig Jahre später in einer leicht überarbeiteten Übersetzung von Barbara Antkowiak dem Lesepublikum zum zweiten Mal vor.

Darin lässt Veličković seine Erzählerin Maja von einer ganz besonderen Schicksalsgemeinschaft berichten. Die junge Studentin erzählt in ihren Aufzeichnungen vom Krieg, der sie und ihre Familie in das vom Vater betreute Museum im Herzen Sarajevos verschlagen hat, das den Schauplatz des Romans bildet.

Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt.

Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, dass sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, dass Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar.

Nenad Veličković – Nachtgäste, S. 8 f.

Nicht nur Maja ist einiges nicht klar, auch für die Leser*innen bleibt die Lage in Sarajevo unübersichtlich. Wer kämpft nun gegen wen, wo verläuft die Front, was soll der Krieg überhaupt erreichen? Neben der Sinnlosigkeit und der Brutalität des Kriegs und des Überlebenskampfes inmitten des diffusen Kriegsgeschehen lässt Maja in ihren Aufzeichnungen auch ein Bild des skurrilen Miteinanders der Nachtgäste entstehen. Nicht von ungefähr reicht der im Buch zitierte Bogen von Literaten deshalb von Jaroslav Hašeks und dessen braven Soldaten Schwejk über Karel Čapek bis hin zu Ivo Andrić. Auch Nenad Veličkovićs Schreiben deckt die Schattierungen dieser Autoren von absurd bis tragisch ab.

So erzählt Nenad Veličković vom Miteinander der bunt zusammengewürfelten Truppe. Da der Portier Brkic und dessen Freund Julio, die sich aus alten Partisanenkämpfen kennen. Dort die Großmutter, der Hund Sniffy, der Vater, Majas Mutter, die mit ihrem Hand zum Vegetarismus die Nerven der Gäste strapaziert, und dazu noch ihr Bruder Dávor mit dessen hochschwangeren Frau Sanja.

Die Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf

Ihr Miteinander beschreibt Maja ebenso wie den Alltag im Museum, bei dem Truppen zu Gast sind, ein wagemutiger Ausbruchversuch mit einem improvisierten Ballon unternommen wird und der Weg mit Kanister zur Wasserverteilung schon einmal zum gefährlichen Gang wird, wenn die Serbo-Sniper lauern und sich die Müllberge in der abgeschnittenen Stadt immer höher türmen.

Daraus entsteht ein Bilderbogen, der von der Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf erzählt – und wie der Krieg mitsamt dem Belagerungszustand alle die Unterscheidung solcher Dinge zum Verschwinden bringt. Egal ob drohende Niederkunft von Majas Schwägerin, ein über Dávors Kopf schwebender Einberufungsbefehl oder die Suche nach dem verschwundenen Sniffy. Für alles ist in Nachtgäste Platz und Nenad Veličković kann es durch die gewählte Form und Perspektive glaubhaft vermitteln.

Nicht nur angesichts der Konflikte etwa in Israel oder in der Ukraine birgt Nachtgäste viel Allgemeingültiges und erzählt nachvollziehbar, wie sich Krieg anfühlt, der durch den Schauplatz des bewohnten Hotels gleichzeitig auch etwas Enthobenes und Absurdes bekommt.

Fazit

Nenad Veličković gelingt mit Nachtgäste ein lesenswertes Buch, das die Schrecknisse des noch gar nicht so lange zurückliegenden Krieges wieder wachruft. Im zweiten Anlauf ist diesem Werk nun hoffentlich der Erfolg und die Aufmerksamkeit beschieden, die es neben den Werken der anderen eingangs erwähnten serbischen, kroatischen und bosniakischen Autor*innen verdient und die Markt und Kritik hierzulande viel zu oft links liegen lassen.


  • Nenad Veličković – Nachtgäste
  • Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak
  • ISBN 978 3 99027 411 8 (Jung und Jung)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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Cristina Henríquez – Der große Riss

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump als 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist er wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt – der Panamakanal. Auf ihn erhebt der amerikanische Präsident Anspruch, obschon der Kanal gar nicht auf amerikanischen Boden liegt. Aber die Fremdbestimmung über das Gebiet auf dem Isthmus durch den Nachbarn im Norden hat Methode, wie Cristina Henríquez in ihrem Roman Der große Riss zeigt.


Ein rothaariger Marinesoldat aus Louisiana, der sich während der Reise mit John angefreundet hatte –John zufolge hatten sie eine Runde Dame gespielt, während Marian krank in der Kabine gelegen hatte – stand mit ihnen bei der Reling.

Er sagte: „Wir sind in einen Sumpf gekommen!“

John nickte. „Richtig. Und wir werden hier Ordnung schaffen.“

Cristina Henríquez – Der große Riss, S. 27

Da ist sie wieder, die Hybris der amerikanischen Oberschicht, die gleichzeitig mit Verachtung und einem gesunden Sinn für die eigenen, kolonialen Interessen auf den Rest der Welt blickt. Ist das noch Ordnung oder schon eher die Durchsetzung des eigenen Vorteils in fremden Ländern, der aus solchen Zeilen spricht?

Amerikanische Machtgelüste in Panama

Geäußert werden sie im Fall des Romans von Cristina Henríquez auf einem Postschiff, das sich Richtung Panama befindet. Denn noch 125 Jahre vor den aktuellen Machtgelüsten und Herrschaftsansprüchen eines Donald Trumps war es schon einmal ein amerikanischer Präsident, der auf dem Isthmus, jener mittelamerikanischen Landenge zwischen Pazifik und Atlantik, das Glück seines Landes suchte. Denn seiner Auffassung nach sei es Amerika bestimmt, hier einen Kanal zu bauen, der die langen und umständlichen Fahrten um das Kap Hoorn herum oder durch die Magellanstraße in Südamerika überflüssig mache.

Und so machten sich amerikanischer Staat und Aktiengesellschaft daran, auf fremden Boden mithilfe von Grabungen und Dämmen den Panamakanal zu erschaffen, der heute zu einer der wichtigen Handelsstraßen zu Wasser zählt und der stets auch politische Begehrlichkeiten weckt, wie nun auch der Vorstoß Donald Trumps wieder zeigt.

In Cristina Henríquez‘ Roman befindet sich die Baustelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade auf dem Höhepunkt. Die Baustelle lockt mit der Aussicht auf Lohn und Brot Menschen nicht nur aus Amerika herbei. Auch Omar sucht bei den Bauarbeiten im „Großen Riss“ sein Glück. Eine Arbeit als Fischer auf dem Wasser ist das seine gar nicht, weshalb er sich zum Unverständnis seines Vaters auf den Weg zur Baustelle macht.

Oh wie schön ist Panama?

Cristina Henríquez - Der große Riss (Cover)

Und auch die junge Ada bricht als blinde Passagierin ohne das Wissen ihrer Mutter aus Barbados nach Panama auf. Dort hofft sie ebenfalls auf Arbeit, da sie dringend für ihre Familie Geld verdienen möchte. Ihre Schwester leidet nach einer Lungenentzündung unter Flüssigkeit in der Lunge und benötigt eine Operation. Die utopischen Kosten von 15 Pfund sind für ihre alleinerziehende Mutter und die beiden Töchter so nicht zu stemmen, weshalb sie sich nun ebenfalls aufmacht und im herrschaftlichen Anwesen der Oswalds Arbeit findet.

Ausgehend von diesen beiden Figuren erzählt Christina Henríquez vom Leben und Arbeiten dort in Panama, wo das Wetter nur die beiden Aggregatszustände nass und heiß kennt. Während der große Riss das Land immer tiefer durchzieht, ist er auch zwischen den Generationen der Eltern und ihrer Kinder aufgetreten. Während der Fischer Francisco seinen Jungen Omar nicht verstehen kann, der täglich auf der Baustelle auf dem Isthmus schuftet, trennt sich auch Ada von ihrer Familie, um Geld nachhause zu bringen.

Ein gefälliger historischer Roman – mit zu wenig Rissen

Leider überführt Henríquez diese Ausdeutung der Risse nicht auch auf ihre Figuren. In diesem konventionell und gefällig erzählten historischen Roman fehlt es den Figuren selber an Craquelé, das diese interessant machen würde.

Auch wenn der Roman selbst viele Fragen antippt, etwa das übergriffige Verhalten der amerikanischen Kolonisatoren, die für den Bau ihres Kanals schon einmal ganze Dörfer umsiedeln wollen, bleiben die großen Konflikte hier doch auf und löst sich fast alles in Wohlgefallen auf. Die Liebe kittet zum Ende hin wieder viele Risse, Eltern nähern sich ihren Kindern an und umgekehrt, irgendwie fügt sich alles und bleibt bruchlos – womit Christina Henríquez viel Potential vergeudet.

Die Kontinuität zwischen amerikanischen Bauherren auf dem Isthmus einst und die aktuellen neokolonialen Tendenzen der USA, all das könnte bei einer mutigeren Bearbeitung des Themas höchst erhellend sein. Alle politischen und gesellschaftlichen Implikationen lässt der Roman aber so gut wie außen vor.

Francisco starrte in die Luft. Er erinnerte sich, wie optimistisch und hoffnugnsvoll Joaquín zur Zeit von La Separación gewesen war. „Ich nenne ihn La Boca“, sagte Francisco.

„Wen?“

„Den Kanal.“

„Du nennst ihn den Mund?“

„Ja. Er frisst uns auf.“

Joaquín nickte pathetisch. „Das ist richtig, mein Freund. Wir sind der Fisch“.

Cristina Henriquez – Der große Riss, S. 198 f.

Der große Riss konzentriert sich auf die Figuren aus der Arbeiterschichte und verpasst es, über diesen lebensweltlichen Ausschnitt hinaus ein größeres Bild zu zeichnen. Außer kleinen Protestfeuern und kurzen Momenten der kritischen Beschau der kolonialen wirtschaftsorientierten Verhaltensweisen der Amerikaner bleibt der Roman zu zahm und dringt nicht wirklich in die Tiefe vor.

Hätte Christina Henríquez den Mut zu einer Tiefenbohrung in Sachen gesellschaftlicher Auswirkungen des Baus gehabt, ganz so, wie es die Amerikaner mit dem megalomanischen Bauprojekt auf dem Isthmus zeigten, hätte der Roman mehr Wirkung entfaltet. So konzentriert sich die Autorin lieber auf die kleinen Glücksmomente und Fügungen des Lebens und verharrt auf dem Anwesen der Oswalds, zeigt die Annäherung von Ada und Omar und beschränkt sich auf oberflächliche Dialoge, wie dem hier zitierten Beispiel.

Das tut niemanden weh, ist gefällig und lässt sich gut weglesen. Es bringt aber auch keine gesteigerte Erkenntnis mit sich. Diesem Roman fehlt leider etwas Subtext, insbesondere angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen. Eher ist der Roman etwas für Freunde historischer Unterhaltung, wie sie etwa Daniala Raimondi oder Abraham Verghese sie schreiben.

Fazit

So verschenkt Der große Riss leider einiges an Potential und kommt über einen gefälligen historischen Roman nicht hinaus. Etwas mehr Mut zu kleinen Rissen im Erzählen und in den Figuren hätte dem Roman von Christina Henríquez gutgetan. So bietet der konventionelle historische Roman in diesen Tagen keine gesteigerten Erkenntnisse und ist leider zu schnell wieder vergessen.

Weitere Stimmen zu Cristina Henríquez‘ Roman gibt es unter anderem bei der NZZ, SWR Kultur und Deutschlandfunk Kultur.


  • Cristina Henríquez – Der große Riss
  • Aus dem Englischen von Maximilian Murmann
  • ISBN 978-3-446-28251-3
  • 412 Seiten. Preis: 26,00 €
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Clara Arnaud – Im Tal der Bärin

Auf dem Berg, da wohnt der Bär – oder besser gesagt die Bärin. Clara Arnaud nimmt uns in ihrem ersten auf Deutsch erschienen Roman Im Tal der Bärin mit auf die Berghöhen der Pyrenäen. Dort kreuzen sich die Lebenswege eines Schäfers und einer Ethologin mit der Bärin. Kraftvolle Prosa, die die Schönheit und das Leben in den Bergen gelungen einfängt.


Arpiet ist ein kleines Dorf, das am Fuße der Pyrenäen liegt. In unmittelbarer Nähe zur spanischen Grenze gelegenen ziehen sich die Bergrücken hin, die von den Schäfern und Schäferinnen beweidet werden. Auch Gaspard ist ein solcher Schäfer, der sich nach dem Studium in Paris nach seiner Kindheit in Arpiet zurückgesehnt hat und mittlerweile dort mit seiner Frau und den Töchtern wohnt. Die eigentliche Liebe und Sehnsucht aber gehört der Landschaft in den Bergen, wo er sich nun als Schäfer verdingt und eine mehrere hundert Schafe umfassende Herde betreut. Die Sommer verbringt er alleine dort oben auf den Berghängen. Gesellschaft leisten ihm nur seine Hündin, die Herde und die Erinnerungen.

Zweite Hauptfigur des Romans ist die Ethologin Alma, die ebenfalls nach Arpiet gezogen ist. Dort versieht sie an einem Zentrum für Biodiversität ihren Dienst. Das eigentliche Arbeitsfeld sind aber auch für sie die Berge. Denn dort oben lebt nach Wiederansiedlungsversuchen nun eine Bärin, la negra genannt. Diese beobachtet sie für ihre Feldforschung, nachdem sie dem Leben der Bären bereits ihre akademische Facharbeit gewidmet hat.

Eine Bärin in den Pyrenäen

Clara Arnaud - Im Tal der Bärin (Cover)

Von den Bewohnern von Arpiet wird Alma misstrauisch beäugt. Denn ein sonderlich großes Verständnis für die Bärin hegt dort kaum jemand. Man solle die Bärin und ihre Jungen besser gleich töten, schließlich stellt das Tier nur eine Bedrohung für die Schafe dort oben auf den Bergen dar, so die landläufige Meinung. Doch Alma lässt sich von solchen Meinungen nicht aufhalten und spürt in den Wäldern und entlang der Steilgrate der Bärin und ihrem Leben nach.

Und auch Gaspard spürt die Existenz der Bärin am eigenen Leib. Immer wieder schweben die von ihm betreuten Schafe im Laufe des Sommers, den Im Tal der Bärin schildert, in Lebensgefahr, wenn sich die Bärin auf Futtersuche an die Schafe heranwagt. Nicht zuletzt sind es aber auch Erinnerungen, die ihn immer wieder heimsuchen. Denn im vergangenen Jahr kam eine junge Schäferin dort oben in seiner Gesellschaft ums Leben. Hat die Bärin auch damit zu tun?

Der menschliche Umgang mit bedrohten Spezies

Im Tal der Bärin ist ein Buch, das vom Umgang der Menschen mit der bedrohten Spezies der Bären erzählt. Totale Auslöschung oder Schutz? Im dritten, immer wieder eingestreuten Erzählstrang bietet Clara Arnaud auch eine historische Sichtweise auf diesen Komplex, indem sie vom Leben des Bärenführers Jules erzählt, der Ende des 19. Jahrhundert aus Arpiet in Richtung Amerika aufbricht, mit im Gepäck ein von ihm gefangener und dressierter Bär.

Mit ungemein viel Wissen um das Leben dort oben an den Berghängen der Pyrenäen und des Lebens der Bären nimmt Clara Arnaud mit in diese wilde Welt. In Arnauds urwüchsiger, von Sophie Beese ins Deutsche übertragenen Sprache und der Kraft der Naturbeschreibungen erinnert das Ganze etwas an die Werke Maria Borrélys. Vom Aufstieg Gaspards im Frühling über den Sommer auf den Almen dort oben bis zum Abtrieb der Tiere in den Herbsttagen erstreckt sich der erzählerische Bogen, den dieses Buch bildet.

Nicht zuletzt ruft ihr ökologisch geprägter Roman im Spannungsfeld zwischen Mensch und Tier auch Erinnerungen wach an die Romane der Australierin Charlotte McConaghy, darunter insbesondere an ihr in Schottland spielendes Werk Wo die Wölfe sind, das von der Wiederansiedlung von Wölfen in den Highlands und dem Widerstand dagegen erzählt. Aber auch Paolo Cognettis Romane um die Anziehungskraft der Berge und Sara Gruens Prosa ließe sich als Bezugsgröße von Clara Arnauds Roman nennen, mit dem ihr trotzdem etwas ganz Eigenständiges gelingt.

Ein überzeugendes Buch mit irreführendem Titel

Gefahr und Idylle, Arbeit und Entspannung, Freiheit und Verantwortung, das sind die Spannungsfelder dieses Romans, der der Natur in den Pyrenäen ein Denkmal setzt und die Komplexität in unserem Verhältnis zu Raubtieren – wie im vorliegenden Fall eben den Bären – ausleuchtet.

Angesichts einer solch überzeugenden Gesamtleistung stellt sich nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit des deutschen Titels. Das titelgebende Tal spielt im Roman nur eine untergeordnete Rolle. Natürlich liegt das Dorf Arpiet dort unten im Tal, ist aber sowohl für Gaspard als auch für Alma aber nur jener problembehaftete Ort, an dem Unverständnis und Bärenfeindlichkeit grassieren. Vielmehr lösen sich beide Figuren ja schon rasch von diesem Nebenschauplatz. Und tatsächlich sind es ja die Berge, auf denen die Bärin lebt und die fast die gesamte naturgesättigte Handlung des Romans um die drei Figuren bestimmen.

Erinnert der französische Originaltitel Et vous passerez comme des vents vous im Deutschen etwas an die berühmten windigen Zeilen aus dem Gedicht Vom armen B. B. des Dramatikers Bertolt Brecht, in dem er von den Städten schrieb, von denen nur der Wind bleiben würde, der durch sie hindurchging, so bleibt von derartiger Poesie in der nun gewählten deutschen Titelvariante überhaupt nichts übrig. Mit Tälern begnügt sich Clara Arnaud nicht, vielmehr steigt ihr Roman in mitreißende Höhen empor, was die deutsche Titelwahl ruhig hätte auch so abbilden dürfen.

Fazit

Davon abgesehen ist Im Tal der Bärin ein kraftvoller Roman, der die Natur und das ökologische Gleichgewicht dort nahe der Gipfel der Pyrenäen besieht und neben der Bärin zwei angenehm komplexe Figuren in den Mittelpunkt rückt. Es ist eine wirkliche Entdeckung, die der Kunstmann-Verlag mit Clara Arnaud da aufgetan hat!


  • Clara Arnaud – Im Tal der Bärin
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-622-0 (Kunstmann)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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George R. Stewart – Sturm

Ein Sturm namens Maria sorgt im Roman von George R. Stewart für Verwüstung und Chaos in Kalifornien. Nicht nur angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe ist Sturm ein moderner Roman, dessen Alter von über 80 Jahren man ihm kaum anmerkt. Nun ist das Buch in einer Neuübersetzung von Jürgen Brôcan und Roberta Harms (wieder) zu entdecken.


1941 war es, dass der Amerikaner George R. Stewart seinen Roman Sturm veröffentlichte. Im selben Jahr, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten, erscheint dieses Buch, das zwar vordergründig nichts mit der Zeitgeschichte am Hut hat, das aber trotzdem eine Schlacht zeigt, nämlich die der Natur gegen den Mensch. Lange noch vor Frank Schätzings Der Schwarm oder den Klimathrillern eines Marc Elsbergs oder Wolf Harlanders zeigt Stewart in seinem Roman, was passiert, wenn die Kräfte der Natur demonstrieren, wer die eigentliche Hoheit über den Planeten besitzt.

Dabei beginnt in Stewarts Buch alles noch ganz übersichtlich. Ein junger Meteorologe versieht seinen Dienst, Schiffe schippern über den Ozean, der Aufseher der Straßenverwaltung inspiziert einen Pass zwischen Kalifornien und Nevada. Betriebsamkeit allen Orten – aber noch kein Alarm. Dieser stellt sich erst langsam ein, als sich abzeichnet, dass jenes Tief über dem Pazifik, 300 Meilen vor Yokohama, zu einem stattlichen Sturm heranwächst, den der junge Meteorologe auf den Namen Maria tauft.

Aber der Sturm! Er fühlte, wie ihm ein Kribbeln plötzlich über den Rücken lief. Ein Sturm lebte und wuchs. Keine zwei Stürme glichen einander jemals.

George R. Stewart – Sturm, S. 32

Ein Sturm zieht auf

George R. Stewart - Sturm (Cover)

Zunehmend stärker wird dieser Sturm im Lauf der Tage, der schließlich über Kalifornien herniederfährt und für viel Chaos und Verwüstung sorgt. Das ganze Ausmaß des Schreckens von verschneiten Autos bis hin zu Schiffen und Flugzeugen in Turbulenzen zeichnet Stewart durch die Parallelmontage seines multiperspektivisch erzählten Romans nach. Immer wieder sind wir bei dem jungen Meteorologen, der zusammen mit einem erfahrenen Kollegen Karte um Karte zeichnet und Meldungen vergleicht, um einen Eindruck von der anschwellenden Intensität des Sturms zu bekommen. Schleußen müssen geöffnet werden, ein junges Paar geht im Schneesturm verloren, an einer anderen Stelle befehligt der Inspekteur der Straßenbahnmeisterei derweil Schneepflüge und -fräsen, um die auf dem Pass eingeschneiten Autos zu befreien.

Allein auf menschliche Figuren beschränkt sich der Amerikaner dabei nicht. Auch ein Eber oder eine Schleiereule haben entscheidenden Einfluss auf die Handlung, genauso wie ein Holzbrett und Kuhdung, die in Sturm ebenfalls ihren Platz finden.

Wie Übersetzer Jürgen Brôcan und Roberta Harms in ihrem Nachwort anmerken, wendet Stewart in diesem Roman ein Erzählmuster an, das heute in Katastrophenfilmen und den Klimathrillern der eingangs erwähnten Autoren zur Norm geworden ist. Ein Ensemble ganz unterschiedlicher Figuren ist mit den Auswirkungen der Katastrophe befasst und kämpft an verschiedenen Fronten gegen die Katastrophe, wodurch der Roman Drive und Tempo erhält. Durchbrochen wird das ganze bei George Stewart immer wieder mit etwas faktenhuberischen Diskursen zur Meteorologie und der Entwicklung des Sturms.

Ein zeithistorischer Abdruck des Zweiten Weltkriegs

Apropos Kampf: einen Abdruck der gewalttätigen Ereignisse rund um den Erdball, die zeitgleich zum Erscheinen des Buchs stattfanden, gibt es auch in den gut 380 Seiten des Romans zu entdecken.

Straßen und Markierungsstangen werden hier wie Truppen vor dem Gefecht in Augenschein genommen, manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Natur und Kriegskultur in diesem Roman fast vollständig. Da der General, der über die Isobaren und Konvektionslinien wacht, dort konstatiert der Überwacher des Passes, dass man „die Straße verloren habe“. Telefonistinnen (hier ist eine der wenigen Stellen, die deutlich vom Alter des Romans künden), versuchen unter Hochdruck, Verbindungen herzustellen und Monteure müssen in Schneeschauern ausdrücken, um die Verbindungslinien der Strom- und Telegrafenleitungen wieder zu reparieren.

Der General zuckte mit den Schultern. Als guter Soldat hatte der die Stellung gehalten, bis er sich ehrenvoll zurückziehen konnte. Er gab seine Befehle.

George R. Stewart – Der Sturm, S. 367

Es ist eine Parallele, auf die der Verfasser George R. Stewart auch selbst hinweist, wenn er im Vorwort zu seinem Roman (der sich in den USA laut Verlagsangaben zu einem „Kultroman“ entwickelt habe) schreibt, sein düsterer Roman sei in den ähnlich düsteren Zeiten von Dünkirchen und der Niederlage Frankreichs entstanden.

Ein Roman über die Klimakatastrophe und die Ignoranz

Doch nicht nur zeithistorisch ist Sturm interessant, vor allem in Zeiten, in denen Kalifornien wieder einmal mit Extremwettern zu tun hat, die aktuell Teile von Los Angeles vernichtet haben, in denen sich hierzulande und anderswo Meldungen über Extremwetter – ob im Ahrtal oder in Bayerisch-Schwaben – häufen und in denen die Ausnahme schon zum Normalfall geworden zu sein scheint, hat Sturm eine große Bedeutung.

George R. Stewart zeigt, wie die Natur trotz aller Kenntnisse und technischen Fortschritts über den Mensch triumphiert und wie kurzsichtiges Profithandeln von Farmern und vielen anderen Personen zu den Katastrophen führt, die Sturm eindrücklich bebildert.

Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse und Klarsicht über die Kraft der Natur führen nicht zu größerer Einsicht. Am Ende zieht der Sturm von dannen und lässt die Menschen zurück, die sich in Teilen sogar über die Massen an Schnee, Eis und Regen freuen, wie die die fiktive Schlagzeile zeigt, die Stewart in seinen Roman eingebaut hat. Diese Schlagzeile lobpreist angesichts des abklingenden Sturm den Millionen-Dollar-Regen, der über Kalifornien niedergegangen ist und der der Landwirtschaft geholften hat. Das erscheint so grotesk und verzerrt, dass es schon wieder gut in unsere Zeit passt.

Angesichts der Klimakatastrophe scheint hier jener Fatalismus auf, den zuletzt etwa auch T. C. Boyle in Blue Skies zeigte und der auch in den Äußerungen des von Stewart ersonnenen Bürgermeisters aufblitzt. Dieser erzählt nach dem Schneefall launig, dass er früher Schneegestöber durchaus vergnüglich gefunden habe, nur heute mache er sich Sorgen, wie sich die Schneebeseitigung auf sein Budget auswirke. Es ist ein kurzsichtiges Denken, wie man es dieser Tage aus den USA kennt, wo der wiedergewählte US-Präsident Donald Trump als eine seiner ersten Amtshandlungen aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen ist und mehr Öl und Gas fördern will.

Fazit

Vielleicht ist es das, was am Ende bleibt und was auch Sturm zeigt: die Fragilität unserer Infrastruktur angesichts des Wetters – und die menschliche Ignoranz, mit dem wir alle tieferen Erkenntnisse und daraus folgenden Konsequenzen verdrängen. So wie es zum Schluss des Romans ein Leitartikler in seinem Fazit zu den zwölf Tagen der wütenden Maria formuliert:

Es gab zumindest keine Todesfälle durch Erfrierungen. Der Sturm war aus dem Südwesten gekommen und hatte nur Sturmwinde und Pappschnee gebracht. „Diesen Schnee“, erläuterte ein gebildeter Verfasser von Leitartikeln, „verdanken wir allein der Tatsache dass unsere Ahnen diese Stadt in einem schneereichen Gebiet im schneereichsten alle[r] Kontinente errichtet habe.“

George R. Stewart – Sturm, S. 363

  • George R. Stewart – Sturm
  • Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan und Roberta Harms
  • ISBN 978-3-455-01872-1 (Hoffmann und Campe)
  • 382 Seiten. Preis: 26,00 €
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