Katharina Hartwell – Der Dieb in der Nacht

Ein dunkles Märchen

Nach ihrem Debüt Das fremde Meer legt Katharina Hartwell, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts, nun nach: Der Dieb in der Nacht heißt ihr neuer Titel und erzählt von mysteriösen Ereignissen.
Ein Sommer, drei unterschiedliche Versionen der Ereignisse: Nach einem Tag am See verschwindet Felix plötzlich, nachdem er die Zeit mit seiner Mutter Agnes, seiner Schwester Louise und seinem besten Freund Paul verbracht hat. Nichts deutete auf das Verschwinden hin, die Spuren verlieren sich, nachdem Felix bei einer Tankstelle eine Cola kaufen wollte.
Sprung nach vorne: der erwachsene Paul durchstreift ruhelos Prag, als er in einer Spelunke über einen mysteriösen Mann stolpert. Dieser erinnert ihn auf unglaubliche Weise an den damals verschwundenen Felix. Er trägt ein identisches Muttermal wie Felix und weckt Erinnerungen in Paul. Doch dem Mann, der sich den Namen Ira Blixen gegeben hat, fehlen sämtliche Erinnerungen. Er wurde vor Jahren unterkühlt aus der Moldau gezogen und weiß so gut wie nichts über sich – zumindest behauptet er das.
Ist Ira Blixen tatsächlich Felix? Zweifel und Hoffnung beginnen sich abzuwechseln und plötzlich entfalten sich gefährliche Dynamiken, als Ira vor der Wohnung von Paul steht. Sämtliche Beteiligte werden nun in Untiefen gesogen, als die Geschehnisse um Ira Blixen und den damaligen Sommertag am See ans Licht drängen.

Lebenslügen

Katharina Hartwell seziert in ihrem neuen Roman Lebenslügen aus unterschiedlichen Perspektiven. Langsam dröselt sie die Geschehnisse am See auf. Die Hintergründe des Verschwindens von Felix erschließen sich erst langsam und der Leser muss sich aus den Aussagen die subjektive Wahrheit erst selbst zusammenpuzzlen.
Vordergründig passiert in Der Dieb in der Nacht nicht viel – Katharina Hartwell legt ihren Fokus mehr auf die Verschiebungen im zwischenmenschlichen Bereich.

Ein Kammerspiel

Wer Hoffnungen auf einen Krimi hegt, sieht sich schnell getäuscht. Der Dieb in der Nacht ist ein Kammerspiel, das auch gut als Theaterstück auf einer offenen Bühne funktionieren könnte. Denn die etwas karge Inszenierung von Katharina Hartwell lässt sich auch gut übertragen, kreist das Buch doch permanent um die vier Charaktere Agnes, Paul, Louise und  Ira (oder doch Felix?) und wie sich deren Beziehung untereinander verändern…
Ein besonderes Wort sollte noch über die Aufmachung und das Cover des Buchs verloren werden. Wie der Farbton des Covers auf dem Buchrücken und dem Lesebändchen aufgegriffen wird, zeigt deutlich, dass sich hier jemand Gedanken gemacht hat. das mit floralen Elementen und Vanitas-Motiven aufgehübschte Cover zählt für mich zu den schönsten buchgestalterischen Entwürfen dieses Literaturherbstes.
Diesen Beitrag teilen

Karl-Ove Knausgård – Lieben

Die Liebe des Lebens

Nach dem Auftakt seines Autobiographie-Zyklus‘ Sterben geht der Norweger Karl-Ove Knausgård nun vom Lebensende hin zum Beginn allen Lebens, nämlich der Liebe zwischen zwei Menschen.

Auf der epischen Breite von über 750 Seiten wälzt Knausgård die Hochs und Tiefs und verschiedenen Facetten der Liebe aus. Ausgehend von einer Trennung beschreibt er die Ursprünge und die Entwicklung seiner Liebesbeziehung zu Vanja, seiner Frau, aus der drei Kinder hervorgingen.

Eindringlich schildert er seinen Kampf um Vanjas Herz, seine persönlichen Niederlagen im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht und schließlich das Familienleben, das ihn einzuengen drohte. Intensiv behandelt der Norweger viele Aspekte der Liebe und schont dabei weder sich noch seine Familie.

Auch Betrachtungen der schwedischen Gesellschaft sind Inhalt genauso wie Einblicke in sein schriftstellerisches Schaffen. Er beschreibt die Arbeiten an seinen ersten Romanen, die zu seinem Ruhm als Schriftsteller beitrugen. Somit lässt sich Lieben auch als Schlüsselroman zum schriftstellerischen Oeuvre Karl-Ove Knausgårds betrachten.

In mäandernder Form gibt Knausgård seinen Erinnerungen und Eindrücken Raum. Dies mag manchmal unstrukturiert erscheinen – doch je mehr man in Lieben liest, umso tiefer taucht man in die Welt des Norwegers ein und gerät in den Sog seiner Schilderungen.

In vielen Positionen, Situationen oder Verhaltensweisen erkannte ich mich unmittelbar wieder – die verschiedensten Facetten von Liebesbeziehungen und seine Offenheit lassen den Leser somit nicht nur an Knausgårds Leben teilhaben, sondern führen auch teilweise zu tieferen Erkenntnissen. Was heißt heute Liebe? Kann die Liebe zwischen zwei Menschen über lange Zeit unverändert bleiben und wie wirken sich Kinder auf das Beziehungsgefüge aus? Welche Räume muss man sich gegenseitig zugestehen?

Man liest und liest, reflektiert über sich selber, reist mit Knausgård durch seine Erinnerungen und kennt ihn am Ende dieses Buchs fast besser als sich selbst. Und am Ende dieses Bandes giert man noch schon nach dem nächsten Buch über Karl-Ove Knausgårds Leben. Wie macht dieser Mann das nur?

Die Antwort auf letztere Frage kann ich nun auch nicht geben, nur kann ich auf den Folgeband im Autobiographie-Zyklus verweisen – dieser trägt den Titel Spielen und ist sowohl als Hardcover als auch als Taschenbuch erhältlich.

Diesen Beitrag teilen

Dennis Lehane – Shutter Island

Die Insel des Wahnsinns

Inseln haben schon immer die Fantasie von (Krimi-)Autoren beflügelt – abgeschieden, keine Fluchtmöglichkeiten und viel Verwirrung und Ablenkung. Prototyp des Insel-Krimis ist wohl Agatha Christie mit ihrem Klassiker Zehn kleine Negerlein (bzw. nun dem politisch korrekten Titel Und dann gabs keines mehr), aber auch ansonsten haben Autoren das Setting der Insel schon häufig verwendet.

Keine Ausnahme davon stellt Dennis Lehanes Krimi Shutter Island dar. Er hat für diesen Roman eine mehr als gruselig zu nennende Insel ersonnen, die vor der Küste Bostons ein zweites Alcatraz beheimatet.

Gefangene sind auf dieser Insel zahlreich vorhanden, jedoch ist Shutter Island eine Psychatrieanstalt für die gefährlichsten aller Straftäter.

Auf diese Insel verschlägt es nun Edward „Teddy“ Daniels zusammen mit seinem Partner Chuck. Als U.S.-Marshalls sollen sie das mysteriöse Verschwinden einer Patienten aus einer abgeschlossenen Zelle aufklären. Doch je länger sich die beiden auf Shutter Island aufhalten, umso verworrener wird der Fall.

Unermüdlich geht Teddy den Spuren nach, um Licht ins Dunkel zu bringen. Stimmen die Zahlen über die Straftäter in der Anstalt wirklich? Was geht im mysteriösen Leuchtturm vor sich? Mehr als einer der Insassen und Aufpasser auf der Insel spielt wohl ein doppeltes Spiel mit Teddy …

Perfekte Konstruktion mit Schlusspointe

Shutter Island ist ein perfekt konstruierter Thriller, der den Leser ab der ersten Seite immer tiefer in seine Welt hineinzieht und versinken lässt.

Die Konstruktion des Plots und die Schlusspointe sind mehr als meisterlich geraten. Shutter Island wartet nämlich mit einem mehr als ungewöhnlichen Kniff auf, an dem man sich (sofern man den Film noch nicht gesehen hat) lange zurückerinnern wird. Die erste Lektüre des Buchs lag bei mir noch vor der Scorsese’schen Verfilmung und  bis heute erinnere ich mich eher an den Twist im Buch und meine Überraschung denn die Verfilmung.

Wie es Lehane schafft, den Leser und Teddy immer stärker an dem zweifeln zu lassen, was eigentlich auf der Hand liegt, das ist stark gemacht. Das große Finale lässt dann noch einmal alles in einem anderen Licht erscheinen und man möchte die Lektüre noch einmal von vorne beginnen.

Alleine schon diese Schlusspointe macht das Buch zu einer Pflichtlektüre jedes Fans von guter und spannender Literatur.

Der Vorteil dieses Buchs liegt zweifelsohne in der Popularität des Kinofilms, der ja von der Größe Martin Scorsese mit Stars wie Leonardo DiCaprio und Ben Kingsley verfilmt wurde. Vielleicht greift der ein oder andere Cineast nun neugierig geworden noch zu diesem Titel und entdeckt so einen der besten amerikanischen Krimiautoren der heutigen Zeit für sich. Dennis Lehane ist es auf jeden Fall zu wünschen!


Gute Neuigkeiten für 2016

Eine gute Nachricht gibt es nun nach der Neuübersetzung dieses Klassikers durch Steffen Jacobs auch noch. Die teilweise verfilmte Reihe um das Privatdetektivpärchen Kenzie und Gennaro (siehe auch den Film Gone, Baby gone) kommt nun im Diogenes-Verlag im Lauf der nächsten Jahre wieder auf den Markt. Der erste Titel Streng vertraulich ist für Juli 2016 geplant. Bei mir herrscht auf jeden Fall schon Vorfreude!

Diesen Beitrag teilen

Augsburg und seine Blogger

Blogger Augsburgs, vereinigt euch!

Vor einiger Zeit durfte ich im Rahmen der Augsburger Blogparade auch einen Beitrag über mein Augsburg schreiben, und heraus kam dieser Artikel über das literarische Augsburg.

Doch bei der Auflistung blieb ein Wermutstropfen – hatte man doch einen mehr oder minder Kessel Buntes an Blogs bekommen. Welcher Blog hat eigentlich welchen Schwerpunkt? Welche Blogs passen abseits der einzelnen Artikel am besten zu meinen Interessen oder in meinen Newsfeed? Und waren in der Liste wirklich alle Blogs vertreten, die die Bürger dieser Stadt so betreiben?Schon damals zeigte sich wie mannigfaltig die Bloggerszene aus Augsburg ist. Unterschiedlichste Beiträge – von Gastro-Tipps über Konzert-Locations bis hin zu höchst subjektiven Liebeserklärungen an die Stadt reichte die Palette – deckten wohl fast alle Geschmäcker ab. Gerade für eine Stadt wie Augsburg, die nicht unbedingt den Ruf als Digitalstadt Nr. 1 genießt, spricht die Anzahl und Varietät der Blogger und Blogs eine deutliche Sprache.

Monika Schmich von Candid Communications hat sich nun einmal die Mühe gemacht, sämtliche bekannte Blogs von Augsbürgern und über Augsburg zu sammeln, nach Themen zu ordnen und in eine ansprechende Form zu bringen. Hier ist das Ergebnis

Eine tolle Übersicht und neues Futter für alle Feed-Reader, Lesezeichen-Listen und persönliche Seiten-Favoriten. Viel Spaß beim Entdecken!

Diesen Beitrag teilen

Wolfgang Schorlau – Die schützende Hand

Staatsversagen

Der geschasste BKA-Ermittler und Privatdetektiv Georg Dengler ist zurück. In Die schützende Hand löst er nun bereits seinen achten Fall, der es mehr als in sich hat. Nachdem er sich schon mit der Pharma-Lobby (Die letzte Flucht) oder den Auswüchsen unseres übermäßigen Fleisch-Konsums (Am zwölften Tag) beschäftigt hat, legt er nun seinen Finger in eine hochaktuelle Wunde: bereits seit Jahren läuft der NSU-Prozess; das Interesse und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lässt nach. Doch wie begann eigentlich die Aufdeckung der Mordserie? Was ist damals wirklich unter den Augen des Verfassungsschutzes passiert? Wolfgang Schorlau widmet sich mit Die schützende Hand dem NSU und dem Komplex, der hinter den Ereignissen stand.

Ein ungewöhnlicher Auftrag

Der Auftakt zu Denglers achtem Fall gestaltet sich durchaus dubios. Dem Stuttgarter Schnüffler wird ein anonymes Handy zugestellt. Daneben bekommt er 15.000 Euro und kurz darauf teilt ihm am Telefon sein Auftraggeber mit: „Ermitteln Sie, wer Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschoss.“ Leicht verdientes Geld für Georg Dengler, denn die Wahrheit kennt man ja aus sämtlichen Berichten. Die beiden männlichen Teile des NSU-Trios erschossen sich nach einem Banküberfall in Stregda, einem Ortsteil Eisenachs, in einem Campingmobil.  

Doch Dengler wäre nicht Dengler wenn er nicht seinen Instinkten trauen würde. Schon bald nähren sich in ihm die Zweifel an der offiziellen Version des Tathergangs. Warum sollten sich zwei über alle Zähne bewaffnete Neonazis plötzlich vor zwei einfachen Streifenpolizisten in ihrem Camper fürchten, gerade wo sie zuvor schon skrupellos die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen? Wie sollte es den beiden gelingen, sich innerhalb von zwanzig Sekunden zu erschießen, mit der Pumpgun nachzuladen und ein Feuer zu legen? Wenn sie sich beide im Camper erschossen, wo sind dann die Patronen, wo ist die Hirnmasse und warum fehlen auf sämtlichen Waffen Fingerabdrücke? Dengler wird schon bald klar, dass die offizielle Erklärung der Stellen mehr Löcher als der Finanzhaushalt Griechenlands hat.

Fragen über Fragen

Warum ließ der Einsatzleiter in Eisenach wieder alle Regeln Videomaterial vom Tatort beschlagnahmen, betrat selber den kontaminierten Tatort und ließ dann statt der Spurensicherung den Camper von einem Abschleppunternehmen durch ganz Eisenach fahren und unbewacht abstellen? Warum begann sofort nach dem Auffinden der Leichen der NSU-Mitglieder das große Schreddern der Unterlagen beim Verfassungsschutz? Welche Rolle spielten dessen V-Männer im Komplott?   Schorlau bindet in seinen Prosatext immer wieder Auszüge aus Untersuchungen des NSU-Untersuchungsausschusses und aus Gutachten ein und zeigt dass auch vier Jahre nach dem eventuellen Suizid in Eisenach mehr Fragen als Antworten herrschen.  

9783462045475_10

Die Fakten, die Schorlau langsam und nachvollziehbar in seinen Krimi einwebt, lassen wirklich an ein staatlich gesteuertes Verbrechen denken. Keine der offiziellen Stellen kommt gut weg. Der Verfassungsschutz? Mutwillig weggeschaut bzw. die rechte Szene durch V-Männer finanziell gestärkt. Die Polizei? Verstrickt sich auch in Widersprüche und ermittelte im Fall der Nagelbombe in Köln nicht in alle Richtungen sondern versuchte die Schuld den türkischstämmigen Anwohnern zu geben.   Dies greift Schorlau auf, indem er Georg Dengler noch einen Schlenker in seiner Vita mitgibt. Bereits damals ermittelte dieser nämlich für einen ansässigen Buchhändler in Köln, fand aber nur tote Enden bei seiner Spurensuche vor. Dieser biographische Rückgriff wäre für mein Empfinden nicht unbedingt notwendig gewesen, davon abgesehen aber ist Die schützende Hand einer der besten und wichtigsten Titel aus der Dengler-Reihe. Jeder der sich nur einen Funken für das Staatsversagen beim NSU-Komplex oder die offenen Fragen interessiert, die der Prozess in München schon wieder zu verschütten droht, sollte zu diesem Titel greifen.  

Krimi und Sachbuch zugleich

  Dieses Buch sensibilisiert für die Thematik des Nationalsozialistischen Untergrunds und der Verstrickung der Staats und seiner Organe in diese beispiellose Mordserie. Dieses Buch ist zugleich ein spannender Krimi und ein Sachbuch, das anstelle von trockener Fakten durch die Einbettung in eine Krimihandlung sowohl Krimileser als auch Politisch Interessiert (oder beide natürlich kombiniert)  zu fesseln vermag. Könnte der ein oder andere die hanebüchenen Widersprüche und Schorlaus Thesen als verschwörungstheoretischen Mumpitz abtun wollen, so sprechen doch seine 73 im Anhang aufgeführten Quellen eine andere Sprache. Die schützende Hand ist für mich der beste Beweis dass die Realität die Kriminalfiktion zu übertrumpfen weiß. Spannend, voller Cliffhanger und politisch mehr als relevant. Diesem Buch wünsche ich, dass es unter möglichst vielen Weihnachtsbäumen dieses Jahr liegt und dann auch gelesen wird!  


Titelbild: Gedenkstätte für die Opfer des NSU-Terrors in Zwickau

Quelle: By André Karwath aka Aka – Own work, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84404149

Diesen Beitrag teilen