Benjamín Labatut – MANIAC

Mit seinem Werk Das blinde Licht hat sich der chilenische Autor Benjamín Labatut als Meister der Verknüpfung von literarischer Fiktion und naturwissenschaftlich-philosophischen Themenkomplexen erwiesen. In vier Geschichten brachte er damals das Denken und die naturwissenschaftlichen Revolutionen Einsteins, Bohrs, Grothendieks, Schrödingers oder Fritz Habers auf den Punkt. Nun tritt er mit MANIAC erneut den Beweis seiner literarischen Meisterschaft an und erzählt vom vergessenen Wissenschaftler John von Neumann und den Anfängen der Künstlichen Intelligenz.


Egal ob Chat GPT oder Midjourney – die Anwendungsgebiete und Fortschritte in Sachen Künstlicher Intelligenz wachsen in atemberaubenden Tempo an. Und auch die Literatur erschließt sich das Gebiet der KI immer mehr. So unternahmen die Schriftsteller Tom Hillenbrand oder Frank Schätzing im Gewand von Thrillern schon früh Versuche, die Potentiale und Risiken der Künstlichen Intelligenz zu beschreiben. Auch Raphaela Edelbauer wendete sich in ihrem zweiten Roman DAVE dem Thema der KI zu und stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie man einem Programm Intelligenz verleiht und einen Rechner von binären Rechenschritten bis zu eigenständigem Denken und Entscheiden führt.

John von Neumann und der MANIAC

Einer der frühesten Denker, der sich auf diesem Gebiet wie auch in vielen anderen Disziplinen umtat, war der Denker John von Neumann, der eigentlich als János Lajos Neumann 1903 in Ungarn geboren wurde. Seine Geistesleistungen, sein von Logik und der Faszination für das Grenzüberschreitende geprägtes Denken und seine vielfachen Projekte wie die Entwicklung des ersten Supercomputer, sie stehen im Mittelpunkt dieses ebenso vielstimmig wie literarisch hochinteressant komponierten Romans.

Wir verdanken ihm so viel.

Er hat uns nicht nur zum bedeutendsten technologischen Durchbruch des zwanzigsten Jahrhunderts verholfen.

Er hat uns einen Teil seines Verstandes hinterlassen.

Getauft haben wir unsere Maschine Mathematical Analyzer, Numerical Integrator and Computer.

Benjamín Labatut – MANIAC, S. 185

Das sagt Julian Bigelow, ein Elektroingenieur und einer der vielen Stimmen, die in Labatuts Roman über ihre Begegnung mit John von Neumann erzählen dürfen. Bigelow, der am MIT Mathematik und Elektrotechnik studierte, war ein Gefolgsmann John von Neumanns, in dessen Auftrag er den Supercomputer MANIAC entwarf und federführend installierte.

Seit Kindertagen an war Neumann von Computern und der Möglichkeit der Programmierung begeistert. So erzählt sein Bruder – eine weitere der vielen Erzählstimmen – von Janos´ kindlicher Faszination für einen mechanischen Webstuhl, der per Lochkarte bedient wurde. Immer weiter trieb von Neumann später die Entwicklung des Computers, die ihn bis in die Wüste Mexikos führte, wo J. Robert Oppenheimer in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe arbeitete. Es war der von Neumann entwickelte Computer, dessen Berechnungen zur Wirksamkeit einer geplanten Wasserstoffbombe entscheidende technische Fortschritte ermöglichte.

Das Grenzüberschreitende in der Technik

Neben solchen militärischen Projekten war es vor allem das Grenzüberschreitende, das von Neumann begeisterte und herausforderte. Die Grenzen der Logik, mathematische Gesetzmäßigkeiten und das ihnen innewohnende Chaos, sie faszinierten von Neumann zeitlebens, wovon Labatut durch die vielstimmige Komposition gelungen Zeugnis ablegen kann.

Benjamín Labatut - MANIAC (Cover)

Begegnungen mit dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel, dessen Denken ihn in eine Krisis stürzte oder seine Unterstützung für den laut Augenzeugen „verrückten“ Wissenschaftler Nils Aall Barricelli, der Neumanns Erfindung des MANIAC dazu nutzen wollte, eine digitale Evolution von intelligentem Leben im Supercomputer nachzubilden. Sie alle geben einen Eindruck von etwas, das hinter der „normalen“ Logik und Technik liegen könnte, dem Neumann zeitlebens auf der Spur war, ihm aber nie wirklich nahekam, sondern (oder vielleicht auch deswegen) nach seiner Krebsdiagnose plötzlich den Glauben suchte.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz, zwischen Logik und Metaphysik zeigt MANIAC einen Menschen, den stets die schwarzen Löcher des Unerklärlichen anzogen und dessen visionäres Denken auch heute noch nachwirkt, obgleich der Name John von Neumann nicht mehr vielen Menschen ein Begriff sein dürfte.

Der Gottvater der KI

Durch die geschickte Montage des Romans gelingt es Benjamín Labatut, das Wirken von Neumanns und dessen Theorien sogar bis in die Jetztzeit zu dehnen. Denn neben der Auftaktepisode, die die Krisis des Physikers Paul Ehrenfest zeigt, der in den 30er Jahren an die Grenzen der Naturwissenschaften stößt, in Depressionen versinkt und seinen eigenen Sohn und später sich selbst erschießt, bindet Labatut dessen Grenzerfahrung und Limitation mit der einer völligen Entgrenzung zusammen.

Dies gelingt Labatut, indem er sich im letzten Teil des Romans in bewunderswerter Intensität und Plastizität dem Go-Spiel widmet. Jahre nach dem legendären Match des Schachgroßmeisters Gari Kasparow gegen den Schachcomputer DeepBlue von IBM war es eine Künstliche Intelligenz namens Alpha, der es erstmals gelang, einen Go-Meister in diesem hochkomplexen Spiel zu schlagen. Dieses Duell von Menschen und Maschine vermittelt Benjamín Labatut trotz komplizierten Regelwerk und Technik höchst verständlich und ja – mitreißend.

In diesen Schilderungen scheint die Kontinuität und noch gar nicht wirklich absehbare Konsequenz von John von Neumanns Erfindung auf. Was stellt man mit einem Supercomputer mit einer Rechenleistung an, die unser Denken ebenso weit überschreitet, wie dies auch der Physiker Paul Ehrenfest zu Beginn des Romans erfahren musste?

Im Gegensatz zu Ehrenfests Konsequenz aus dessen Erfahrung legt Labatut den notwendigen Tod von Mensch oder Maschine hier dann aber nicht nahe. Vielmehr hält sich sein Roman mit moralischen Einordnungen oder Wertungen angenehm zurück. Es zählt zu den Qualitäten dieses brillanten Romans, ein Gefühl der Potentiale und möglichen Konsequenzen der intelligenten Computer zu geben, ohne aber in den alarmistischen Weltuntergangssound zu verfallen, wie er vielen thematisch ähnlich gelagerten Büchern dieser Tage zueigen ist.

Fazit

Mitten hinein in unsere Gegenwart weist MANIAC, das mit John von Neumann einen faszinierenden Denker, einen Grenzüberschreiter und einen ruhelosen Geist in den Mittelpunkt stellt. Ebenso grenzüberschreitend wie das Denken des 1903 geborenen Visionärs ist auch dieser Roman in seiner Montage und erzählerischen Anlage. So nimmt sich das Buch manchmal geradezu wie eine Dokumentation aus, ist Einführung in die KI ebenso wie Porträt John von Neumanns, erzählt von Potentialen der Technik wie von schweren persönlichen Krisen und der Frage nach Verantwortung für unsere digitale Schöpfung.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz gelingt Benjamin Labatut hier ein hellsichtiges Buch, das zum Besten gehört, was bislang über Künstliche Intelligenz geschrieben wurde. Ihre Ursprünge und Kontingenz stellt der chilenische Autor anregend und elegant vor. Wer sich auf literarisch überzeugende Art und Weise in diesen Themenkomplex KI einlesen möchte, der kommt an Benjamín Labatuts Buch nicht vorbei!


  • Benjamín Labatut – MANIAC
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • ISBN 978-3-518-43117-7 (Suhrkamp)
  • 395 Seiten. Preis: 26,00 €
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Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt

Eine allesüberragende Hecke, dahinter ein Dorf, das zu verschwinden droht und Menschen, die immer mehr schrumpfen. Kinder, auf denen die Hoffnung des Dorfs ruht. Und dazu eine Forscherin in der Einsamkeit des ewigen Eises. Klingt nach einer wilden Mischung? Ist aber im Falle von Gianna Molinaris Roman Hinter der Hecke die Welt ein spannender Erzählansatz, um vom möglichen Leben inmitten der Klimakatastrophe zu erzählen.

Wie wir verschwinden

Auf den ersten Blick wählt Gianna Molinari für ihren Roman einen Erzählansatz, der auf dem deutschen Büchermarkt eigentlich schon für eine völlige Übersättigung gesorgt hat: die Rede ist vom Dorfroman. Auch in Molinaris Fall ist es schon wieder ein Dorf, vor dessen Hintergrund Molinaris Geschichte hauptsächlich verhandelt wird und in dem die beiden Kinder Lobo und Pina leben.

Gianna Molinari - Hinter der Hecke die Welt (Cover)

Auf den zweiten Blick aber wird dieses auserzählte Setting interessant – denn das Dorf steht kurz vor dem Verschwinden. Hinter einer Hecke in Übergröße gelegen schrumpft das Dorf – und mit ihm seine Bewohner. Jeder, der da über 1,50 Meter groß ist, zählt schon zu den Hoffnungsträgern. Neben dem Dorfhund Pilaster sind das eben Pina und Lobo, auf denen die Hoffnung der Dorfgemeinschaft ruht. Sie sollen das Dorf dem Vergessen entreißen und für eine Zukunft sorgen, die aktuell recht düster aussieht.

Ab und an finden noch Touristenbusse in das Dörfchen, um die Hecke zu bewundern und das Dorfmuseum zu besuchen, ansonsten ist das Dorf aber keineswegs ein Aspirant für den Wettbewerb Unser Dorf hat Zukunft.

Eine Welt in Auflösung

Die Welt des Dorfs, sie befindet sich in Auflösung. Und mit ihr auch die Welt da draußen, die hinter der Hecke in einem diffusen Prozess des Verschwindens inbegriffen ist.

Es gibt Stellen, sagte Pinars Vater, die von der Landkarte verschwinden. Das geht nicht nur uns so. Auch andere Orte verschwinden, Inseln gehen unter, Berge zerbröseln zu Steinklumpen, Klümpchen, zu Staub.

Pinas Vater war der Meinung, dass hinter der Hecke das Dorf liege und dieses darum besser geschützt sei als andere Orte.

Pina war der Meinung, das hinter der Hecke die Welt liege. Die Welt und irgendwo auch die Arktis.

Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt, S. 27 f.

Die Arktis ist der zweite Handlungsstrang, den Gianna Molinari in ihrem Roman einführt. In diesem Strang steht die Arktisforscherin Dora im Mittelpunkt, die zugleich auch im ewigen Eis ebenjene Untergangsstimmung spürt, die auch das Dorf und seine Welt ergriffen hat. Dora, die auch die Mutter von Pina ist, schickt ihrer Tochter Sprachnachrichten, die von der schwindenden Schönheit des Eises erzählen.

Wuchernde Hecken, schmelzende Gletscher

Sie berichtet über Gletscher und Eisberge, die zerfallen, denkt über die Einsamkeit von Grönlandhaien nach und beschreibt durch kleine Momentaufnahmen die zerstörerische Kraft des Anthropozäns. Immer ist es der Mensch als Erdbewohner, der alles zerstören muss, was diese Erde eigentlich ausmacht. Ergänzt werden diese Impressionen durch kleine Skizzen, die das Erzählte in Silhouetten noch einmal nachzeichnen.

Es sind Szenen, die von ebenso still wie eindrücklich vom allmählichen Ende dessen künden, was Dora aktuell noch dort hoch oben im Eis beobachten kann.

Damit ist Hinter der Hecke die Welt eine kraftvolle Meditation über die Vergänglichkeit und den Klimawandel, in den wir sehenden Auges reichlich fatalistisch steuern. Ähnlich wie zuletzt bei T. C. Boyle fällt auch bei Gianna Molinari die menschliche Antwort auf die Klimakatastrophe reichlich fatalistisch aus.

Irgendwie arrangiert man sich mit den schmelzenden Gletschern und dem Schrumpfen der Menschen – es geht ja doch irgendwie weiter – und Aufgeben wäre eh keine Option, und so lebt man einfach weiter, von Tag zu Tag. Dieses Gefühl trifft Hinter der Hecke die Welt sehr genau.

Fazit

Gianna Molinari gelingt mit ihrem Roman Hinter der Hecke die Welt ein ungewöhnlicher Dorfroman mit Parabelcharakter, eine Erzählung übers Verschwinden und Artensterben – und den Fatalismus der Menschen, die sich auch von Schrumpfen, übergroßen Hecken und dem Schmelzen der Gletscher und Eisberge nicht aus dem Konzept bringen lassen. Obwohl das Buch nur aus kurzen Szenen und Momentaufnahmen montiert ist, gelingt der Schweizer Autorin ein tiefgreifender Eindruck dieser Prozesse, den sie in ihrer schwebenden und wie hingetupft wirkenden Prosa präsentiert.


  • Gianna Molinari – Hinter der Hecke die Welt
  • ISBN 978-3-351-04173-1 (Aufbau)
  • 208 Seiten. Preis: 24,00 €
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Don Winslow – City of Dreams

Don Winslow setzt seine Neuinterpretation der großen griechischen Dramenstoffe im Gewand eines Mafiathrillers fort. Erlebte Danny Ryan in City on Fire eine Wiederauflage des Trojanischen Kriegs mit, so sieht er sich nun gestrandet in fernen Gestaden und darf der Verwandlung seines Lebens in einen Kinofilm in der City of Dreams beiwohnen. Hochtourige Mafiaaction, souverän ausgeführt und packend erzählt.


Schon im ersten Teil der geplanten Trilogie um den Mobster Danny Ryan zitierte Don Winslow neben Homers Ilias auch die Aeneis von Virgil. Im zweiten Teil der Reihe wird dieses Epos nun zur Vorlage für die Abenteuer und Irrfahrten, die Danny Ryan erleben muss.

Im 2. Buch [der Aeneis] flieht er [Aeneas] auf Geheiß Jupiters aus der brennenden Stadt, um ein neues Troja zu gründen. Er kann seinen Sohn Ascanius (Iulus), seinen Vater Anchises und die Penaten retten, nicht aber seine Frau Krëusa.

Wikipediaeintrag zur „Aeneis“

So fasst Wikipedia die Handlung des insgesamt aus 12 Bücher bestehenden Epos von Virgil zusammen. Auch Don Winslow kennt das Epos sehr gut, orientiert sich City of Dreams stark an diesem antiken Handlungsbogen. Bei Winslow setzt die Erzählung unmittelbar nach den brutalen Geschehnissen in Rhode Island Ende der 80er Jahre ein. Dort hat der Zwist um eine schöne Frau den bisherigen Frieden zwischen irischer und italienischer Mafia abrupt beendet – und für viele Tote und großes Leid gesorgt.

Von Rhode Island nach Hollywood

Danny Ryan und seine Crew unterlagen im Kampf um Rhode Island und so befindet sich Ryan nun zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn auf der Flucht. Ryans Frau Terri hat die Geschehnisse in City on Fire nicht überlebt und so ist es nun an Ryan, für das Überleben seiner Familie und seinen Penaten, seiner Mafiacrew zu sorgen.

Don Winslow - City of Dreams (Cover)

Immer weiter nach Westen führt der Weg der Crew, wobei die Geschehnisse rund um den Konflikt, korrupte Polizisten und die Falle, in die Ryan getappt ist, immer noch in dessen Hinterkopf herumspuken. Auch die DEA macht noch Jagd auf Danny, sodass an ein normales Leben in der Öffentlichkeit nicht zu denken ist.

Doch nach einigen blutigen Volten und einem Königsmord im Kreis der italienischen Mafia könnte nun alles in ruhigere Bahnen kommen. Ryans einflussreiche Mutter kümmert sich in Las Vegas hingebungsvoll um ihren Enkel, Danny gewöhnt sich langsam an sein neues Leben – doch dann steht neuer Ärger in Form der „Messdiener“ Kevin und Sean ins Haus. Die beiden so geheißenen Mitglieder seiner Crew sind nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Hollywood ein Film über die brutalen Ereignisse in Rhode Island gedreht werden soll – Ereignisse, die sie ja aus erster Hand kennen. Und so heuern sie als „Berater“ am Filmset an und sorgen für viel Aufmerksamkeit, die Danny eigentlich überhaupt nicht gebrauchen kann.

Doch auch er macht es nicht besser – denn als er in Hollywood aufschlägt, um die Probleme zu bereinigen, verliebt er sich in die Hauptdarstellerin seines eigenen Films und schlägt dafür alle bisher geltenden Sicherheitsmaßnahmen in den Wind und wählt nun statt eines Lebens im Schatten nun das Leben im Licht der hellsten Studioscheinwerfer der Traumfabrik. Damit macht er aber auch alte Feinde auf sich aufmerksam und bringt all das, was er sich erabeitet hat, in Gefahr.

Ein moderner Aeneas

Es sind zahlreiche Motive aus der Aeneis-Dichtung, die Winslow ganz organisch in seinen Thriller einwebt. Die Rückblicke auf den Untergang Trojas alias Dogtown, Dannys mächtige Mutter, die ebenso wie Venus im Originalepos die Irrfahrten ihres Sohns durch die Liebe zu einer Frau beenden möchte, der Königsmord in Form der Hinrichtung des italienischen Paten, all das kann man im Abgleich des historischen Stoffs und Winslows Bearbeitung leicht herauslesen.

Man kann sich aber auch einfach nur von der geschmeidig erzählten Prosa mitnehmen lassen. Sein Talent zur Rhythmisierung und filmischen Gestaltung zeigt Winslow hier in City of Dreams einmal mehr. Brutale Morde, Momente aufkeimender Liebe, Ryans Sorge um seinen Sohne und die gleichzeitig Gewalt, derer er sich bedient. Hier vereint Winslow unterschiedliche Tempi und Register zu einem überzeugenden Thriller, der trotz der Vielzahl an Schauplätzen und Beteiligten nie unübersichtlich zu werden droht.

Winslow hält die erzählerischen Zügel souverän in der Hand und leitet durch Ryans Versteckspiel, Machtkämpfe und große Gefühle, was sich in City of Dreams hervorragend miteinander verbindet. Schade einzig und allein, dass nach diesem Thriller nur noch einmal die Irrfahrten und Kämpfe des modernen Aeneas alias Danny Ryan zu erleben sein werden. Denn mit der vorliegenden Trilogie wollte Don Winslow dann seine schriftstellerische Karriere letzten Meldungen zufolge beenden. Man kann nur hoffen, dass er es sich noch einmal überlegt, denn Thrillerautoren dieses Kalibers haben wir zu wenige, als dass man auf Don Winslow einfach so verzichten könnte, besonders hierzulande!


  • Don Winslow – City of Dreams
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-365-00169-1 (Harper Collins)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Richard Ford – Valentinstag

Einen Valentinstag fernab von Kitsch und Verliebtheit verbringen in Richard Fords neuem Roman Frank Bascombe und sein Sohn Paul miteinander. Es könnte ihr letzter gemeinsamer Valentinstag sein – denn Paul leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit – und so brechen Vater und Sohn noch einmal auf zu einem Roadtrip, der sie mitten hinein ins Herz Amerikas führt.


Wie sein Autor selbst altert auch Frank Bascombe, das literarische Alter Ego von Richard Ford, mit jedem Buch deutlich. Von der Vitalität des früheren Sportreporters ist nicht mehr viel übrig. Sein Sohn Ralph starb bereits mit neun Jahren, von seiner Frau hat er sich ebenfalls schon lang getrennt, er hat eine Bestrahlung gegen den Prostatakrebs überlebt – und hat sich nun mit seinem reichlich unspektakulären Dasein als Senior arrangiert.

Er hütet Häuser, philosophiert sich durch den Tag und besucht ab und an Klassentreffen, die ihn aber auch deutlich an seine eigene Endlichkeit erinnern. Als Stütze und familiärer Ankerpunkt ist ihm nur noch sein Sohn Paul geblieben. Doch der 47-Jährige erhält nun eine niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose oder kurz ALS. Die unheilbare Nervenkrankheit, die vor einigen Jahren durch die Ice-Bucket-Challenge auch hierzulande verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rückte und zu deren prominentesten Opfer der Physiker Stephen Hawking zählte, sie wird nun auch zum Schicksal von Franks Sohn.

Eine Heilung ist nicht möglich und der Verfall der Muskeln schreitet rasch voran. Und so beschließt Frank, die Zeit, die ihm mit seinem Sohn Paul bleibt, bestmöglich zu nutzen und mit diesem zu einem Roadtrip aufzubrechen.

Mount Rushmore sehen und sterben

Als typischer Amerikaner liegen für Frank die Ziele dieses letzten Roadtrips auch im Kernland der USA. So möchte er mit seinem Sohn zum Mount Rushmore-Monument, in das die Köpfe vierer US-Präsidenten eingemeiselt sind. Auf der Fahrt dorthin erleben sie viele skurrile Erlebnisse, können eine Filmvorführung mit Valentinstagsfilmen ob einer Protestgruppe nicht wahrnehmen, besuchen ein Maislabyrinth, frotzeln und diskutieren, pflegen ihre Alter-Egos als republikanische Klischeewähler und kommen so jenem Amerika nahe, das außer New York, LA und Washington selten in unseren Köpfen auftaucht.

Wir sind jetzt jetzt zusammen allein, unterwegs dorthin, wohin wir unterwegs sind. Zwei komische Vögel im Wolkenkuckucksheim.

Richard Ford – Valentinstag, S. 210
Richard Ford - Valentinstag (Cover)

Neben dem Roadtrip mit ihrem auf den Namen Warmer Wind getauften Wohnmobil durch die Einöde Amerikas ist Valentinstag auch ein berührender Vater-Sohn-Roman, der die männliche Unfähigkeit zu gefühlsbasierter Kommunikation zeigt. Paul hat seine Krankheit, die er erst für Borreliose hielt, auf den Namen Al’s getauft und geht mit ihr wie einem alten Bekannten um, die er auch durch die Benenneung in ironischer Distanz von sich hält.

Gekonnt ignoriert Frank im Gespräch mit seinem Sohn den rasch voranschreitenden Verfall, den er den Leser*innen umso ungeschönter schildert. Lieber hievt er mit über siebzig Jahren den Rollstuhl von Paul in den Wagen und diskutiert mit seinem Sohn über absolute Nebensächlichkeiten, ehe die beiden das offen verhandeln, was wie der berühmte Elefant so klar im Raum steht.

Paul lauscht Musicalsongs, sein Vater fährt ihn, in Gedanken an alte Episoden von amourösen Anbahnungen und zwischenmenschlichen Kontakten, wohl wissend auch um deren Endlichkeit. So entsteht in diesem Roadnovel indirekt ein Bild einer Vater-Sohn-Beziehung, in der man die Fakten totschweigt und sich an Hoffnungen wie etwa eine neue Therapie klammert, zu der Paul eine ehemalige Liebschaft von Bascombe senior verhilft.

Fazit

Richard Ford gelingt es hier wieder, mit viel Gesetztheit, Humor, aber auch Abschiedsschmerz auf Frank und seinen Sohn zu blicken. Er schafft mit seinem Roman gleich ein dreifaches Porträt. So ist Valentinstag ein weiterer Baustein in Fords Romanzyklus um das Leben von Frank Bascombe. Darüberhinaus nimmt er hier das Verhältnis von Frank und seinem siebenundvierzigjährigen Sohn in den Blick und zeichnet so das Bild eines im Verfall vereinten Vater-Sohn-Gespanns. Und nicht zuletzt ist Valentinstag auch das Porträt eines Amerika abseits der Hochglanzbroschüren und spürt so dem Kern des „anderen“ Amerika voller Patriotismus, schäbiger Hotelzimmer und skurriler Personen nach. So gelingt Richard Ford einmal mehr ein von Land und Lakonie durchsättigter Roman.

Für das besseres Verständnis jenes von Anspielungen und Zitaten durchsetzte Werk empfiehlt sich im Übrigen ein Blick in den Anhang des Romans, um jenes Referenzgewitter an Popkultur und amerikanischer Geschichte, das Frank und Paul Bascombe auf ihrer Reise abbrennen, besser zu verstehen. Darin schlüsselt der großartige Übersetzer Frank Heibert all die in den Dialogen fallengelassenen Anspielungen für uns Nicht-US-Amerikaner auf und leistet so einen wichtigen Beitrag für das bessere Verständnis dieser hochgradig „amerikanischen“ Lektüre.


  • Richard Ford – Valentinstag
  • Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert
  • ISBN 978-3-446-27732-8 (Hanser)
  • 384 Seiten. Preis: 28,00 €
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Charlotte Gneuß – Gittersee

Darf sie das? Um den Debütroman der 1992 geborenen Autorin Charlotte Gneuß ist ein kleines Debattenstrohfeuer entbrannt, das nun schon wieder in sich zusammengefallen ist. Darf eine westdeutsche Autorin über die DDR schreiben, die sie nur aus Erzählungen kennt? Natürlich, schließlich erlaubt die Literatur zuvorderst alles. Statt also Phantomdebatten über vermeintliche Echtheit und die Lizenz zur Fiktion zu fechten, sollte man lieber über die Qualitäten ihres Textes Gittersee sprechen.


Mit ihrem Roman Gittersee bedient sich die junge Autorin Gneuß eines erzählerischen Rahmens, wie ihn beispielsweise in diesem Frühjahr auch Caroline Wahl für ihr Debüt 22 Bahnen verwendet hat. Eine junge Frau, die sich wegen Defiziten im familiären Verbund um ihre kleine Schwester kümmern muss, gerät durch die Liebe zu einem Mann in Wirrnisse. Wo Caroline Wahl ihre Heldin an der Kasse arbeiten und in der übrigen Zeit neben dem Studium ihre kleine Schwester betreuen ließ, ist bei Charlotte Gneuß die Setzung aber eine andere. Sie verlegt diese Rahmenerzählung um die junge Ich-Erzählerin Karin in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Dort lebt die Sechzehnjährige im Dresdner Vorort Gittersee und kümmert sich neben ihrer sozialistischen Ausbildung in der Schule um „Die Kleine“. Karin übernimmt hauptsächlich die Betreuung ihrer jüngeren Schwester und verbringt die übrige Zeit am liebsten mit Paul, ihrem Freund. Dieser begeistert sich ebenso wie ihr gemeinsamer Bekannter Rühle fürs Klettern, gemeinsam haben sie auch schon die sogenannte „Lokomotive“, eines Felsformation in der Nähe der Elbe erklommen.

Zwischen Schule und Stasi

Doch nun ist Paul verschwunden, einfach so. „Republikflucht“ sagt Rühle – und Karin kann es nicht glauben. Warum ist ihre Liebe von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie geht es ihm und was ihn zu seinem Schritt motiviert? Das sind Fragen, die nicht nur Karin, sondern auch die Staatssicherheit interessieren. In Form des Ministeriumsmitarbeiters Wickwalz tritt diese auf und versucht, aus Karin Informationen herauszuholen und diese zu einer Informantin über andere anti-sozialistische Umtriebe in ihrem Umfeld zu formen.

Den inneren Zwiespalt zwischen Sorge und Nicht-Verständnis für den abrupten Schritt Pauls, ihre Suche nach Antworten und den gleichzeitigen Druck der Stasi, der sich durch das immer wieder unvermutete Auftauchen des Stasi-Rekrutierers Wickwalz entwickelt, fängt Charlotte Gneuß durch die kluge Wahl der Ich-Erzählperspektive treffend ein. Während in der Schule die Schüler*innen mit den richtigen Weltsichten auf den guten Sozialismus und Kommunismus indoktriniert werden, versucht Karin eigene Antworten und Wege zu finden, was durch die Umwelt und die eigenen Gefühle alles andere als leicht ist.

Coming of Age in der DDR

Im Gewand eines Coming-of-Ages-Romans erzählt Charlotte Gneuß vom Innenleben Karins und dem eines Staates, der seinen eigenen Bürger*innen misstraute und selbst vor der perfiden Nötigung Minderjähriger nicht zurückschreckte.

Charlotte Gneuß - Gittersee (Cover)

Dabei setzt Charlotte Gneuß auf ein kleines Ensemble von Figuren, das sich im Lauf der Zeit noch weiter durch Flucht verringert. Statt ein großes Panorama des Lebens junger Schüler*innen in der DDR zu erzählen, geht Gneuß den umgekehrten Weg und setzt auf Reduktion. So wird die Stasi beispielsweise hauptsächlich durch die ambivalente Figur Wickwalz personifiziert, außer Marie und Rühle treten kaum Mitschüler*innen hervor. Auch die Familie Köhler selbst bleibt reduziert, Oma, Vater, Mutter, Karin und ihre kleine Schwester. Viel mehr tragende Figuren gibt es kaum – und diese werden auch allesamt eher flüchtig skizziert, denn wirklich aussagekräftigen Zuschreibungen und Gestaltungen zu erhalten.

Sie stehen damit ganz in der übrigen Erzähltradition dieses Romans, der eher das Hingetupfte und Flüchtige denn breit Auserzählte bevorzugt. Viele Realia gibt es nicht in dem Roman, der auf eine genauere Verhaftung von Zeit und Raum verzichtet. Vielmehr legt es Charlotte Gneuß (zumindest in meiner Lesart) auf ein übergreifendes Thema an, nämlich die Jugend in der DDR, die hier nicht alleine nur auf ein detailliertes Einzelschicksal festgemacht werden soll.

Die Debatte geht fehl

Damit läuft auch die Debatte, die nur nach einem Artikel der FAZ und etwas Widerhall in den Feuilletons schnell erlahmte, ins Leere. Hintergrund war eine Liste mit Begrifflichkeiten und Unstimmigkeiten, die der ostdeutsche Schriftstellerkollegin Ingo Schulze für den gemeinsamen Verlag S. Fischer anfertigte und die dann zur Jury des Deutschen Buchpreises durchgestochen wurde. Jene Jury, die kurz zuvor Gittersee auf ihre Longlist gesetzt hatte.

Über das im Artikel angebotene Debattenstöckchen – ob Gneuß überhaupt authentisch von Dingen erzählen könne, die sie nicht aus eigener Anschauung und somit nur aus zweiter Hand kenne – wollte kaum einer springen. Schließlich darf und soll ja Literatur erst einmal alles und man darf ja über alles schreiben (wer könnte mit solch einer Auslegung da überhaupt noch historische Romane schreiben?). Einzig und allein die Qualität des Erzählten, die Stimmigkeit der entworfenen Welt und die literarische Tiefe sollten ja stehts im Mittelpunkt stehen. Und so zielen solcherlei Quisquilien auch breit am eigenen Kern der Sache vorbei. Denn Charlotte Gneuß will in Gittersee ja erkennbar keine – Plastik hin, Plaste her – fotorealistische Dokumentation des DDR-Lebens von Schülerinnen vorlegen.

Ein stimmiges Erzählkonzept

Vielmehr zieht ihr Erzählen zielt auf etwas anderes ab. Auf Gefühlswelten einer jungen Schülerin in einem übergriffigen und indoktrinierenden Staat, die Erschütterung des eigenen Koordinatensystems nach dem Verschwinden ihres Freundes und die Instabilität eines Systems, die sich der Heranwachsenden mehr und mehr zeigt.

Das gelingt Charlotte Gneuß ausnehmen gut, auch deswegen, weil sie neben der passenden Perspektive auch einen stimmigen Erzählton für das Erleben und Hinterfragen ihrer jungen Protagonistin findet.

Magst du keine Rumkugeln, fragte sie. Ich öffnete den Mund und spürte, wie Marie die Kugel hineinplumpsen ließ und wie ihr Fingernagel meine Lippen berührte. Du bist eingeschlafen, und dann hast du gequietscht, sagte Marie. Sie verdrehte den Kopf und machte zuckende Bewegungen. So, sagte sie, weißt du, so, Sie wiederholte das Ganze. Dann sah sie mich nachdenklich an und fragte, warum ich gestern nicht in der Schule gewesen sei.

Musste auf die Kleine aufpassen, die war krank.

Deine Mutter ist eine Krähe, stellte Marie fest. Ist doch ihr Kind, nicht deins. Und überhaupt darf sie das gar nicht. Wenn das rauskommt, dass du wegen deiner kleinen Schwestern nicht zur Schule gehst, sagte Marie. Schulpflicht und so.

Ich behauptete, dass ich gern auf die Kleine aufpassen würde, dass das gestern nur eine Ausnahme gewesen sie. Und außerdem, fiel mir ein, ist es auch Vatis Kind.

Charlotte Gneuß – Gittersee, S. 41

Fazit

Charlotte Gneuß gelingt ein Debüt mit einem stimmigen Erzählkonzept, das sich in meinen Augen mit der leicht kargen Erzählinstrumentierung an DDR-Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann oder Christine Wolter orientiert. Trotz meines Überdrusses der Gattung Coming of Age-Roman habe ich Charlotte Gneuß‘ Debütaufgrund der frischen historischen DDR-Setzung des Ganzen sehr gerne gelesen. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ist mehr als gerechtfertigt, die alberne Debatte um „authentisches“ Schreiben über die DDR aber nicht.


  • Charlotte Gneuß – Gittersee
  • ISBN 978-3-10-397088-3 (S. Fischer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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