Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch

Literatur, die die Perspektive eines Affen einnimmt, kennt man seit Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, der darin das Leben des Affen Rotpeter zwischen Mensch und Tier schildert. T. C. Boyles wendete Jahrzehnte später für seinen Roman Sprich mit mir eine ähnliche Erzählperspektive an, indem er einen Laboraffen zu einem Protagonisten in seinem Buch machte. Ein Roman, der aus der Sicht eines Berglöwen erzählt ist, das ist aber (zumindest für mich) neu. Henry Hoke wagt in seinem Roman Ganz wie ein Mensch das Experiment und erzählt von einem Berglöwen, der in den Hügeln Hollywoods umherstreift und einen ganz eigenen Blick auf die Menschheit dort drunten in „Ellej“ hat.


Einst lebten Berglöwen (beziehungsweise Pumas, so die geläufigere Benennung dieser Spezies hierzulande) in Amerika in einem Verbreitungsgebiet vom südlichen Kanada bis nach Patagonien, so weiß die Online-Enzyklopädie Wikipedia zu berichten. Doch die Bestände der viertgrößten Katzenart der Welt sind nicht nur in Amerika gewaltig geschrumpft. Erst langsam erholen sich die Bestandszahlen wieder und die Anzahl an Berglöwensichtungen nimmt zu.

Ein Berglöwe in den Hügeln Hollywoods

Im Falle von Henry Hokes Roman Ganz wie ein Mensch ist es der Großraum Los Angeles, in der sich eine dieser Großkatzen niedergelassen hat. Es ist ein historischer verbürgter Fall, auf dem sein Roman beruht, denn einen solchen Berglöwen gab es in den Hügeln der Millionenmetropole wirklich. Der Löwe namens P-22 lebte gute zehn Jahre dort, ehe er 2022 eingeschläfert wurde.

Ein Leben wie im Hollywoodfilm war es allerdings nicht, wenn man Henry Hokes und seiner Variante eines Berglöwens Glauben schenken darf. Denn es gibt kaum mehr Rückzugsorte für das Raubtier, Wasser ist Mangelware, ebenso wie „richtiges“ Essen. Hunger und Durst prüfen den Berglöwen und so offenbart er gleich zu Beginn seine Notlage mit folgenden Worte:

„Ich habe noch nie einen Menschen gefressen aber heute könnte es soweit sein“

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 7

Genügend Menschen zur Speise hätte er dort in den Hügeln der Millionenmetropole auf alle Fälle. Wanderer, Menschen in ihren Villen, Obdachlose. Bei seinen Streifzügen lernt der Berglöwe alle gesellschaftlichen Schichten kennen, die er belauscht und beobachtet. So versorgt ihn ein Zeltlager von Obdachlosen mit Essen, später bricht er in einen womöglichen Privatzoo ein und wird zum Kuscheltier der Tochter eines Villenbesitzers.

Angefetzte Sätze

In kurzen Flashs und Ellipsen blicken wir durch die Augen des Berglöwen auf das absonderliche Treiben dort in Hollywood. Henry Hoke nutzt dafür einen minimalistischen Stil, der auf Punkte und Kommata weitestgehend verzichtet und seine Sätze nur anfetzt, wie es ein Berglöwe mit seiner Beute zu tun pflegt (übersetzt von Stephan Kleiner):

Meine Mutter hat mir einen Namen gegeben den ich nicht verraten kann

Ich bin nicht aus Ellej ich bin bloß hier gelandet

Ich war ein Baby weit weg wo die Sonne untergeht

Einem tiefen Wald am Wasserufer wo wir nachts das Salz schmecken konnten das der Wind rübertrug

Wir

Denn da waren viele von uns auf dem grünen Hügel wo die Farben Farben waren die ich hier nicht sehe und Rehe rumstreunten denen wir bloß geduldig auflauern mussten um sie zu fangen

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 42 f.

Vieles muss man sich selbst zusammenreimen durch diese Wahrnehmung des Berglöwen abseits unserer erlernten Muster erst zusammenreimen oder bekommt es an späterer Stelle im Buch halbwegs erklärt. Einfach macht es sich Henry Hoke weder seinen Leser*innen, noch sich selbst.

Das Erzählexperiment geht nicht ganz auf

Henry Hoke - Ganz wie ein Mensch (Cover)

Diese Gedanken und Wahrnehmungen des Berglöwen zu lesen, ist wirklich ein spannendes Leseexperiment, das aufgrund seiner Knappheit in Stil und Seitenumfang zu einer geradezu gehetzten Lektüre einlädt. Ganz geht das erzählerische Experiment in meinen Augen allerding nicht auf, etwa wenn der Löwe, der normalerweise von Santa Feh oder Ellej spricht, was er den Menschen abgelauscht hat, plötzlich des Englischen mächtig wird.

So kann er eine Musikaufnahme, die aus einer der Villen in den Hügeln Hollywoods dringt, plötzlich ganz korrekt zuordnen: Sie singt Living alone is all I’ve ever done well (S. 117).

Wie das funktionieren soll und der musikalisch ungebildete Löwe plötzlich polyglott und grammatikalisch einwandfrei Songtitel korrekt wiedergeben kann, das erschließt sich mir auch in der Logik des übrigen Erzählens nicht. Auch wäre vielleicht ein näher am Originaltitel Open Throat liegender deutscher Titel eine bessere Wahl gewesen für diese animalische Prosa denn das etwas im Ungefähren verharrende Ganz wie ein Mensch.

Fazit

Insgesamt aber ist Ganz wie ein Mensch ein schnelles, stilistisch rohes und minimalistisches Erzählexperiment, das zur Abwechslung mal aus den Augen eines Pumas auf Los Angeles blickt. Übersetzt von Stephan Kleiner gibt Henry Hokes Erzählexperiment Einblick in die Seele eines hungrigen Tieres und legt so dort in den Hügeln Hollywoods das Tierische im Menschlichen frei und umgekehrt.


  • Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-96161-188-1 (Eisele-Verlag)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rebecca F. Kuang – Yellowface

Was, wenn der größte schriftstellerische Erfolg der Laufbahn gar nicht aus der eigenen Feder stammt? Rebecca F. Kuang lässt in ihrem neuen Roman Yellowface eine junge Autorin am Literaturbetrieb verzweifeln, ehe sie in den Besitz eines Manuskripts gelangt, das ihr den großen Durchbruch beschert. Doch wie lange kann das gutgehen, sich mit fremden literarischen Federn zu schmücken?


Romane und Kinofilme über Schriftsteller, die sich fremde Werke aneignen, gibt es in rauer Menge. Im Kino konnte man im Jahr 2012 beispielsweise Bradley Cooper in Der Dieb der Worte dabei beobachten, wie er ein zufällig gefundenes Manuskript als das seine ausgab und damit großen Erfolg erzielte.

Martin Suter ließ in seinem Roman Lila, Lila ebenfalls einen erfolglosen Schriftsteller über ein verheißungsvolles Manuskript stolpern, das dieser in der Schublade eines alten Nachttischs fand. In der Folge des (mit Daniel Brühl in der Hauptrolle ebenfalls fürs Kino adaptierten) Romans verhedderte sich der junge Schriftsteller zusehends in seiner eigenen Geschichte.

Der erzählerische Stoff des Materialdiebstahls und der Aneignung eines fremden Werks ist also kein ganz neues Material, das sich Rebecca F. Kuang für ihren Roman Yellowface ausgesucht und verarbeitet hat. Dadurch, dass sie den ethischen Fall eines Manuskriptdiebstahls allerdings um eine ethnische Komponente erweitert, gelingt ihr ein sehr gegenwärtiger Roman, der von aktuellen Diskursen ebenso wie vom elitären Literaturbetrieb erzählt.

Eine erfolglose Schriftstellerin erzählt

Vorgebracht wird das alles in einem sehr umgangssprachlichen, von Jasmin Humburg treffend aus dem Englischen übersetzten Tonfall. Hier erzählt eine junge Frau namens June Hayward, der man gleich abnimmt, dass es mit ihren Romanen bislang noch nicht so wirklich hat klappen mögen. Denn der Tonfall der Ich-Erzählerin, er gleicht weniger dem einer ambitionierten und literarisch versierten Autorin mit breitem Sprachrepertoire denn einer Umgangssprache, die man im informellen Gespräch unter Freunden pflegt.

Rebecca F. Kuang - Yellowface (Cover)

Eine solche Freundin oder besser Bekannte gibt es auch tatsächlich in Junes Leben. Ihr Name: Athena Liu.

Seit Studientagen in Yale halten die beiden jungen Frauen Kontakt und tauschen sich regelmäßig aus. Im Gegensatz zu June ist die asiatischstämmige Athena aber eine erfolgreiche Autorin, die vom kreativen Schreiben gut leben kann. Jeder Roman aus ihrer Feder wird erfolgreicher als der vorhergehende – und so ein Deal mit Netflix für Athena auch nur ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter, die für sie im Gegensatz zu June nur eine Richtung kennt, nämlich nach oben.

Plötzlich aber bietet sich für junge Autorin DIE Gelegenheit, selbst nach den literarischen Sternen zu greifen. Der Anlass dazu ist allerdings ein tödlicher. Denn bei der abendlichen Feier des Netflix-Vertrags erstickt Athena an einem Pancake – und June nutzt die Gunst der Stunde, um sich eines noch nicht fertigen Romanmanuskripts Athenas zu bemächtigen, ehe der Rettungsdienst eintrifft.

Per Yellowface zum literarischen Durchbruch?

Diese gestohlene Geschichte über das chinesische Arbeiterkorps, das im Ersten Weltkrieg von den Alliierten ausgehoben und verheizt wurde, ist ein Meisterwerk, wie June schnell erkennt. Nach einigen Umarbeitungen und gestalterischen Akzentuierungen bietet June das Manuskript über ihren Agenten an und erfährt plötzlich das, was ihr zuvor das ganze schriftstellerische Leben bislang versagt war, nämlich ein durchschlagender Erfolg.

Kritiker, Blogger, der Buchhandel – alle reißen sich um June Buch, die für das Buch über das Arbeiterkorps der besseren Marktgängigkeit wegen ihren Namen in Juniper Song abgeändert hat.

Doch diese Erfolgsgeschichte steht auf höchst tönernen Füßen und schon bald mehren sich kritische Stimmen aus der Verlagsbranche, der Kritik und den sozialen Medien, die den plötzlichen literarischen Erfolg von June in Zweifel ziehen. Wie kommt eine junge amerikanische, offensichtlich überhaupt nicht chinesischstämmig Frau dazu, sich so mit der Geschichte des Chinesischen Arbeiterkorps zu beschäftigen, noch dazu wenn sie nicht einmal ein Wort chinesisch spricht? Hat hier eine weiße amerikanische Frau kulturelle Aneignung betrieben und sich diesmal statt Blackfacing per Yellowface einen Erfolg erschlichen? Oder ist es noch schlimmer und das Buch stammt in Wahrheit gar nicht von ihr, wie es erste Stimmen im Internet insinuieren? Die Zweifel an June wachsen.

Literaturbetriebsroman und Hochstapler-Satire

Rebecca F. Kuangs Roman betrachtet und hinterfragt die Mechanismen des Literaturbetriebs auf spannende Art und Weise und erzeugt bei der Lektüre viele Fragen. Wo fängt überhaupt eine eigene schöpferische und kreative Leistung an? Wie weit darf man in seinem Streben nach literarischer Anerkennung gehen und welche Ausschlusskriterien des Buchmarkts machen es Schriftsteller*innen schwer? Und wer darf denn überhaupt worüber erzählen, wo beginnt kulturelle Aneignung und was darf Kunst?

Yellowface beschreibt sehr gegenwärtige Diskurse und Debatten, die auch hierzulande in Ansätzen geführt werden. Eindrücklich zeigt Rebecca F. Kuang, wie sich der Misserfolg auf dem Buchmarkt anfühlt und wie schwierig es sein kann, dort Fuß zu fassen, wenn einen Verlag, Kritik und der Buchmarkt nahezu ignorieren. Dass Juniper eine larmoyante, selbstgerechte und bisweilen recht anstrengende Erzählerin ist, gehört da genauso zum Konzept wie die „einfache“ Sprache, die den Spagat zwischen der mediokren Autorin und Ich-Erzählerin und der gar nicht mediokren Autorin Rebecca F. Kuang gelungen schafft.

Ich werde immer die Schriftstellerin sein, die Athena Lia um ihr Vermächtnis brachte. Die verrückte, neidische, rassistische weiße Frau, die das Werk einer Asiatin stahl.

Rebecca F. Kuang – Yellowface, S. 377

Das trägt Züge einer nachtschwarzen Satire, eines Literaturbetriebsromans und natürlich auch einer Hochstaplererzählung á la Patricia Highsmith in sich. Diese Mischung kam in den USA bereits sehr gut an, wo das Buch auf TikTok als auch bei den großen Verlagshäusern sehr präsent war und im Vereinigten Königreich gar den neu initiierten Preis des Amazon Best Book of the Year gewann.

Und auch für Deutschland ist ein ähnlicher Erfolg nicht ausgeschlossen, bietet das Buch doch abgesehen von den Komponenten, die in visuellen Medien wie TikTok oder Instagram Erfolg verheißen (markantes Coverdesign, trendiger Farbschnitt inklusive, passendes Merchandising) auch inhaltlich viel Anschlussfähigkeit.

Diese stilistisch vermeintlich einfache und höchst unterhaltsame Geschichte wirft über ihr plaudriges und manchmal larmoyantes Parlando hinaus durch ihre ethnische Komponente auch viel ethische Fragen auf. Der kritische Blick auf den Buchmarkt in seiner ganzen Undurchlässigkeit ist mit kleinen Einschränkungen ebenso auf die Verhältnisse hierzulande übertragbar und in Sachen Debattenton nähern wir uns ja auch inzwischen das ein ums andere Mal den im Buch karikierten Auseinandersetzungen an. Insofern dürfte Rebecca F. Kuang auch hierzulande ein großer Erfolg beschieden sein.

Fazit

Mit Yellowface stellt Rebecca F. Kuang einmal mehr ihre stilistische und thematische Wandelbarkeit unter Beweis und erzählt die Geschichte einer kulturellen Aneignung im Milieu des Buchmarkts. Ihr gelingt eine nachtschwarze Satire, die von den Mechanismen des Buchmarkts ebenso erzählt wie von der Skrupellosigkeit ihrer Erzählerin, die uns hier in diese (hoffentlich nicht geklaute) Geschichte hineinlockt. Ein großer und leicht zugänglicher Lesespaß, der seine ganze ethische Dimension langsam entfaltet.


  • Rebecca F. Kuang – Yellowface
  • Aus dem Englischen von Jasmin Humburg
  • ISBN 978-3-8479-0162-4 (Eichborn)
  • 383 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €
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Nathan Hill – Wellness

Wie kann sie aussehen, die moderne Ehe? Nathan Hill unternimmt in seinem zweiten Roman Wellness einen vielschichtigen Erkundungsversuch und spürt ihr in den Weiten Kansas‘, im gentrifizierten Chicago und sogar im Swingerclub nach. Ein großartiges und abwechslungsreiches Leseerlebnis, trotz seines Umfangs keineswegs zu lang!


Kommst du? Mit diesen Worten beginnt die Liebesgeschichte, die im Mittelpunkt von Nathan Hills neuem Roman steht.

Erwies sich Hill mit seinem Erstling Geister als hellsichtiger Prophet, der noch vor der Wahl Donald Trumps am Rande seines Romans von einem egoistischen und wenig präsidialen republikanischen Präsidentschaftsbewerber erzählte, so hat er sich für seinen zweiten Roman die Gabe des genauen Blicks bewahrt. Dies stellt er unter Beweis, indem er von Jack Baker und Elizabeth Augustine erzählt, die sich schon seit geraumer Zeit als anonyme Beobachter ihrer gegenüberliegenden Wohnungen im Chicagoer Stadtviertel Wicker Park vertraut waren.

Nathan Hill - Wellness (Cover)

Aber erst ein Abend im Jahr 1993 sorgt dafür, das aus den Voyeuren ein wirkliches Paar wird. Denn Jack fotografiert in der vielfältigen Musikszene, als er an einem Abend bei einem Gig aufstrebender Bands seine so häufig beobachtete Nachbarin Elizabeth entdeckt. Mit einem „Kommst du?“ lockt er diese zunächst in die Chicagoer Nacht hinaus und wenig später in ein gemeinsames Leben hinein.

Dieses Leben steht im folgenden reichlich wilden, aber erzählerisch höchst durchdachten Montagegewitter im Mittelpunkt und wird von Hill von allen Seiten betrachtet. Dafür springt er in der Zeit nach vorne, zeigt Elizabeth und Jack als Eltern eines Sohnes, um dann auf die Herkunft der beiden zu blicken und vom Aufwachsen Jacks als schwächlichem Farmerkind in Kansas und Elizabeth als Erbin alten Geldes zu erzählen. So geht es in diesem Roman hin und her, der auch wie schon in Hills erstem Roman mit seinem Formenreichtum und den erzählerischen Einfällen überzeugt, wodurch sich die 730 Seiten deutlich kurzweiliger anfühlen, als es die schiere Zahl glauben machen will.

Die Frage nach der modernen Ehe

Die Widersprüchlichkeit in der Herkunft ist in Wellness genauso Thema wie die allesüberlagernde Frage, wie eine Ehe heute aussehen kann und wie das überhaupt gelingt, ein Paar zu sein.

Elizabeth hörte zu, während Kate sagte, das Problem moderner Ehen sei eigentlich das ständige Zusammensein, all die Vertrautheit, dieser dumme Drang, vollständig mit dem anderen zu verschmelzen, dabei könne eine Ehe nur die Jahrzehnte überdauern, wenn man ihr etwas Mysterium, Distanz und Eigenständigkeit injiziere, und als Elizabeth das hörte und sich ein Leben in völliger Unabhängigkeit ausmalte, gelegentlich gewürzt mit einer vergnüglichen und ethisch vertretbaren Affäre mit einem gut aussehenden Fremden in einer von allen Verantwortungen der Ehe oder der Elternschaft befreiten Nacht, wusste sie augenblicklich: Das war endlich eine Geschichte, die sie glauben konnte.

Nathan Hill – Wellness, S. 452

Wie Umgehen mit Routine und Vertrautheit? Welchen Konzepten als Paar kann man folgen und wie viel Freiheit bedarf das eigene Zusammensein? Soll es eher das Konzept der offenen Ehe sein, wie von Bekannten praktiziert, oder gleicht das eigene Miteinander eher dem Konzept, wie es etwa der Maler Grant Wood in seinem ikonischen Werk American Gothic zeigt?

Nicht nur an diesem Punkt müssen Elizabeth und Jack erkennen, dass sie eigentlich an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen und dass sie trotzdem zusammengefunden haben.

Wie zu einem Konsens finden, wie leben?

Als sich die beiden entschließen, ihr Erspartes in den Traum eines gemeinsamen Zuhauses zu stecken, treten auch hier große Differenzen und Herangehensweisen zutage. Während Elizabeth offene Fronten in der Küche und zwei verschiedene Eingänge in die Wohnung präferiert (eine gemeinsames Zuhause hat man ja schließlich für immer, die gemeinsame Beziehung nicht automatisch), ist Jack von einem solchen Ansinnen und solchen Überlegungen vollkommen befremdet.

Dabei stehen seine beiden Figuren nicht nur qua Herkunft für Antipoden. Während sich Jack in seiner Tätigkeit als wenig erfolgreicher Künstler und Dozent eingerichtet hat, strebt seine Frau nach mehr, nicht nur in der Erziehung des Sohnes, den sie als Psychologin studiengestützt bestmöglich erziehen will. Sie die neugierige und experimentierfreudige Placeboforscherin, er der Stoiker, den nur der Chat mit seinem verschwörungsgläubigen Vater in Rage zu versetzen vermag. Wie können die beiden zu einem Konsens finden – und geht so etwas überhaupt?

Immer tiefer bohrt sich Nathan Hill in die Psyche und die Beziehung seiner beiden Hauptfiguren hinein, lotet ihr Zusammensein aus und legt Schicht um Schicht die beiden gegensätzlichen Charaktere und deren Formungsgeschichte offen. Neben diesen achronologischen Tiefenbohrungen gelingen ihm darüber hinaus auch immer wieder grandiose Pointen und ebenso grandiose Passagen wie die Nacherzählung des Abgleitens des eigenen Vaters in die Verschwörungswelt des Internets, dargeboten in Form von sieben Algorithmen. Hier blitzt wieder die Aktualität und Passgenauigkeit für unsere Tage auf, die Hill schon in Geister an den Tag legte.

Fazit

Schrieb ich vor acht Jahren im Rahmen meiner Kritik zu Geister, dass sich hier ein verheißungsvoller junger Literat am Spielfeldrand aufwärme, um den altgedienten Recken des Great American Novel bald den Rang abzulaufen, so ist er mit Wellness für meine Begriffe nun wirklich im Spiel und mischt vollends bei den Großen des Genres mit.

Seine höchst unterhaltsame Schilderung der Ehe eines gegensätzlichen Paars vermag durch genaue Beobachtungsgabe, literarischen Formenreichtum und eine klug gewählte Montagetechnik zu überzeugen. Das ist Literatur auf der Höhe der Zeit, die Herz und Hirn gleichermaßen anspricht und nur so durch die Seiten fliegen lässt. Eine echte literarische Wellness-Behandlung, und das garantiert Placebo-frei!


  • Nathan Hill – Wellness
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-492-07214-4 (Piper)
  • 736 Seiten. Preis: 28,00 €
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Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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