Vicente Valero – Krankenbesuche

Die Ferieninsel Ibiza dürften wohl die wenigstens mit dem Topos der Krankheit und des Siechtums in Verbindung bringen. Und doch siedelt der Spanier Vicente Valero seine Erzählung Krankenbesuche auf ebenjener Insel an und erzählt aus Sicht eines zehnjährigen Jungen von den Kranken und verschränkt dabei Kindheit, Sonneninsel und moribundes Siechtum auf überzeugende Art und Weise


Schon seit langem hat sich der kleine Berenberg-Verlag auf die Herausgabe dünner Preziosen spezialisiert, die mal in Chile, mal in Palästina oder in Deutschland spielen, und die meist zumeist ihre Perspektive eint. Oftmals wird aus der Sicht der Unterschätzten, der Kinder und anderen Underdogs erzählt und deren Sicht auf die Welt in den Blick genommen. Krankenbesuche macht da keine Ausnahme

Vicente Valero - Krankenbesuche (Cover)

Hier ist es der namenlose Erzähler, der zurück in sein zehnjähriges Ich schlüpft und von seinem Aufwachsen auf der Sonneninsel Ibiza im Jahr 1973 erzählt. Seine Mutter bestreitet auch nach dem Tod der eigenen Mutter weiterhin viele Krankenbesuche bei Bekannten und nimmt dafür stets den eigenen Sohn mit, den die Zusammenkünfte am Krankenbett oder Nebenzimmer wechselweise anöden und elektrisieren.

Während die Erwachsenen bei Dessertwein und Knabbergebäck palavern und dem eigentlichen Anlass des Besuchs, den Kranken selbst, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zukommen lassen, ist der Junge von dieser Welt so manches Mal fasziniert. Ärzte, die mit ihren Doktorenkoffern bei den Kranken die Aufwartung machen und deren Ansehen zwischen Göttern in Weiß und Kurpfuschern schwankt. Und die Patienten selbst, die manchmal eine wundersame Auferstehung feiern – oder aber überraschend schnell aus dem Leben scheiden.

Häuser, Diktatoren, Kranke – alles bröckelt

Die Feuchtigkeit und der Salpeter setzten den Häusern zu, nicht nur im Hafenviertel, sondern auch in der Altstadt, und ebenso im neuen Teil, dessen moderne Gebäude aus schlechtem Material errichtet worden waren. Wir lebten nun einmal mitten im Meer, auf einer Insel, und die Winter dort umhüllten uns mit ihrer salzigen und kalten Luft, ihrer regenschweren Musik, ihren dunklen Nebeln. Wo der Putz abbröckelte, setzte sich der Schimmel fest, und in den Ecken der Zimmerdecken bildeten sich schwärzlich-grüne Flecken, die man für schmutzige verlassene Nester hätte halten können. Wie saurer Schaum drang über Nacht zähflüssig-stockender Salpeter aus den Mauern, als überzöge sich eine Wunde mit Eiter.

Vicente Valero – Krankenbesuche, S. 21

Alles auf dieser Insel ist irgendwie bröckelig. Die Hausmauern und Bauruinen, die vom Meereswind angegriffen werden, der sieche Diktator Franco, dessen starke Hand so stark nicht mehr ist, die Buchseiten, die sich aus dem Büchern lösen – und natürlich die Patientinnen und Patienten in den Krankenbetten.

Vielleicht manchmal etwas arg evident

Manchmal vielleicht etwas arg evident beschreibt Vicente Valero diese Welt des Zerfalls, in der die Ankunft einer französischen Familie dem durch Krankenbesuche und Schule strukturierten Lebensrhythmus Abhilfe verheißt.

Guillaume ist mit seiner Schwester und der gesamten Familien aus Toulouse in Frankreich auf die Insel übergesiedelt, wo der Großvater seine letzten Wochen genießen soll. Einst lebte der Großvater mit seiner Familie in hier Spanien, flohen dann aber vor dem Krieg nach Frankreich, wohin er nun im Frühjahr des Jahres 1973 zurückkehrt, um als Kranker seinen Lebensabend zu genießen.

Mit Guillaume, aus dem schnell Guillermo werden soll, schließt der Erzähler Freundschaft, erlebt die typischen Kinderabenteuer (Fußball auf Brachflächen, gefährliche Rettung des Spielgeräts) und bekommt es in der Schule mit einem höchst unkonventionellen Lehrer zu tun, der das Leben des Jungen nachhaltig prägt. Doch auch in der Schule sind Krankheit und Tod präsent – und so bleibt das Siechtum ein steter Begleiter auf dem Lebensweg des kindlichen Erzählers.

Ibiza fernab aller Klischees

Mit Krankenbesuche gelingt Vicente Valero ein in sich absolut stimmiges Büchlein über eine Kindheit auf Ibiza, die konsequent alle Klischees meidet. Hier ist nichts mit Cocktails am Meer, Sonnenbrand und Sandstrand, stattdessen besticht das Buch durch einen ungeschönten Blick auf die Insel der Balearen vor allen in den späteren Jahren folgenden Tourismusexzessen.

Vicente Valero erzählt höchst vielfältig vom Siechtum und den manchmaligen Auferstehungen der Kranken konsequent durch die Brille eines Kindes. Wenn man Krankenbesuche liest, fühlt man sich selbst wieder wie ein kleiner Besucher im Krankenzimmer, der vor lauter Beinen der Erwachsenen kaum zum Blick auf den Kranken kommt. Die verwirrenden Rituale der Erwachsenen, die sich nicht immer erschließen, die Freiheiten der eigenen Kindheit und Jugend – und nicht zuletzt das Siechtum und der Tode – es ist alles drin in diesem Buch (übersetzt von Peter Kultzen).

Fazit

Wieder einmal präsentiert der Berenberg-Verlag ein Kunstwerk, das durch Gehalt und Perspektivwahl überzeugt. Nach seinem im vergangenen Jahr erschienen Werk Schachnovellen ist hier wieder ein tolles Buch von Vicente Valero zu entdecken, in dem er zurück ins Jahr 1973 nach Ibiza entführt, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt in die Klischeefalle zu tappen. Ein schöner Beitrag aus dem diesjährigen Buchmesse-Gastland Spanien, das vielleicht nicht für den Besuch im Krankenhaus das ideale Mitbringsel ist. Aber für alle anderen Begegnungen mit literarisch Interessierten umso mehr!


  • Vicente Valero – Krankenbesuche
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-949203-39-8 (Berenberg)
  • 112 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer

Braucht es eine Altersgrenze für Auftragskillerinnen? Dieser Frage geht die Südkoreanerin Gu Byeong-Mo in ihrem Roman Frau mit Messer nach. Sie erzählt von einem altbekannten Topos mit einer ungewöhnlichen Heldin.


Die USA oder Cool Britannia als Impulsspender für das globale kulturelle Leben, das war einmal. Schon längst sind die westlichen Nationen von einem anderen Land abgelöst worden, das sich zum Taktmacher der kulturellen Revolution aufgeschwungen hat. Die Rede ist von Südkorea.

Die Boyband BTS bricht mit ihrem K-Pop ebenso Herzen wie Tourneerekorde, Bong Joon-ho durfte sich unlängst für seinen Film Parasite den Oscar abholen, die Serie Squid Games schlug alle Rekorde – und auch in der Literatur ist der Einfluss Südkoreas unübersehbar. Da wäre beispielsweise Sang Young Park mit seinem sehr zeitgeistigen Roman Love in the big city (das mich zu einer ähnlichen Einleitung der Besprechung inspirierte, wie ich beim Korrekturlauf der Rezension feststellte) oder Young-ha Kim, der in seinem Roman Aufzeichnungen eines Serienmörders ebenjenen Serienmörder mit einer Alzheimererkrankung konfrontiert.

Zu diesen interessanten Stimmen gesellt sich nun auch Gu Byeong-Mo, die in Frau mit Messer das altbekannte Thema des alternden Auftragskillers auf interessante Art und Weise umarrangiert und inszeniert.

Altbekanntes Motiv, frischer Zugang

So ist das Thema des dienstmüden Auftragskillers von Luc Bessons Film Leon der Profi bis hin zu Martin Booths The American ausgiebig verhandelt worden und in der Popliteratur wirklich als arriviert zu bezeichnen. Dieses Thema ist auch bei Gu Byeong-Mo dasselbe, doch ihre Heldin Hornclaw unterscheidet sich erheblich von all den ausgebrannten Männern, die doch schlussendlich immer noch einmal für einen letzten Job ranmüssen.

Gu Byeong-Mo - Frau mit Messer (Cover)

Ihre Heldin ist eine 65-jähre Frau, die eigentlich das perfekte Renteneintrittsalter hätte. Doch sie kann vom Morden nicht wirklich lassen, kommt in der U-Bahn bedrohten Frauen zu Hilfe und erledigt ihre Auftragspersonen dabei bevorzug mit – wer hätte es bei dem Titel anders erwartet – mit Messern, die sie in verschiedenen Ausfertigungen mit sich führt. Tätig ist sie für eine Agentur, die die Killer verwaltet und Auftraggeber und Mörder zusammenbringt.

Das Alter setzt ihr inzwischen zu – ebenso wie ein junger, ungestümer Kollege, der sie beständig provoziert, herausfordert und auf die Probe stellt. Die Auftragsmorde – oder „Schädlingsbekämpfung“, wie Hornclaw ihr Metier für sich getauft hat- gingen ihr auch schon einmal leichter von der Hand. Und so stellt sie sich folglich die Frage, ob es nicht Zeit für die Rente wäre, insbesondere da Hornclaw in letzter Zeit zunehmend beunruhigende Faktoren wie die Entwicklung von Empathie und Mitmenschlichkeit an sich entdeckt hat.

Wie konnte sie in so einem kritischen Augenblick die Zielperson verlieren und stattdessen einem Fremden helfen? Wenn der Anblick eines sich abmühenden Mannes, der ungefähr in ihrem Alter ist, bei ihr zu solchem Mitleid führt … tja, sie hat die ganze Zeit ganz gut ohne das alles gelebt und tatsächlich nur deswegen überlebt, weil solche Gefühle in ihr abgestumpft sind. Aber jetzt sind sie plötzlich da.

Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer, S. 157

Doch die Frau mit Messer kann von ihrem Job nicht lassen – und spätestens als das Kind von lokalen Standbesitzern entführt und von den Entführern eine Botschaft an Hornclaw gesendet wird, ist klar, dass die Killerin noch einmal die Messer wetzen muss.

Genretypische Motive, modern interpretiert

Frau mit Messer ist ein Buch, das einerseits voller genretypischer Tropen wie dem treuen und klugen Hund ist, der als verständiger Mitbewohner zuhause wohnt und auf seine Besitzerin wartet. Natürlich fliegen Granaten durch die Luft und Autos auf Dächer, natürlich wird auch bei Frau mit Messer geballert, gemeuchelt und gehetzt. Aber das alles arrangiert Gu Byeong-Mo auf frische und manchmal durchaus ungewöhnliche Art und Weise, wenngleich der Showdown dann ganz klassisch mit hohem Bodycount und der üblichen Entwicklung seinen Lauf nimmt.

Bei ihr findet sich non-binäres Verwaltungspersonal, der Plot wird nicht immer linear erzählt und mit der alternden Killerin steht eine unangepasste Frau im Mittelpunkt, die Schwäche zeigen darf und gerade dadurch ihrem typischen Berufsbild eigentlich widerspricht. So stellt das Buch subtil zwinkernd die Frage nach einer Altersgrenze für Killer*innen und nimmt die gegenwärtige soziale Situation Südkoreas in den Blick. Letzten Endes läuft das Buch auf sein erwartetes Ende zu, aber die ungewöhnliche Heldin hebt Gu Byeong-Mos Buch über das Gros ähnlicher Romane, die von alternden Auftragskillern handeln, heraus.

Nur eine Kleinigkeit bleibt zu bemäkeln. Wenn man schon eine neue südkoreanische Stimme präsentiert, dann hätte man in meinen Augen auch auf eine Übersetzung aus dem südkoreanischen Original zurückgreifen sollen, statt die amerikanische Übersetzung dann ins Deutsche zu übertragen, obgleich Wibke Kuhn gute Arbeit leistet. Davon abgesehen gibt es hier spannend variierte Thrillerkost, die einmal mehr zeigt, wie Südkorea sich den westlichen Pop einverleibt und weiterentwickelt hat.


  • Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer
  • Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
  • ISBN 978-3-550-20150-9 (Ullstein)
  • 288 Seiten. Preis: 22,99 €
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Sebastian Guhr – Chamissimo

Adelbert von Chamisso – war da nicht etwas? Vielleicht entsinnt sich manch einer noch des bekanntesten Werks des 1781 geborenen Autors, nämlich Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Vielleicht kramt man aus der Tiefe des eigenen Erinnerns noch den Adelbert von Chamisso-Preis hervor, der bis 2017 an Autor*innen nichtdeutscher Sprachherkunft verliehen wurde, etwa an Esther Kinsky oder Abbas Khider. Damit dürfte es dann aber alles gewesen sein, was man als durchschnittlich gebildeter Nicht-Germanist zu Chamisso beitragen kann.

Was für ein spannendes Leben Adelbert von Chamisso tatsächlich geführt hat, das zeigt der Berliner Autor Sebastian Guhr in seiner Romanbiografie Chamissimo, in der Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen, ganz wie im Schaffen von Chamisso selbst.


Unstetigkeit, sie war Adelbert von Chamisso schon von Kindesbeinen an vertraut. So musste die Familie im Jahre 1971 vor den anrückenden napoleonischen Aufständischen aus ihrem Schloss in Frankreich fliehen. Chamisso kam nach Bayreuth und fand Anschluss am preußischen Hof, an dem er trotz Romanzen und Freundschaftsbünden mit Männern wie Eduard Hitzig oder Karl August Varnhagen (dem später Mann von Rahel Varnhagen), Außenseiter blieb.

Sebastian Guhr - Chamissimo (Cover)

Zwar nahm Chamisso am höfischen Leben teil, verliebte sich und trat 1798 als Kadett dem Infanterieregiment Ferdinand von Goetzes ein und versuchte sich als preußischer Soldat – so recht wollte dieses Leben aber nicht zu ihm passen.

Er lernte im Rahmen von Salons Berühmtheiten seiner Zeit kennen, darunter Wilhelm Humboldt, Ludwig „Turnvater“ Jahn oder E.T.A. Hoffmann, das Rezept für ein gelingendes Leben lieferten sie ihm aber alle nicht. Seine Schreibversuche blieben in der Welt zwischen Frankreich und Deutschland beschränkt – und erst die (imaginierte?) Episode der Begegnung Chamissos mit einem Mann, der ihn um seinen Schatten ersuchte, brachte die Wende im Leben des unsteten Poeten.

Trotz gegenteiliger Anweisung veröffentlichte ein Freund Chamissos die Erzählung des gestohlenen Schattens als Peter Schlehmils wundersame Geschichte – die fortan für Ruhm und Ehre sorgte. Doch auch dieser erzählerische Durchbruch sorgte nicht für Konstanz – und Chamisso heuerte an Bord des russischen Schiffs Rurik unter Leitung des Kapitäns Otto von Kotzebue als Titulargelehrter einer Expedition an, die ihn bis nach Brasilien, den Nordpol und Kamtschatka bringen sollte.

Dort wird er zum Robinson, entdeckt auf der Reise neue Algenarten – und doch bleibt die Unstetigkeit auch dort in seinem Leben ein treuer Begleiter.

Voller Zeit- und Literaturgeschichte

Adelbert von Chamisso - Porträt
Adelbert von Chamisso

Chamissimo ist ein Werk, das von Zeit- und Literaturgeschichte durchzogen ist. Seit den Kindertagen Chamissos, als er mit der Familie vor Napoleons Aufständischen fliehen muss, ist der korsische General ein Wegbegleiter, dessen Treiben immer wieder Auswirkungen auf Chamisso haben wird. Entzweigerissen zwischen seinem Herkunftsland und seiner neuen Heimat wird Chamisso ein unangepasster Mensch bleiben, der zwischen Frankreich, Preußen und Russland hin und hermäandert und nicht zur Ruhe kommt, weder geographisch noch psychisch.

Genauso unklar wie seine wirkliche Heimat und Identität ist auch sein Schreiben, dass durch die Begegnungen mit vielen Schriftstellerinnen geprägt wurde und das sich irgendwo zwischen Klassik (Jean Paul), Vormärz (Kotzebue), dunkle Romantik (E.T.A. Hoffmann) und der hellen Seite der Romantik verortet.

Schön, dass sich Sebastian Guhr hier entscheidet, die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verwischen, indem er Chamissos erfolgreichstes Werk Peter Schlemihl auch auf Chamissos Leben selbst überträgt.

Ihm gelingt eine gut geschriebene und ebenso gut lesbare Romanbiographie, die in ihren Grundzügen etwas an Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder an die Pfaueninsel von Thomas Hettche erinnert. Sehr zugänglich und mit dem kleinen literarischen Twist der Vermengung von Fakt und Fiktion ist ihm so ein Buch gelungen, das durchaus empfehlenswert ist.

Fazit

Mit der bewegten Lebensgeschichte von Adelbert von Chamisso hat Guhr ein ergiebiges Ausgangsmaterial gefunden, das unter seinen Händen zu einem gut lesbaren Roman wird, der Lust macht, sich auch mit den Werken von Chamissos eingehender zu beschäftigen. Bravissimo für Chamissimo!


  • Sebastian Guhr – Chamissimo
  • ISBN 978-3-7374-1199-8 (S. Marix-Verlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eberhard Seidel – Döner

Ist ein Deutschland ohne den Döner denkbar? Wer Eberhard Seidels türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners liest, könnte da so seine Zweifel bekommen. Denn Migration, ökonomische Teilhabe, Rassismus, die Gewalt der Wendejahre, all diese Themen lassen sich fast mustergültig an der Geschichte des Döners in Deutschland ablesen, wie Seidel beweist. Und endlich wird auch die Frage geklärt, ob es jetzt Döner Kebap, Dönerkebab, Döner-Kebap oder Döner kebab heißt.


Mit Soße oder ohne, das Fleisch mit der Maschine geschnitten oder per Hand, die Zusammensetzung des Fleischspießes mit Lamm, Kalb oder Schwein – oder doch eine pflanzliche Alternative im Brötchen? Überhaupt das Brötchen – soll es ein Fladenbrot sein oder eine andere Art von Gebäck?

Die Frage nach dem „richtigen“ Döner ist eine Philosophie, über die es sich genauso vortrefflich streiten lässt wie die Frage, woher der Döner überhaupt stammt und wer ihn erfunden hat. War es ein türkischer Meister aus Bursa? Oder ist nicht eigentlich der griechische Bruder des Döners, das Gyros, das lange vor dem eigentlichen Döner populär wurde? Und warum hat sich der Döner ausgerechnet in Deutschland zum Massenphänomen entwickelt?

All diesen Fragen geht Eberhard Seidel in seinem Sachbuch nach und entwirft dabei eine wirkliche Kulturgeschichte des Döners, wie es der Untertitel des Buchs verspricht. Dabei zeichnet er ein Bild von den Ursprüngen des Gerichts über die Entwicklung des Döners als populäre Speise durch türkischstämmige Einwander*innen bis hin zu dem Produkt, das heute in den schier unfasslichen Stückzahlen von einer Milliarde Dönerprodukte pro Jahr in Deutschland verzehrt wird (wenngleich man hier Schawarma, Köfte und Co. neben den reinen Dönern hinzuzählen muss)

Die Entwicklung des Döners

Eberhard Seidel - Döner (Cover)

Seidel präsentiert Rezepte aus den Anfangstagen des Döners und blickt auf die Entwicklung dieses Gerichts, das in der Fremde dank seines unvergleichlichen Preis-Leistungsverhältnisses zum Erfolgsprodukt wurde. Er beschreibt die Kunst der Schichtung der Dönerkegel, geht aber auch auf die Probleme ein, die durch einen unregulierten Markt von Berlin ausgehend entstanden, ehe die Berliner Verkehrsauffassung dem kulinarischen Wildwuchs und geschmacklichen Schindluder einen Riegel vorschob. Denn die Geschichte des Döners ist auch eine Entwicklungsgeschichte, die die zunächst kaum Regeln kannte und deren kulinarische Revolution durch Innovationen und erst spät durch einheitliche Standards zu dem Massenphänomen wurde, das heute aus weder Fußgängerzonen, noch aus Industriegebieten oder Bahnhofsvierteln wegzudenken ist.

Dabei zeigt Seidel, wie erstaunlich es war, dass innerhalb kurzer Zeit die Gemeinschaft der Dönerproduzent*innen zu einheitlichen Spielregeln wie der Berliner Verkehrsauffassung kam, gleichzeitig aber bislang jeder Versuch einer Dönerfranchise á la MacDonalds oder Nordsee gescheitert ist. Und Seidel zeigt, welchen Muts und welcher Kreativität es bedurfte, um den Döner in Deutschland zu etablieren.

Denn zuvorderst ist Döner in meinen Augen auch eines, nämlich eine Geschichte der Migration und des Rassismus, wie Eberhard Seidel deutlich zeigt.

Eine Geschichte der Migration

Er beschreibt, wie die Entwicklung mit der schwierigen Akzeptanz der türkischen Mitbürger*innen einherging, die man eigentlich nur als „Gastarbeiter“ akzeptieren wollte, ehe diese durch harte Arbeit und Selbstausbeutung in der deutschen Gesellschaft Fuß fassten und somit die Kulinarik der Deutschen langsam aber entscheidend prägten.

Vor allem auf die gewaltsame Ausgrenzung, Bedrohung und Ermordung von türkischen Bürger*innen in Ostdeutschland während der Wendezeit geht Seidel dabei ein. Er erzählt von antitürkischer Stimmung, die in den 70er und 80er Jahren durch Medien, NPD und anderen Parteien als sogenanntes „Türkenproblem“ geschürt wurde, und das sich vor allem in der Wendezeit im Osten fortsetzte.

Erschreckend die Geschichte des türkischen Unternehmers, Izzet Aydogdu, der zusammen mit seiner deutschen Partnerin Ursula Bielack für den Döner den Osten kulinarisch erschließen wollte und dafür die „Dönerix“-Kette ins Leben rief. Die Gewalt der Neonazis gegen Aydogdus Lebenswerk, die in Gewaltexzessen während dieser Baseballschläger-Jahre mündete, schockiert.

Diese Geschichte verstört dadurch so sehr, da diese Gewalterfahrung und Ausgrenzung des Hoyerswerdaer Unternehmerpaares eben kein Einzelschicksal ist, wie Seidel zeigt. In seiner Kulturgeschichte des Döners macht er auf das Kontinuum der Gewalt und des Rassismus aufmerksam, dem sich die türkische Community seit ihren Anfangstagen in Deutschland ausgesetzt sieht. Er schlägt einen einen weiten Bogen der mit dem Döner assoziierten Gewalt – und landet damit schlussendlich wieder in unserer Gegenwart.

Das Kontinuum der Gewalt

Unvollständig nur die seitenlange Liste, die Übergriffe und Anschläge gegen nicht-deutsche Restaurantbetriebe dokumentiert, bei der Seidel für die Aufzählung alleine der Jahre von 2000 bis 2004 ganze elf Seiten benötigt.

Trauriger Höhepunkt – und sicherlich nicht Schlusspunkt in dieser Darstellung der kontinuierlichen Gewalt gegen Migranten ist dabei die Mordserie an türkischstämmigen Kleinunternehmern, die von den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit schnell und respektlos als „Döner-Morde“ tituliert wurden und bei der jahrelang der Mörder innerhalb der türkischen Community gesucht wurde, ehe sich der wahre Charakter der rechtsextremen Mordserie offenbarte.

Auch der Gammelfleisch-Skandal, der einige Jahre vor dem Terror des NSU die Republik in Atem hielt, waren dabei ganz ähnliche Mechaniken in der öffentlichen Debatte zu beobachten, wie Seidel in Döner zeigt.

Denn jener Skandal, der eigentlich einer der deutschen Fleischproduzenten war, wurde durch die einschlägigen Bekannten wie etwa die Bild-Zeitung schnell zum „Döner-Skandal“ umetikettiert und damit der türkischen Community beziehungsweise einer ominösen „Döner-Mafia“ in die Schuhe geschoben, obwohl er dieser Skandal doch eigentlich auf den kriminellen Machenschaften skrupelloser deutscher Geschäftsmänner beruhte, bei denen die Türk*innen auch Opfer der kriminellen Machenschaften waren.

Aber lieber schob man den Skandal den vermeintlich immer noch Fremden zu, statt sich mit den wahren Ursachen des Skandals zu befassen, wie dies schon unzählige Male der Fall war – und immer wieder sein wird. Denn die deutsche Bevölkerung tut sich noch immer schwer mit der Akzeptanz jener, die zwar für preiswerte Nahrung sorgen, denen man aber trotzdem noch immer bisweilen mit Klischees, Verachtung und Rassismus gegenübertritt.

Fazit

Dieses schizophrene Verhältnis arbeitet Eberhard Seidel in Döner eindrucksvoll heraus und schafft damit eben weitaus mehr, als nur eine Geschichte des Döners zu erzählen, wie er es bereits im Vorgängerbuch Aufgespießt – Wie der Döner über die Deutschen kam, tat. Vielmehr vereint das Buch Kulinarik-Historie und Gesellschaftsanalyse, Migrationsgeschichte und Genuss.

Es ist dabei gerade auch die gesellschaftliche Komponente, die das Buch so lesenswert und eindringlich macht. Sie ist es, die mich auch für Vegetarier*innen und Veganer*innen eine unbedingte Leseempfehlung für Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte aussprechen lässt.

Und um hier abschließend die Eingangsfrage aufzulösen, sei auf die dudengerechte Lösung der Benennungsfrage in Sachen Drehspieß hingewiesen. Diese lautet korrekt geschrieben Döner Kebap, wie Eberhard Seidel im ersten Kapitel des Buchs erklärt. Damit wäre das nun auch geklärt.


  • Eberhard Seidel – Döner: eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
  • Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
  • Bestellnummer: 174030 Preis: 22,00 €

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Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

„Die Kleinfamilie“, zitiere ich, „ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau. Er ist der Bourgeois, sie das Proletariat.“

„Wer sagt das? Marx?“, will meine Mutter wissen.

„Nein, Engels.“

Sie nickt

„Vielleicht hat er nicht ganz unrecht, dein Engels.“

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter. S. 204

Nicht erst seit der Zuerkennung des diesjährigen Literaturnobelpreises an die Französin Annie Ernaux ist die Erkundung der eigenen weiblichen Identität in Verschränkung mit der Klassenfrage in den literarischen Fokus gerückt. Annie Ernaux in Frankreich, Elena Medel in Spanien, Autorinnen wie Daniela Dröscher oder Marlen Hobrack hierzulande gehen mal mehr und mal weniger fiktionalisiert ihrer eigenen Familiengeschichte und Herkunft auf den Grund, um Klassismus und die Prägung der eigenen Identität durch die Herkunft zu ergründen und offenzulegen.

Gab es zwar schon vereinzelt schreibende Selbsterkunderinnen wie Ulla Hahn, doch bislang war das Feld in Deutschland bislang eher in der Hand schreibender Männer wie Andreas Maier, Christian Baron oder Alem Grabovac. Nun sind es verstärkt weibliche Schreibende, die dieses Genre auch durch die Mittel der Autofiktoentscheidend prägen und bestimmen.


So ist es bei Daniela Dröscher die Ich-Erzählerin Ela, die sich an ihre eigene Kindheit erinnert. Einsetzend im Jahr 1983 wird die Erzählerinnen chronologisch vier Jahre ihrer Kindheit präsentieren. Jahre, in denen das Unglück der eigenen Mutter wie Blei auf den Schultern der Erzählerin lag, was die Geschichte der Mutter auch zu ihrer höchsteigenen Geschichte macht, wie sie im Prolog des Buches erklärt.

Dabei sind den vier Jahren vier Attribute zugeschrieben, die ironischerweise der Beziehung der eigenen Eltern und der zu ihrem Kind spotten. So beginnt das Jahr 1983 als Jahr der Kommunikation, es folgen das Jahr der Frauen in Südafrika, das Jahr der Vereinten Nationen, ehe 1986 zum Jahr des Friedens getauft wird. Doch weder Frieden, noch Kommunikation, Einheit oder gar Respekt vor dem Weiblichen sind der Beziehung der eigenen Eltern eingeschrieben, wie Daniela Dröscher eindrucksvoll zeigt.

Eine Familie im Grabenkampf

Denn obschon Elas Eltern ein heteronormatives BRD-Eigenheim-Leben in der fiktiven Kleinstadt Obach im Hunsrück führen, hat die Beziehung der Eltern Risse oder gleicht besser gesagt eher einem Grabenkampf.

In den Tagen zuvor war es eisig bei uns zu Hause zugegangen. Martha-Oma schwieg beleidigt, mein Vater ebenso. Auch meine Mutter hatte neuerdings das Schweigen für sich entdeckt. Nun hatte ich also zwei Elternteile, die schwiegen. Es war wie im Kalten Krieg, nur dass ich keine Ahnung hatte, wer von beiden jetzt der OSTBLOCK war.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 98
Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter (Cover)

Dabei sind die Konflikte und beharkten Themenfelder äußerst vielfältig. Das präsenteste ist sicherlich das vom Vater ständig bemängelte Übergewicht seiner Frau, das ihm ein Dorn im Auge ist. Er fordert ihr Diäten ab und sorgt mit seiner beständigen Kritik und Disziplinierungsversuchen durch Wiegen für eine Scham auch bei Ela. Doch auch ansonsten sind die Konfliktfelder vielfältig. Die Abwertung der Mutter durch die Schwiegereltern, die ungleich verteilte Sorgearbeit (neben Ela werden in den folgenden Jahren noch eine weitere Tochter, ein Pflegekind und die demente Großmutter in ihren Aufgabenbereich fallen) reicht bis hin zu den Finanzen, die völlig ungleich verteilt sind. So hat der Vater „Spielgeld“ zur eigenen Verfügung, den eigentlichen Unterhalt der Familie muss die Mutter aus ihrem Vermögen bestreiten.

Der Versuch von beruflicher Qualifizierung und ökonomischer Selbstständigkeit wird von ihrem Mann argwöhnisch beäugt und abgewertet. Als dann eine Erbschaft den Bau eines neuen Eigenheims ermöglicht, ist es vor allem der Vater, der dann mit extravaganzen Ausgaben für luxuriöse Autos auffällt.

Das Kind im Spannungsfeld

Die Beziehung der Eltern ist von Taktieren, Heimlichkeiten, Lügen und der Aufführung einer fadenscheinigen Komödie (oder eher Tragödie) vor den Augen des eigenen Kindes bestimmt, das in die Konflikte hineingezogen wird und oftmals gar nicht weiß, wie es sich verhalten soll, wenn die Konfliktregeln der Erwachsenen so undurchschaubar sind, wie es in der eigenen Familie der Fall ist.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte sie. „Aber du musst mir versprechen: kein Wort zu Papa.“

Mir war flau im Magen. Ich fühl[t]e mich beklommen, gleichzeitig aber machte es mich stolz, dass sie mir so geheime Sachen erzählte.

„Klar“, sagte ich. „Mach ich.“

Das war meine Rolle. Inzwischen war ich geübt darin, Geheimnisse zu hüten. Und allmählich verstand ich, dass Geheimnisse eine gewisse Verwandschaft zu Lügen besaßen.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 254

Eine noch größere Fallhöhe bekommt das Beschriebene durch die Kommentierung der erwachsenen Erzählerin, die sich vor den einzelnen Kapiteln zu Wort meldet und mit einem emanzipierten und gebildeten Blick das damalige Schauspiel analysiert und sich auch in ihre Mutter einzufühlen und zu verstehen versucht. Hier wird aus dem chronologisch voranschreitenden Familienbild dann ein Sachbuch, das die Frage von Klasse, Herkunft, der Prägung des sozialen Milieus verhandelt und untersucht.

Und nicht zuletzt auch die Sprache stimmt in diesem Buch. Gelungen schafft es Daniela Dröscher, sich die Perspektive eines Kindes anzueignen und aus den Augen der kindlichen Ich-Erzählerin auf diesen elterlichen Kampf nach undurchsichtigen Regeln zu blicken. Immer wieder sind Floskeln und Redewendungen der Erwachsenen kursiv gesetzt (was etwas an die erzählerischen Mittel von Heinz Strunks letztem Roman erinnert) und zeigen Sprache beziehungsweise den Dialekt, der in vielen Dialogen zum Einsatz kommt, als Marker von Bildung, Alter und sozialem Rang. Auch dieser Aspekt des Buches ist gut gelungen und hochinteressant.

Fazit

Vor dem Hintergrund der 80er Jahre, der diffusen Angst vor dem Atomunglück in Tschernobyl, dem sowjetischen Feind oder der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, dem Tennisfieber rund um Steffi Graf und Boris Becker und dem sozialen Druck der Kleinstadt seziert Daniela Dröscher das Kleinbürgertum, die Unterdrückung der Frau in der Ehe und den Blick eines Kindes auf die seltsame Welt der Eltern, das sie zugleich mit dem späteren analytischen und gebildeten Blick der erwachsenen Erzählerin vergleicht und kontrastiert.

Toll erzählt und genussvoll spielend mit den Möglichkeiten der (Auto-)Fiktion dringt sie mit ihrem Roman ganz tief in das Geflecht von Familie ein, zeigt Widersprüche und patriachale Strukturen auf und unternimmt den Versuch, ihre Mutter zu verstehen – und setzt der fiktiven Mutter damit auch ein höchst plastisch und anschaulich geratenes Denkmal, das es völlig verdient in die Endrund des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft hat.


  • Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
  • ISBN 978-3-462-00199-0 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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