Jennifer Clement – Auf der Zunge

Eine Frau durchstreift New York, begegnet ganz unterschiedlichen Männern und lässt ihre Gedanken schweifen. So knapp könnte man Auf der Zunge, das neue Werk der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement, zusammenfassen. Assoziative Prosa aus dem Big Apple.


Tatsächlich zählt Jennifer Clement zu den Autorinnen, denen es gelingt, sich mit jedem Buch neu zu erfinden. So trat sie erstmals auf dem deutschen Buchmarkt mit Gebete für die Vermissten in Erscheinung, dass sich mit dem Schicksal von jungen Mädchen in Mexiko auseinandersetzt. Immer wieder verschwinden dort insbesondere junge Frauen von der Bildfläche und tauchen später allenfalls als Leichen noch irgendwo auf. Ein schreckliches Schicksal, das im mexikanischen Drogenkrieg inzwischen schon zum traurigen Alltag geworden ist und das an vielen Stellen nur noch Schulterzucken auslöst.

Ebenso engagiert und unbequem zeigte sich Jennifer Clement auch in ihrem zweiten Buch, das deutsche Leser*innen entdecken konnten. In Gun Love erzählt die Autorin von einem Mutter-Tochter-Gespann in Florida, das zusammen in einem Ford Mercury lebt. Waffennarren, Prediger, sozial Randständige – hier zeichnet Clement ein ungeschöntes Bild eines Amerika, das wenig mit Hochglanzillusionen gemein hat.

Flanieren durch New York

Geographisch hat sich Jennifer Clement nun mit Auf der Zunge einmal mehr weiter nördlich begeben. Nach dem amerikanisch-mexikanischen Grenzland und Florida ist nun New York der Schauplatz, den die namenlose Protagonistin durchmisst. Die Frau wandert quer durch den Big Apple, von der 2nd Avenue bis zum Tompkins Square Park, vom Buchladen The Strand am Broadway bis zum Fitnesscenter Y auf der 14th Street, von Brooklyn bis Manhattan. Stetes Leitmotiv auf ihren ganzen Erkundungen sind dabei die Feuertreppen, die die namenlose Frau immer und immer wieder begegnen.

Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffsmanns.

Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.

An ihrem Körper klebt der Geruch vom Zug des Zugmanns und vom Feuer des Feuerwehrmanns.

Die Frau läuft und sieht hoch in einen Wald aus Feuertreppen. Die Metallleitern sind draußen an den Häusern montiert und führen vom Bürgersteig hoch, am Haus hoch, bis hoch zum Dach. Die schwarzroten Gerüste, die Stufen und waagrechten Podeste aus Stahlgittern, werfen Schatten an Mauern.

An einem der Absätze hängen drei Paar Jeans und ein Paar rote Socken über dem rostigen Geländer. Auf einem anderen stehen Blumentöpfe. Grün gefleckte schwarze Stöcke, die in ein paar Monaten Blätter und Blüten tragen, strecken in der Erde.

Das Geflecht aus stählernen Treppen umringt und überragt sie, und auch die Tauben, Amseln und Schwalben nisten und hocken im Schatten des Metalls.

Die Frau will die Leitern hoch in den Himmel klettern.

Unter den geriffelten Schatten der Feuertreppen führt ihr Weg sie auf und ab durch die Straßen der Insel.

Während sie das Kreuzundquer der bebuchstabten Avenues und nummerierten Straßen kreuzt, spricht sie mit Fremden. Unbekannte Hände berühren ihre Hände, berühren ihre Wange, berühren ihr Haar, und unbekannte Münder hauchen auf ihr Haar, ihre Wange, ihre Hände.

Jennifer Clement – Auf der Zunge, S. 9f.

Treue, jüdische Identität und Feuerleitern

So hebt der Roman mit dem Kapitel Die Frau an, der im Folgenden nur noch Kapitel wie Der Maler oder Der Polizist folgen, alles Männer, denen die Frau begegnen wird. Und obwohl der Roman mit seiner Hauptfigur eingeführt wird, bleibt diese mehr als blass, wird in ihren Konturen höchstens angedeutet. Einen Namen hat sie nicht, man erfährt, dass sie als Bibliothekarin arbeitet und mit einem Mann verheiratet ist. Recht viel mehr erklärt Jennifer Clement nicht, vielmehr gibt sie ihr indirekt über die Begegnung mit den Männern etwas mehr Kontur.

So kehren die Fragen der Treue, der eigenen (jüdischen) Identität und die Frage von Grenzziehungen immer wieder. Die Frau neigt zu erratischem Verhalten und auch die Begegnungen mit Ärzten, Kerzendreher oder Wissenschaftler sind mal verwirrend, mal erotisch aufgeladen, mal existenziell – und immer wieder blitzen en passant die metallenen Feuerleitern auf.

Durch die maximale Anonymisierung ihrer Protagonisten, die in hunderte Kürzestabsätze zerrupfte Prosa und die Enthebung in den freien interpretatorischen Raum gelingt Jennifer Clement ein Buch, das sich auf viele Arten deuten lässt. Auf der Zunge ist genauso ein poetisch verknappter Flaneusen-Roman wie ein hingetupftes New York-Porträt oder ein Reigen an Begegnungen von Mann und Frau (übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner).

Fazit

Die Stärke des Buchs liegt in meinen Augen nicht in der nur angedeuteten Rahmenhandlung, sondern in den vielgestaltigen Lesarten, die das Buch erlaubt. Jennifer Clements Buch ist keine wirklich leichte Lektüre, obschon der knappe Umfang von gerade einmal 144 Seiten zu diesem Gedanken verführen könnte. Auf der Zunge ist eher das literarische Äquivalent von Minimal Music, vielleicht auch ein Langgedicht – durchaus fordernd und anstrengend, da die Autorin nur zeigt und nichts erklärt. Final kann ich das Buch tatsächlich weder in ein Genre noch wirklich in eine klare Gütekategorie einordnen – all dem entzieht sich Clements Buch zu geschickt.

Aber auch das ist auch das Glück dieses Blogs hier – ich muss es auch nicht und darf mich mit der Benennung meiner assoziativen Gedanken begnügen, die das Buch in mir geweckt hat. Gespannt wäre ich auf alle Fälle auf andere Lektüreeindrücke oder Interpretationen – wie ordnet ihr das Buch ein, falls ihr es gelesen habt?


  • Jennifer Clement – Auf der Zunge
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-518-42994-5 (Suhrkamp)
  • 143 Seiten. Preis: 20,00 €
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Hervé Le Tellier – Die Anomalie

Wie viele Ergebnisse gibt es für den Wurf einer Münze? Zwei, möchte man sagen: Kopf oder Zahl. Ganz Gewiefte mögen jetzt noch einwenden, dass tatsächlich eine dritte Möglichkeit existiert, nämlich die, dass die Münze auf ihrem Rand stehen bleibt. Aber gibt es tatsächlich eine vierte Möglichkeit? Ja, die gibt es, wie Hervé Le Tellier in seinem Roman Die Anomalie beweist. Er verdoppelt ein Flugzeug samt Insassen und betrachtet das Chaos, das dieses Ereignis auslöst.


Alle ruhigen Flüge sind einander ähnlich. Jeder turbulente Flug ist es auf seine Weise. Es ist 16h 13, als sich vor dem Flug AF006 Paris-New York südlich von Neuschottland die wattige Barriere eines immensen Cumulonimbus aufbaut. Die Wolkenfront steigt, und das wirklich sehr rasch. Sie ist noch fünfzehn Flugminuten entfernt, aber sie breitet sich im Norden und im Süden wie ein Kreisbogen über mehrere hundert Kilometer aus und erreicht bereits eine Höhe von 45 000 Fuß. Die Boeing 787, die schon zum Landeanflug auf New York ansetzte, fliegt auf 39 000 Fuß und wird ihr nicht mehr ausweichen können, im Cockpit wird es auf einen Schlag hektisch.

Hervé Le Tellier – Die Anomalie, S. 50

Als wäre Dostojewski an Bord gewesen, schüttelt uns Hervé Le Tellier in dieser Passage seines Romans kräftig durch. Eigentlich ist der Linienflug an jenem 10. März 2021 von Paris nach New York ja wirklich einer wie jeder andere. Doch dann gerät das Flugzeug in das eben beschriebene Unwetter und wird mehr als nur gehörig durchgerüttelt. Die Piloten verhindern Schlimmeres und die Maschine entgeht dem Unglück. Doch die wirkliche Überraschung folgt dann erst 110 Tage später.

Die doppelte Boeing 787

Hervé Le Tellier - Die Anomalie (Cover)

Denn auf dem Weg von Paris nach New York erbittet eine Boeing 787 die Landeerlaubnis für den Flughafen in New York, der ihr nicht erteilt wird. Stattdessen steigen Abfangjäger auf, die das Flugzeug in Richtung Boston dirigieren. Vor Ort erwartet die Flugzeugbesatzung ein großes Aufgebot aus Sicherheitsbeamten und Spezialisten. Der Grund: es handelt sich genau um jenen Flug, der am 10. März schon einmal in New York gelandet war. Das Flugzeug: dasselbe und nicht das gleiche. Die Personen an Bord: dieselben und nicht die gleichen vom 10.03.2021. Offensichtlich hat sich das Flugzeug mitsamt seiner Besatzung einfach verdoppelt. Und da ist sie plötzlich, Die Anomalie.

Das, was nicht vorgesehen ist und allen Naturgesetzen widerspricht, es ereignet sich eben doch, genauso wie der Fall der Münze, die eben nicht auf eine Seite fällt oder auf ihrem Rand landet, sondern plötzlich wider alle Regeln in der Luft stehen bleibt. Wie man damit umgeht, das beleuchtet Hervé Le Tellier in ganz verschiedenen Facetten.

Von Killern und Musikern

Dafür wählt Le Tellier einen multipersonalen Erzählansatz. Er beginnt seinen Roman mit der Einführung von ganz verschiedenen Personen, die sich später an Bord der Boeing 787 begeben werden. Da ist ein Killer mit Doppelleben, eine ambitionierte Anwältin, ein afrikanischer Musiker. Sie alle stellt uns Hervé Le Tellier vor, ehe sie sich an Bord begeben und in New York landen.

Mit dem Auftauchen des zweiten Flugzeugs ändert sich dann alles. Le Tellier erzählt von Experten, die mit dem Unvorstellbaren konfrontiert sind. Er fügt immer gleiche Verhörprotokolle an und beobachtet die hilflose Antwort der Sicherheitsbehörden auf das Auftreten der Anomalie. Im letzten Teil des Romans erzählt er dann von den Auswirkungen, vor denen die Flugzeugpassagier*innen stehen, die sich plötzlich ihren Wiedergängern gegenübersehen.

Dabei bedient sich der französische Autor verschiedener Stilelemente, um seine Erzählung rund um das verdoppelte Flugzeug zu erzählen. So schildert er das Leben des Auftragskillers im Stile eines Thrillers, wählt mal einen nüchternen Erzählton, greift dann wieder zum Mittel der Satire, etwa wenn er den amerikanischen Präsidenten auftreten lässt, der sich alle Sachverhalte und Menschen mit TV-Serienvergleichen erschließt und zu komplexen Denkfiguren nicht in der Lage ist.

Strukturverlust in der zweiten Hälfte

Und während das Buch im ersten Teil mit seinen nebeneinandergestellten Biographien und dem klaren Hinarbeiten auf die Verdopplung des Flugzeugs im Unwetter viel Struktur hat, verliert Le Tellier im zweiten Teil bzw. letzten Abschnitt des Buchs dann etwas den Fokus, so zumindest mein Eindruck. Er zeigt das hilflose Agieren der Behörden, bei denen die eingeübten Routinen und Programme versagen, erzählt von religiösen Eiferern und dem Killer, der sich selbst in Form seines Doppelgängers liquidiert.

Das ist in seinen Ansätzen spannend, zeigt aber auch, dass wir als Gesellschaft den Umgang mit einer Anomalie, dem Abweichen vom Gewohnten, nicht wirklich geregelt bekommen. Manche flüchten sich angesichts des Undenkbaren in Religion, andere greifen zur Waffe (manche auch beides), andere wollen ihr Leben einfach wie bisher weiterleben. Irgendwie finden Le Telliers Protagonisten allesamt einen Umgang mit dem Unmöglichen, auch wenn das Motiv der Verdopplung ja alles andere als neu ist (man denke dabei nur an den letzten Blockbuster des Regisseurs Christopher Nolan, der in Tenet mit einer ganz ähnlichen Idee spielte).

Fazit

So zeigt Hervé Le Tellier in Die Anomalie das Einbrechen des Unmöglichen in unseren Alltag – und die verschiedenen Möglichkeiten, mit dieser Konfrontation umzugehen. Genauso unterschiedlich wie seine Protagonisten sind auch die Erzählansätze des Buchs, die ganz verschiedene Genres bedienen. Und auch wenn mich persönlich die Idee des Romans eher als die Ausführung selbst überzeugt hat, so ist Le Telliers Buch doch ein wirklich außergewöhnlicher Unterhaltungsroman mit philosophischer Tiefe, den man nicht so schnell vergisst.

Einen interessanten Hintergrundartikel zum Oulipo-Kern der Geschichte (Hervé Le Tellier ist der Präsident dieser formalistischen Schreibgruppe) liefert zudem der Blog Intellectures.


  • Hervé Le Tellier – Die Anomalie
  • Aus dem Französischen von Romy und Jürgen Ritte
  • ISBN: 978-3-498-00258-9 (Rowohlt)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €

(Hinweis: meine Ausgabe hier abgebildete Ausgabe mit der (wie ich finde) gelungeneren Gestaltung stammt aus dem Programm der Büchergilde und ist für Mitglieder dort käuflich zu erwerben)

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Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen

Wenn die eigene Familie zur Ausgangslage eines Romans wird: Giulia Caminito erzählt in ihrem Debüt Ein Tag wird kommen vom anarchistischen Erbe ihrer Familie – und legt einen überzeugenden und in seiner Erzählweise herausfordernden Text vor. Wieder einmal eine erzählerische Entdeckung aus Italien, wie man sie vom Wagenbach-Verlag kennt.


Es sind zwei Brüder, die im Mittelpunkt von Ein Tag wird kommen stehen. Lupo und Nicola, so heißen die beiden Jungen, die als Söhne eines jähzornigen Bäckers im kleinen Dorf Serra de‘ Conti in der Nähe von Ancona an der Wende zum 20. Jahrhundert aufwachsen. Während ihre Brüder und Schwester noch im Kindbett sterben, ins Kloster geschickt oder erschossen werden, sind die beiden auf ganz unterschiedliche Art und Weise widerständig und überleben ihre Geschwister.

Zwei Brüder in den Marken

Giulia Caminito - Ein Tag wird kommen (Cover)

Lupo ist ein Wildfang, der keiner körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg geht und einen jungen Wolf mit dem funktionalen Namen Cane von Hand aufzieht. Nicola ist ein stiller und zerbrechlicher Geist, den das Intellektuelle anzieht. Der Dorfgeistliche will ihn unter seine Fittiche nehmen – doch es ist eine andere Denkschule, sich in den Marken und anderswo im Lande ausbreitet – und die auch auf die Familie Ceresa prägend einwirkt.

Denn während die Landbevölkerung in den Marken am Hungertuch nagt, unter dem Prinzip der Halbpacht ächzt und so etwas wie ein sozialer Aufstieg nicht vorgesehen ist, geht es den padrones und der reichen Oberschicht sehr gut. Bislang, denn unter dem Eindruck des aufziehenden Anarchismus wird auch die Landbevölkerung rebellisch. Lupo findet Aufnahme in der Gruppe von Gleichgesinnten, die sich im angrenzenden Ancona 1914 an der Settimana Rossa, einen Streik gegen die herrschenden Verhältnisse und geplanten Reformen der Regierung, beteiligten.

Anarchismus und Krieg

Doch nicht nur in den Marken und anderswo dreht sich der Wind und neue Verhältnisse scheinen möglich. Auch die übrige Welt steht nicht still – und bricht in Form des Ersten Weltkriegs in das Leben der Familie Ceresa in Serra de‘ Conti ein. Während Lupo als Agitator und Kämpfer bald in den Untergrund geht, bleibt Nicola vor seiner Berufung nicht verschont und muss an die Front, wo er die Kriegsgräuel des 1. Weltkriegs am eigenen Leib erfährt.

Diese Geschichte verschmilzt Giulia Caminito mit der Lebensgeschichte von Suor Clara, einer Nonne, die im nahen Kloster wirkt und die einst als Kind in Afrika geraubt wurde. Wie diese Geschichte mit der von Lupo und Nicola zusammenhängt, schält sich erst Stück für Stück heraus. Immer wieder verlässt Caminito den Pfad der Chronologie, springt in der Geschichte zurück, rückt einzelne Familienmitglieder der Ceresas in den Mittelpunkt. So gibt die Autorin den Leser*innen immer wieder neue Puzzleteile an die Hand, die schlussendlich ein Ganzes ergeben und sich stimmig fügen. Alles, was zuvor möglicherweise lose oder unverbunden erschienen mag, ergibt am Ende Sinn, wenn das Geheimnis der Herkunft der Brüder in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Besonderheit preisgegeben wird.

Fazit

Caminito schreibt mit viel Sprachgefühl (Übersetzung aus dem Italienischen durch Barbara Kleiner) und formal ambitioniert. Wie sie die einzelnen Teile zu einem Ganzen rundet, ihre Figuren psychologisch fundiert entwirft und das Dorfleben in den Marken sowie im Kloster einzufangen weiß, das ist wirklich bemerkenswert, insbesondere, da Ein Tag wird kommen das Debüt von Giulia Caminito ist.

Im Nachwort gibt Caminito Auskunft über ihr Schreiben und die Berührungspunkte mit ihrer eigenen Familiengeschichte, die hier als Inspirationsquelle für ihren Roman diente. Ein beeindruckendes Buch über Familie, Widerstand, die Gräuel des Ersten Weltkriegs und die Frage, was uns prägt und welche Macht die Familienbande hat. Wieder einmal eine jener Entdeckungen aus Italien, die den Wagenbach-Verlag auszeichnen.


  • Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen
  • Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
  • ISBN 978-3-8031-3325-0 (Wagenbach)
  • 272 Seiten. Preis: 23,00 €
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S. A. Cosby – Blacktop Wasteland

Dieser Thriller nimmt sein verhandeltes Thema ernst. Schon ab den ersten Seiten presst einen S. A. Cosby mit seinem Roman um einen eigentlich ausgestiegenen Fluchtwagenfahrer in den Sitz. Rasante Unterhaltung mit einem leider etwas überzogenen Gewaltanteil. Blacktop Wasteland.


Alles beginnt mit einem geheimen Rennen im Dinwiddie County, mitten im Nirgendwo von Virginia. Beauregard, genannt Bug, ist auf Vermittlung seines Cousins Kelvin angetreten, um mit seinem hochmotorisierten Duster ein Rennen zu fahren. Als Preisgeld locken einige hundert Dollar. Geld, das Bug gut gebrauchen kann, befindet er sich doch knöcheltief im Dispo. Seine Autowerkstatt wirft aufgrund von billiger Konkurrenz vor Ort kaum mehr etwas ab. Seine Kinder brauchen Geld für die Schule, die Kreditkarten sind ausgereizt. Und so versucht er dieser prekären Situation mithilfe eins Autorennens zu entkommen. Doch das Rennen geht schief und Beauregard steht ähnlich klamm wie zuvor da.

Da wird Bug rückfällig und dient sich lokalen Gangstern noch einmal als Fluchtwagenfahrer an. Zusammen mit zwei wenig intellektuellen Amateurgangstern will er einen Juwelier überfallen, um sich so seine Schulden vom Hals zu schaffen und seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch wie es zumeist bei solchen Geschichten der Fall ist: auch hier geht einiges schief und Bug macht sich mit dem Überfall gehörig Feinde.

Ein klassischer Krimi mit klassischen Motiven

S. A. Cosby - Blacktop Wasteland (Cover)

Behauptet der Grandseigneur Walter Mosley in seinem Lob des Buchs auch, S. A. Cosby erfände hier den amerikanischen Kriminalroman neu, würde ich konstatieren, dass hier genau das Gegenteil der Fall ist. Blacktop Wasteland ist ein klassischer, in manchen Momenten fast wie aus der Zeit gefallener Thriller. Das Motiv ist altbekannt: ein Fluchtwagenfahrer, der eigentlich ausgestiegen ist, nun aber noch einmal einen letzten Coup drehen möchte, um alle Altlasten hinter sich lassen (James Sallis lässt grüßen).

Auch der Überfall selbst wirkt schon fast antiquiert: in Zeiten von Hacking, dem Verschwinden des Bargelds und digitalen Geldströmen wirkt so ein Überfall auf einen Juwelier direkt nostalgisch. Dass die tölpelhaften Gangster den Coup dann natürlich verstolpern, in ihrer Großmäuligkeit zu Fehlern neigen und dann von weitaus gefährlicheren Gangstern ins Visier genommen werden, das kennt man doch eigentlich schon zur Genüge. Von einer Neuerfindung des Krimis würde ich deshalb hier keinesfalls sprechen.

Ein Thriller mit Beschleunigungsfaktor und mit Gewalt

Doch auch wenn S. A. Cosby hier nichts neu erfindet, so spielt der doch gekonnt mit den Themen und Motiven. Man nimmt ihn seinen Helden, den herzensguten Fahrer, der eigentlich nur seine Familie zusammenhalten will, durchaus ab. Auch ist das Buch in seinen Fluchtwagenszenen, den Rennen und der permanent lauernden Gefahr gelungen und presst übertragen gesprochen in den Sitz. Bei der Laufzeit des Romans ist keine Seite zuviel, das Tempo durchgehend hoch und wird zum Ende hin sogar noch beschleunigt.

Das alles wäre ein Ereignis, ein Meisterwerk, wenn da nur diese überzogene Gewalt nicht wäre. Das beginnt schon in der Eingangsszene und setzt sich im Lauf des Buchs inkremental fort.

Warren setzte gerade an, sich umzudrehen, als Beauregard den Schraubenschlüssel auf seinen Trapezmuskel krachen ließ. Beauregard hörte ein feuchtes Knacken, wie früher, wenn sein Großvater am Esstisch Hähnchenflügel gebrochen hatte. Warren ging zu Boden, und sein Urin spritzte über die Karosserie des Oldsmobile.

Er rollte sich auf die Seite, und Beauregard verpasste ihm einen weiteren Schlag auf die Rippen. Warren wälzte sich auf den Rücken. Blut tropfte aus seinem Mund un über sein Kinn. Beauregard kniete sich neben ihn, nahm den Schraubenschlüssel und legte ihn wie einen Knebel quer über Warrens Mund. Er packte beide Enden und legte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf. Warrens Zunge krümmte sich wie ein dicker rosa Wurm um den Schaft des Werkzeugs. Blut und Speichel strömten aus seinen Mundwinkeln über seine Wangen.

S. A. Cosby – Blacktop Wasteland, S. 23

Fazit

Das war mir seiner Brutalität und der Explizität der Schilderungen dann doch etwas zu heftig, als dass ich dieses Buch vorbehaltlos weiterempfehlen könnte. Das ist schade, weil Blacktop Wasteland ansonsten eigentlich ein rundum gelungener, schneller und mitreißender Thriller aus der amerikanischen Einöde ist. Nur der Punkt der schon fast splatterhaften Gewalt, er störte mich doch erheblich, vor allem wenn gegen Ende alles in einem Gemetzel versinkt (ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen). Hier wäre weniger definitiv mehr gewesen – was S. A. Cosby dann hoffentlich im dieser Tage erscheinenden neuen Thriller Die Rache der Väter dann beherzigt. Dann könnte er wirklich in die Premiumliga der amerikanischen Spannungsautor*innen aufsteigen!


  • S. A. Cosby – Blacktop Wasteland
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-7472-0220-3 (Ars Vivendi)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sarah Crossan – Verheizte Herzen

Ein Buch, das weniger durch seinen Inhalt

denn durch seine außergewöhnliche Form besticht.

Sarah Crossan hat mit Verheizte Herzen

einen Roman in Versform geschrieben.

Über eine Frau, die nach dem Tod ihrer Affäre den Halt verliert.


Der Versroman hat in letzter Zeit eine kleine Renaissance erlebt. Bereitete etwa Christoph Ransmayr mit Der fliegende Berg eine Renaissance dieser uralten Form vor, so war dann spätestens mit Annette – Ein Heldinnenepos, Anne Webers mit dem deutschen Buchpreis gekrönten Hommage an die französische Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die Versform wieder im breiten literarischen Bewusstsein angekommen.

Mit Verheizte Herzen liegt nun ein weiterer Roman in Versen vor, der diesmal aus dem englischen Sprachraum kommt und von Maria Hummitzsch ins Deutsche übertragen wurde. Und während der englische Originaltitel Here is the beehive gerade in Verbindung mit dem bienenumschwärmten Cover eine sinnvolle Verbindung eingeht, präsentiert sich der deutsche Titel doch etwas unverbunden.

Mittendrin im Bienenstock

Sarah Crossan - Verheizte Herzen (Cover)

Das geschäftige Treiben des titelgebenden Bienenstocks lässt sich gleich in zweifacher Hinsicht auf die Heldin Ana Kelly übertragen. So gleicht deren Zuhause mit ihrem Mann Paul, einem Lehrer mit höheren Ambitionen, und ihren Kindern bisweilen wirklich einem Bienenstock. Ein stetes Miteinander, Leben, die nebeneinander hergelebt werden, Kinder, die ständig Aufmerksamkeit einfordern und doch auch Wärme, die da im Inneren dieses Verbunds herrscht.

Doch auch Anas Herz selbst gleicht einem unablässig brummenden Inneren eines solchen Bienenstocks. Denn schon auf der ersten Seite wird sie mit einer Todesnachricht in Verbindung mit einer Testamentsvollstreckung konfrontiert. Das wäre eigentlich nichts besonderes, ist Ana doch als Anwältin in solchen Fällen beschlagen. Der Name, der ihr von der Frau des Toten am Telefon genannt wird, wirft sie allerdings völlig aus der Bahn: es handelt sich um Connor Mooney. Jenen Mann, mit dem Ana seit geraumer Zeit eine Affäre verband.

Und so muss sie nun einerseits das Testament ihres heimlichen Geliebten vollstrecken und sich auf der anderen Seite nichts anmerken lassen im Umgang mit der trauernden Witwe. Eine Spagat, der Ana einiges abverlangt und sie nicht zur Ruhe kommen lässt, besonders als sie Connors Familie näher kennenlernt.

Ein überheiztes Herz

Verheizte Herzen erzählt die Geschichte einer Frau, deren Herz und Seele wirklich an Überhitzung leiden. Da ist ihre eigene Familie, das tägliche Miteinander. Und da war bis vor wenigen Momenten noch die Affäre mit ihrem Klienten, die sich doch auch zu mehr auswuchs, wenngleich sich Connor im Gegensatz zu Ana nicht ganz in diesen Seitensprung hineingab. Und so ringt Ana den ganzen Roman über mit der Frage, was sie falsch gemacht hat, wie sie sich nun verhalten soll und welche Schritte angezeigt sind. In ihrer Trauer stellt sie fest:

Die Uhren springen zurück.
Eine Stunde Extraschlaf.

Die Zeit verschiebt sich.
Tick.
Tack.

Hätte ich nur.

Ich wäre freundlicher.
Ich würde dich retten.
Eine Minute nur.
Nur eine.

Die übrigen neunundfünfzig
kann wer anders
haben.

Schenk sie Rebecca.
Überlass Rebecca neunundfünfzig Minuten mit dir.
Eine mir.
Eine.

Nur diese letzte.

Sarah Crossan – Verheizte Heren, S. 143 f.

Von solchen Überlegungen und Reflektionen ist Verheizte Herzen randvoll. Das ist bisweilen für meinen Geschmack etwas larmoyant und rührselig, hat in seinen besseren Momenten aber auch starke Wucht und Emotionalität. Vor allem im letzten Teil gelingt Sarah Crossan dann wieder der Ringschluss zum Beginn ihres Buchs, der durch den Verzicht auf naheliegenden Kitsch überzeugt.

Nötige Versform?

Nur eine einzige Frage bleibt nach der Lektüre für mich bestehen, bei deren Antwort ich mir selbst unschlüssig bin. Geht die Idee der freien Versform wirklich auf – oder ist sie für Crossans Erzählung eigentlich gar nicht zwingend notwendig?

Lässt sich eine solche freie Versform ja eh nicht ganz verlustfrei in eine andere Sprache hinüberretten, besitzt Sarah Crossans Roman doch auch im Deutschen eine besondere Form, die es zwar nicht mit klassischen Versepen aufnehmen kann, die in ihrem Tasten und Suchen, Nachdenken und Trauern aber doch eine ganz eigene Tonalität findet und das starke Bild einer trauernden Frau ergibt, deren sämtlichen Sicherheiten und Gewissheiten sich auflösen. Insofern gewinne ich der Versform dieses Buches durchaus etwas ab, die der Thematik der trauernden Affäre und Mutter eine literarisch interessante Note beifügt und so über andere, ähnlich angelegte Bücher hinausragt.

Fazit

Bislang trat Sarah Crossan eher auf dem Feld der Jugendbücher in Erscheinung. Mit Verheizte Herzen gelingt ihr nun ein überzeugender Wechsel in das Fach der Erwachsenenunterhaltung. Ein interessant gestaltetes Buch, das das Trauern in lyrische Worte setzt und dabei ähnlich wie auch Ruth Lillegraven eine eindringliche Geschichte erzählt, die durch die gewählte Form zusätzlich gewinnt.


  • Sarah Crossan – Verheizte Herzen
  • Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
  • ISBN 978-3-462-00060-3 (KiWi)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €
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