Henning Sußebach – Anna oder: Was von einem Leben bleibt

Ja was ist es, das von einem Leben bleibt? Spuren, Fotos, Vermächtnisse geben Hinterbliebenen eine Ahnung davon, wer der Mensch war, der da gegangen ist. Was aber, wenn der Tod einer Person schon fast hundert Jahre zurückliegt, niemand mehr lebt, der der Toten je begegnet ist und sich so gut wie nichts erhalten hat, das einen Eindruck von der Person geben könnte, die einst gelebt hat?

In seinem Buch Anna oder: was von einem Leben bleibt macht sich Henning Sußebach daran, das Leben seiner 1932 verstorbenen Urgroßmutter zu rekonstruieren, um sie so auch stellvertretend für andere Menschen dieser Generation wenigstens ein Stück weit dem Vergessen zu entreißen. Was er dabei zutage fördert, ist die Biografie einer resilienten Frau, deren Leben von jenem Fortschritt kündet, der die Gesellschaft erst deutlich später erreichen sollte.


Kein Tagebuch, nur ein paar Notizbücher, Fotos, Briefe, Kaffeeservice, Verlobungsring und ein paar weitere Hinterlassenschaften, mehr hat sich nicht erhalten an Spuren von Anna, der Urgroßmutter des Journalisten Henning Sußebachs. Ausgehend von diesen kümmerlichen Spuren begibt er sich auf die Mission, wenigstens in Ansätzen ihr Leben und die Lebenswelt zu rekonstruieren, in der sich diese Frau bewegt hat. Dies tut er immer auch mit dem Blick von heute, der um die Probleme und eigenen Unzulänglichkeiten der Interpretation vergangener Zeiten und vergangener Leben weiß.

Anna lebte in heute schwer fassbaren, unübersichtlichen Zeiten, womöglich zu wirr und widersprüchlich für ein klares Bild, das die Jahre überdauert. Sie war Bürgerin von vier Staaten. Königreich Preußen, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik. Sie durchlebte Währungsreformen, Börsencrashs und Inflation. Sie war Zeugin, als ein großer Krieg den Kontinent verheerte, als Monarchien stürzten und eine junge Demokratie um ihre Existenz kämpfte. Sie erlebte mit, wie die Industrialisierung einigen Wohlstand brachte und andere ins Elend rutschen ließ. Sie las von Männern, die sich in wackligen Fluggeräten an die Eroberung des Himmels machten. Sie sah die ersten Autos fahren. Sie hörte, wie plötzlich Stimmen von Radiowellen übertragen wurden.
Anna war dabei, als die Welt sich weitete, die Räume für eine Frau wie sie aber eng blieben.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 8 f.

Auf den Spuren der eigenen Urgroßmutter

Henning Sußebach - Anna oder: was von einem Leben bleibt (Cover)

Anhand einiger Fotos und den biografischen Spuren fühlt sich Sußebach in das Leben seiner Urgroßmutter ein, das nicht nur von zeitlichen Umbrüchen gekennzeichnet war, sondern in dem sie auch selbst den Zerfall von sicher Geglaubtem erfuhr.

So arbeitete sie in jungen Jahren als Lehrerin im tiefsten Sauerland und trat mit 20 Jahren diesen Dienst im Dörfchen Cobbenrode an, in dem sie als alleinstehende Frau die stete Verfügung durch die Männer des Dorfs erfahren haben muss. Aber durch Heirat und stete Arbeit brachte es die 1867 geborene Frau zur angesehenen Besitzerin des wenige Jahre zuvor errichteten Postamtes, dessen Betreiberin sie wurde. Während in den Ländern Europas langsam eine Frauenbewegung erstarkte und Rechte für sich einforderte, war davon in Cobbenrode noch wenig zu merken.

Und doch setzt sich Anna gegen viele Widerstände durch, die es privat wie auch gesellschaftlich zu dieser Zeit zu überwinden gab – und die auch heute noch nicht ganz verschwunden sind. Eine Ehe, die nur nach 90 Tagen ihr tragisches Ende fand, danach eine unkonventionelle Partnerwahl, auch der Aufstieg zur selbstständigen Unternehmerin, die als Postbevollmächtige die Poststation des Dorfs betrieb – mit all dem zeigte sich Anna als widerstandsfähig und selbstermächtigend, was ihr Leben auch über hundert Jahre nach ihrem Tod so interessant und geradezu zu einem Vorbild macht, was die unbeirrte Verfolgung des eigenen Lebensweges anbelangt.

Fortschritt und Widerstandskraft

Aufstieg und private Schicksalsschläge vermengen sich im Leben Annas, die doch nie aufgibt und sich von Widerständen nicht aufhalten lässt, wie Henning Sußebach in seinem Buch zeigt.

Auch der Zeitkontext spielt eine wichtige Rolle. So bettet der für die Wochenzeitung Die Zeit tätige Journalist das Leben und die wichtigen Schritte in Annas Leben immer wieder in das jeweilige historische Zeitgeschehen ein. Er blickt auf die parallel zum Leben Annas stattfindenden Entwicklungen weltweit, die auch einen Fortschrittsgeist atmen, bei der wie in der übrigen Geschichtsschreibung für Frauen aber nicht viel Platz ist.

1878 – weit außerhalb von Annas Radius bedeutet das:
In Berlin werden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. (…)
In New Jersey an der Ostküste der Vereinigten Staaten arbeitet der Erfinder Thomas Alva Edison an Glühbirnen für elektrisches Licht. In Paris stellt ein Bildhauer den Kopf einer Freiheitsstatue vor, die Frankreich dem Verbündeten jenseits des Atlantiks schenken will.
Ein Baron bricht auf, um als erster Seefahrer das Polarmeer nördlich des russischen Kaiserreichs zu durchfahren, die Nordostpassage.
Im Osmanischen Reich beginnt der Archäologe Carl Humann mit Ausgrabungen auf dem Burgberg der antiken Stadt Pergamon.
Männer, Männer, Männer.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 31 f.

Ergänzt um Dokumente wie die damals geltende Schulordnung in Cobbenrode oder Auszüge aus Schulbüchern entsteht ein dichter, reflektierter Text, der den Geist jener Zeit gut vermittelt. Auch bricht der Text die Männerzentrierung der Geschichtsschreibung auf und zeigt mit dem exemplarischen Blick auf das vergessene Leben von Anna, wie viel Tiefe, Kraft und Fortschrittsgeist auch an Orten und in Leben von heute vergessenen Personen zu finden ist, die die Geschichtsschreibung sonst eher übersieht und wo man es kaum erwartet. Zudem entdeckt Sußebach seine Urgroßmutter als Quelle dessen, was heute unter dem Wort der „Resilienz“ firmiert.

Fazit

Anna oder: was von einem Leben bleibt setzt dem Leben Annas ein Denkmal und zeigt, was wir durch das Vergessen und Nicht-mehr-Erinnern an Personen der Geschichte drei oder vier Generationen vor uns eigentlich verlieren. Sein liebevoller und bedachter Blick auf die eigene Urgroßmutter entreißt diese wirklich dem Vergessen und zeigt sie als widerstandskräftige, bereits damals emanzipierte und unkonventionelle Frau

Nicht zuletzt ist Sußebachs Buch auch eine Einladung zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte und zum Blick auf die Leistungen und Leben der eigenen Vorfahren. Dass sich diese Beschäftigung lohnen kann, das unterstreicht Anna oder: was von einem Leben bleibt auf eindrucksvolle Art und Weise!


  • Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt
  • ISBN 978-3-406-83626-8 (C. H. Beck)
  • 205 Seiten. Preis: 23,00 €

Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2025

Wie jedes Jahr so auch heuer meine Spekulationen, was die Nominierungen für den Deutschen Buchpreis 2025 anbelangt. Nach einer Trefferquote von 7 von 20 Titeln im vergangenen Jahr hoffe ich diesmal auf eine nicht ganz so vorhersagbare Liste, lasse mich aber gerne überraschen.

Wie immer gilt: es handelt sich bei meinem literarischen Lottoschein um eine Mischung aus Erwartetem, Erhofftem, Übersehenem und Gemochten (und in guter Tradition eines Tippspiels darunter natürlich auch Blind-Geratenes und Noch-Nicht-Gelesenes).

In einem Monat, genauer gesagt am 19. August, haben wir dann auf alle Fälle Gewissheit, denn dann erscheint die offizielle Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis 2025. Hier jetzt aber gibt es meinen ausgefüllten Tippschein mit folgenden Nominierten:

Mein Tippschein 2025

  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten (C. H. Beck)
  • Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern (Hanser)
  • Christoph Hein – Das Narrenschiff (Suhrkamp)
  • Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg)
  • Arno Frank – Ginsterburg (Klett Cotta)
  • Tim Staffel – Wasserspiel (Kanon-Verlag)
  • Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung (Hanser)
  • Annegret Liepold – Unter Grund (Blessing)
  • Daniela Dröscher – Junge Frau mit Katze (Kiepenheuer Witsch)
  • Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst (Hanser)
  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit (Klett Cotta)
  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern (C. H. Beck)
  • Svealena Kutsche – Gespensterfische (Schöffling)
  • Ralf Westhoff – Niemals nichts (Rowohlt)
  • Katerina Poladjan – Goldstrand (S. Fischer)
  • Leif Randt – Let’s talk about feelings (Kiepenheuer Witsch)
  • Nora Hadadda – Blaue Romanze (S. Fischer)
  • Verena Güntner – Medulla (Dumont)
  • Martina Clavadetscher – Die Schrecken der anderen (C. H. Beck)
  • Lena Schätte – Das Schwarz an den Händen meines Vaters (S. Fischer)

Welche Titel erwartet oder erhofft ihr euch auf der diesjährigen Liste?

Susan Barker – Old Soul

Aufgepasst bei dieser Fotografin! Denn wenn in Susan Barkers Roman ein Lichtbild von einer mysteriösen Fotografin angefertigt wird, kann es schnell passieren, dass man sich im Bann dunkler Mächte wiederfindet und plötzlich alle Organe und Äußeres im Körper spiegelverkehrt angeordnet sind. Mit Old Soul liefert die britische Autorin einen spannend komponierten Beitrag zum Genre des Horrorromans ab.


Es ist eine verblüffende Duplizität der Ereignisse, die eine zufällige Begegnung am Flughafen von Kansai in Japan zutage fördert. Denn eigentlich wollen der Grundschullehrer Jake und die Bankangestellte Mariko einen Flug nach Amsterdam erreichen, doch nichts da. Sie verpassen ihren Flug und treffen sich, verbunden durch das Erlebnis, zu einem Abendessen, um sich die Zeit bis zum Abflug am nächsten Tag zu vertreiben.

Im Lauf dieses Abendessens stoßen sie dabei auf eine erstaunliche – oder besser gesagt erschreckende Gemeinsamkeit. Denn sie beide haben geliebte Menschen verloren, beide scheinen in den Wahnsinn abgeglitten zu sein, bei beiden fanden sich nach dem Tod ihr Inneres wie Äußeres spiegelverkehrt angeordnet – und beide waren zuvor einer Fotografin begegnet.

Invertierte Körper, alte Seelen

Susan Barker - Old Soul (Cover)

Diese Offenbarung führt zu weiteren Erkenntnissen. Denn Mariko hinterlässt Jake einen Hinweis auf ihre Schwägerin Sigrid, die er in ihrer Wohnung in Marzahn aufsucht. Diese liefert ihm weitere Hinweise auf die Begleitumstände des Todes von Hiroji, ihrem Mann und Marikos Bruder.

Damit ist Jake fast in so etwas wie einen Kaninchenbau gefallen. Denn bei seiner Suche stößt Jake auf immer weitere Spuren solcher geheimnisvoller Todesfälle – und eine Fotografin, die bei diesen Todesfällen stets eine Rolle zu spielen scheint. Selbst über Jahrzehnte und Kontinente hinweg ist es immer wieder das gleiche Muster, das bei seinen Recherchen zutage tritt. Eine mysteriöse Fotografin, ein Abgleiten in den Wahnsinn, wahlweise Verschwinden oder ein Tod mit invertiertem Innerem und Äußeren.

Diese Spurensuche Jakes, die sich in sogenannten Zeugnissen ausdrückt, in denen Menschen via Gespräch oder Tagebücher von ihren Erfahrungen mit dem Verlust geliebter Menschen berichten, ergänzt Susan Barker mit immer wieder eingeschobenen Passagen, die in den sogenannten Badlands spielen. Hier ist es ein junges Mädchen namens Rosa, das die Bekanntschaft mit einer Fotografin gemacht hat. Diese soll Rosa für deren spirituellen Youtube-Kanal porträtieren. Eigentlich hat die Fotografin aber ganz anderes im Sinn, wie sich schnell unter der glühenden Sonne dort in der Wüstenlandschaft zeigt.

Warum hast du keine Angst?

Ich lebe schon zu lange und habe zu viel gesehen, um mich zu fürchten.

Wie alte bist du denn? Fünfunddreißig?

Um die dreihundert. Ich bin eine alte Seele.

Das Mädchen greift lachen nach der Flasche. Wow. In dreihundert Jahren hast du bestimmt eine Menge erlebt.

Na ja… Kriege, Hungersnöte, Völkermord. Das banale, nie endende Schauspiel menschlicher Grausamkeit und Habgier.

Susan Barker – Old Soul, S. 194

Von Berlin-Marzahn bis New Mexico

Marzahn, Osaka oder die Wüste New Mexicos sind die Schauplätze, an die Susan Barker uns Leser*innen mitnimmt. Egal ob Zeit oder Ort – in allen Episoden zeigt sich das Gespür der Autorin für die jeweilige Atmosphäre und die genauen Milieuschilderungen, die von Bambuswäldern in Japan bis zum Underground in der DDR reicht. Auch Menschen und deren kreative Umgebung weiß Susan Barker hervorragend zu zeichnen, etwa eine Bildhauerin, deren Kunst die Autorin glaubhaft zu vermitteln weiß oder ein Künstler, der mit dem DDR-Staat hadert und dessen Kunst jenen Schrecken zutage fördern wird, dem auch anderen Figuren später noch begegnen werden.

Dieser Sinn für die präzise Zeichnung der jeweiligen Milieus und die dort herrschende Atmosphäre, verbunden mit stilistischer Varianz (souverän von Volker Oldenburg übersetzt) und schon fast globalem Anspruch verbindet das Schreiben Barkers mit dem ihres britischen Landsmannes Hari Kunzru. Dessen von einer ähnlichen Atmosphäre für Schauplätze und dem damit verbundenen Plot getragenes Schreiben, etwa in seinem Werk Götter ohne Menschen, das in einer ähnlich kargen Wüstenlandschaft spielt, Red Pill, das ebenfalls die DDR zum Thema hat oder sein Bestseller White Tears, in dem der Horror auch erst noch tapsig und später umso wirkungsvoller zutage tritt.

Bis hin zur großen Action und dem Showdown reicht dieses durchdacht komponierte Buch

Literarisch versiert erzählt, klug komponiert und mit einem hervorragenden Gespür für Stimmungen und das Abgründige ist Old Soul ein Beispiel, wie gelungen Horrorliteratur heutzutage aussehen kann. Der Suhrkamp-Verlag hat mit Autorin und auch der Aufmachung des Buchs wirklich einen Griff getan. Gerne mehr von diesem kosmopolitischen, literarische hochwertigen Grusel!

Eine weitere Meinung zu Old Soul gibt es auf dem Blog Lust auf Literatur und bei Literatur leuchtet.


  • Susan Barker – Old Soul
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-518-47474-7 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 24,00 €

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden

Was sind die anstrengendsten Malerreisen in den Dschungel schon gegen die Liebewirren, in denen sich der Augsburger Landschaftsmaler Johann Moritz Rugendas verfängt? Nichts, wie der chilenische Autor Carlos Franz in seinem Roman Das Quartett der Liebenden zeigt. Darin lässt er Charles Darwin und Rugendas um die Liebe einer Frau im Dschungel Chiles wetteifern. Gelungene Prosa mit hohem Potenz-Anteil.


Rugendas – Landschaftsmaler. So verkündet es die Karte, mit der sich Johann Moritz Rugendas ausweist – und die er nach seiner ersten Begegnung Carmen Gutiérrez überreicht, die er im Hafen von Valparaiso auf den ersten Seiten von Carlos Franz‘ Roman kennenlernt.

Schon bei seiner ersten Begegnung hat die selbstbewusste Frau im Hafen von Chile mächtig Eindruck auf den aus Augsburg stammenden Maler gemacht.

So nimmt es die bildschöne Frau mit dem Kapitän von Rugendas Schiff auf, das den Maler in den Hafen der chilenischen Stadt gebracht hat. Energisch setzt sie sich gegen die grobschlächtigen Männer durch, um eine Schiffsladung zu sichern, die sie sehnsüchtig erwartet. Ihr Intervenieren nutzt auch Rugendas, der sich für ihren Einsatz mit einem von schneller Hand hingeworfenen Porträt der schönen Frau bedanken möchte. Doch dieses Porträt zerreißt sie brüsk und weist Rugendas Avancen kühn zurück. Damit weckt sie aber im Maler aber erst recht den Wunsch, diese Frau näher kennenzulernen.

Eine Begegnung in Valparaíso

Carlos Franz - Das Quartett der Liebenden (Cover)

Tatsächlich kommt es nach einigen Anfangsschwierigkeiten der beiden gegensätzlichen Charaktere zu einer Annäherung, die in einer Affäre zwischen dem Maler und der temperamentvollen Chilenin gipfelt, dem sie Porträt sitzt. Doch nicht nur Carmens Gatte bedroht die Affäre – auch ein anderer Naturforscher namens Charles Darwin weckt das Interesse von Carmen Gutiérrez – was auf Gegenseitigkeit beruht.

So entspinnt sich die Dynamik der Handlung, die sich aus den Anziehungen und Abstoßungen zwischen den drei Männern und Carmen im Zentrum speist, die Carlos Franz mit Sinn für die erotische Aufladung der Konstellation schildert.

Kapitelüberschriften wie „Der beste Liebhaber der Welt“, „Die Musen entkleiden“, „Ich bin doch kein Deckhengst“ oder „Der längste Penis der Welt“ verschweigen die Potenz von Franz‘ Prosa nicht. Liebe in Form sexueller Eskapaden und gehäufter Kopulation nimmt in Das Quartett der Liebenden einen durchaus prominenten Raum ein. Aber die Tonsetzung offenbart sich nicht erst hier. Sie wird schon mit dem ersten Absatz von Franz‘ Roman klar:

Der leuchtende Junimorgen, an dem du Carmen kennenlerntest, strahlte nach einer Woche voller Gewitter über dem Pazifik. Dein Schiff wäre vor der chilenischen Küste beinahe untergegangen, mehrere Male hattest du dich schon mit dem Tod abgefunden. Doch nun lief der Schoner mit zerfetzten Segeln, ziemlich zerlumpt, in die helle Bucht von Valparaíso ein. Das tat er mit dem zärtlichen Verlangen eines Mannes, der in die geliebte Frau eindringt.

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden, S. 9

Viel amouröses und künstlerisches Potential

Den Roman allerdings nur auf sein amouröses Potenzial zu reduzieren, täte dem Quartett der Liebenden allerdings unrecht. Denn der Roman atmet die Farben und Kulissen in Chile, versetzt mit einer Rahmenhandlung, die Darwin und Rugendas als gealterte Liebhaber Carmens zwanzig Jahre später nach den eigentlich Ereignissen 1854 in Großbritannien noch einmal zusammenführt. Zudem ragt der Roman mit seiner ungewöhnlichen Erzählperspektive in Form der Zweiten Person Singular heraus. Immer wieder wird der von Carmen liebevoll „Moro“ geheißene Rugendas in Du-Form adressiert.

Und auch die Kunst spielt in Carlos Franz‘ Roman eine große Rolle. Da weisen Überschriften wie „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ auch auf den im wahrsten Wortsinn malerischen Hintergrund des Romans hin. Immer wieder gelingen Franz beeindruckend geschilderte Momente, die sich auch an die Kunst wichtiger Maler der Zeit anlehnen.

Immer wieder findet sich Rugendas in Szenen wieder, die wie in diesem Fall von Caspar David Friedrich stammen könnten. Aber auch Albrecht Dürer oder Hans Holbein sind wichtige Einflussfaktoren sowohl für das Erzählen Franz‘ als auch für den Künstler Rugendas, wie Carlos Franz in diesem „Werk der reinen Fantasie“ zeigt, so der Autor in seinem Nachwort.

Malen mit Worten

Das Malen mit Worten, Carlos Franz beherrscht die Kunst hervorragend. Dort ein Showdown auf einer Hängebrücke im Nebel, während der Fluss unter Rugendas tobt, an anderer Stelle der massive Felssturz und Vulkanausbruch auf dem Berg Aconcagua, der in einem Überlebenskampf in einer Höhle mündet, die in Darwin und Rugendas nicht nur ungeahnte Kräfte freisetzt, sondern auch zu einem archaischen Schöpferakt führt, wenn die beiden Naturerkunder schließlich sogar die Höhlenwände bemalen und damit wieder zum künstlerischen Urtext des Buchs zurückkehren.

Hier kommt dem Buch zupass, dass das Werk mit Carlos Franz nicht nur einen Autor hat, der mit Worten fast ebenso gut malen kann wie Rugendas mit seinen Pinseln. Auch der Übersetzer Lutz Kliche erweist sich als gewandter Sprachmeister, der das registerreiche Spanisch Franz‘ voller historisierender Begriffe in ein fließendes und sprachmächtiges Deutsch überträgt.

Ein riesiges Stück des Gletschers, der die linke Schulter des Aconcagua bedeckte, begann die Südwand des Bergs hinunterzurutschen und wurde jetzt unter der Nebeldecke sichtbar. Ein langsames, phantastisches Schiff ganz aus Eis, stahlblau, majestätisch, unwiderstehlich. Sein Bug, durch hunderte Vergletscherungen gehärtet, bahnte den Weg für einen riesigen Kiel, der den Hang aufschlitzte- Sprachlos schautest du hinauf, Moro, und fühltest dabei, dass das Erhabene – dem du so sehr nachgejagt warst – jetzt dir nachjagte. Das losgelöste Gletscherstück von mindestens einem halben Kilometer Länge zerschnitt mit seinem Sporn die Metalladern, die den Hang kreuzten, zerteilte die Sehnen aus Stein, die ihn zusammenhielten. Der Aconcagua brüllte und kreischte vor Schmerz, während das Eis seine Flanke aufschlitzte. Auf eurem Felsvorsprung mussten Darwin und du sich die Ohren zuhalten.

Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden, S. 280

Fazit

Erotik, Anziehung, Natur und Kunst finden in Das Quartett der Liebenden zu einem stimmigen Leseerlebnis zusammen, das von Ilja Trojanow im Rahmen der Edition Weltlese entdeckte und das im Programm der Büchergilde Gutenberg zugänglich gemacht wurde. Carlos Franz‘ Buch erzählt vom heute fast unbekannten Künstler Rugendas und zeigt, wie spannend auch Literatur aus Landstrichen wie in diesem Falle Chile sein kann, die hierzulande eher ein unbeachtetes Dasein fristet.

Bildquelle Titelbild: Flickr/Canal C


  • Carlos Franz – Das Quartett der Liebenden
  • Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
  • Art. Nummer 171376 (Edition Weltlese, Büchergilde Gutenberg)
  • 479 Seiten. Preis: 26,00 €

Bret Anthony Johnston – We burn daylight

Waterloo in Waco. Aus zwei jugendlichen Perspektiven wirft Bret Anthony Johnston in seinem Roman We burn daylight einen Blick auf die Geschehnisse rund um die waffenstarrende Sekte unter deren Führer Perry alias „Lamb“, die sich auf einer Ranch in Texas niedergelassen hatte. Johnston erzählt vom Frühjahr 1993, als man dort eigentlich nur den Sektenführer festnehmen wollte und sich in einem blutigen Desaster wiederfand.


Wenn die Waffenbegeisterung der US-Amerikaner*innen so etwas wie einen lokalen Schwerpunkt hat, dann wohl in Texas. Als einer der Staaten mit den laxesten Waffengesetzen ist es Menschen ab 21 JAhren dort seit vier Jahren wieder erlaubt, Waffen verdeckt oder offen am Körper zu tragen. Sind die USA mit der Begeisterung der Bürger für Schusswaffen eh schon weltweit führend, was den Waffenbesitz angeht (Monat für Monat werden über eine Million Schusswaffen verkauft und in dem fast in jedem zweiten Haushalt ist eine Feuerwaffe vorhanden), so konzentriert sich diese Waffenbegeisterung in Texas noch einmal besonders.

Dass dieses Phänomen keineswegs neu ist, das zeigt die Lektüre von Bret Anthony Johnstons Roman. Denn er erzählt in vier Teile aufgeteilt von den Geschehnissen, die im Januar 1993 in Texas ihren Ausgang nahmen und im März des Jahres dann ihren blutigen Höhepunkt erleben sollten. Aber der Reihe nach.

Welcome to Waco

We burn daylight erzählt aus Sicht des jungen Roy und Evie, die mit ihrer Mutter aus Kalifornien nach Texas gezogen ist, um dort in der Gemeinschaft von Perry alias „Lamb“ zu leben, einem aus Israel zurückgekehrten Prediger. Er hat sich zusammen mit seinen zahlreichen Anhängern auf einer Ranch in Waco eingerichtet, wo er Sonntags Bibelarbeit und Training auf dem farmeigenen Schießstand anbietet. Rhetorisch ähnlich erratisch agierend wie der amtierende US-Präsident bringt er seine kruden Visionen und Predigten unters Volk, das ihm ergeben folgt.

„In alten Zeiten“, sagte er, „bedeutete der Ausdruck, jemand ist nach Texas gegangen, dass er nicht mehr ganz klar im Kopf ist, aber jetzt kommen die Leute hierher, weil sie endlich klar sehen. Unsere Verfassung gibt jedem Bürger Amerikas das Recht, sich gegen die Regierung zu stellen. Seht ihr, in Texas hat man im Gegensatz zum Rest des Landes etwas begriffen. Waffen? Klar, die besorgen wir uns. Klar benutzen wir auch Toilettenpapier. Ihr seid alle eingeladen mitzumachen. Entweder gehört ihr dazu oder ihr gehört nicht dazu. Kann schon sein, dass wir ein bisschen verrückt sind.“

Bret Anthony Johnston – We burn daylight, S. 55 f.

Roy ist der Sohn des lokalen Sheriffs und trifft durch Zufall auf Jaye – und das, wie könnte es in Texas anders sein, auf einer Waffenmesse. Antike Duellpistolen, Gasmasken, Handfeuerwaffen, dazu Pekannüsse, die als Snack gereicht werden. So sieht das Entertainment aus, das dort die Massen anzieht.

Auch Roy ist angezogen. Das allerdings von Jaye, dem Mädchen mit dem roten Haar, das mit Eigensinn Roy für sich einnimmt. Doch für Dates und Knutschen im Wasserturm bleibt nicht allzu viel Zeit, da die Behörden von der Zusammenrottung von Personen draußen auf der Farm in Waco beunruhigt sind. Sie haben Lamb im Verdacht, nicht nur Bibelarbeit und Schießtraining auf dem Gelände seiner „Kirche“ anzubieten, sondern mithilfe von Fräsen auch illegale Langwaffen und Verbotenes wie Handgranaten herzustellen.

Desaster mit Ansage

Bret Anthony Johnston - We burn daylight (Cover)

Unaufhaltsam laufen die Ereignisse auf die Erstürmung des Geländes am 17. Februar 1943 zu, die in einem absoluten Desaster enden sollten, wie Bret Anthony Johnston zeigt. Hierfür setzt er nicht nur auf die beiden Perspektiven von Roy als Außenstehenden und Jaye als Mitglied von Perrys Sekte, auch finden sich zwischen die einzelnen Kapitel immer wieder kurze Interviewschnipsel montiert, die fast den Charakter von Verhören haben. Ein Podcaster interviewt hier an den damaligen Geschehnissen Beteiligte und zeigt so noch einmal verstärkt das Waterloo, das die Behörden bei der Erstürmung der Ranch erlebten.

Denn statt einer zielgenauen Verhaftung Perrys nach Missbrauchsvorwürfen entschieden sich die Einsatzkräfte, die Ranch ohne allzu viel Vorbereitung zu stürmen, ohne zu ahnen, in welchem Desaster das Ganze enden würde. Auffällig unauffällige Zugriffskommandos versteckt hinter Planen auf Transportern (die erst recht die Aufmerksamkeit der lokalen Bevölkerung weckten), keine wirkliche Zugriffsstrategie geschweige einer genauen Kenntnis der Lage vor Ort, so liefen die Einsatzkräfte schon fast mit Ansage ins Verderben.

Empfangen von einem Kugelhagel der Waffenfanatiker wurden die Einsatzkräfte völlig überrascht und gerieten in die Defensive, obschon sie personenmäßig in der Überzahl waren. Polizisten, die er- oder angeschossen wurden und sich zurückziehen mussten, zu wenig Munition, was dazu führte, das – man erinnere sich des Schauplatzes Texas – Polizisten erst einmal Munition bei Walmart nachkaufen mussten und ein völlig surreales Ereignis, das Jaye innerhalb der Ranch und Roy ungläubig am Fernseher mitverfolgt.

Im Fernsehen waren parkende Busse mit laufenden Motoren zu sehen. Ihre Warnlichter pulsierten rot im Dunst der Abgase. Lamb sprach gerade über einen großen Drachen, Lichtblitze und Donner. Ich konnte nicht entscheiden, ob er aus der Bibel zitierte oder gerade aus dem Fenster starrte.

Bret Anthony Johnston – We burn daylight, S. 356

Eine der größten Stümpereien der Polizeigeschichte

Johnstons Roman ist eine vielschichtiger Blick auf die damaligen Ereignisse in Texas, die sich in Sachen Polizeitaktik als eine der größten Stümpereien der US-Geschichte herausstellen sollten. Denn nicht nur, das die Erstürmung scheiterte, auch folgte der versuchten Einnahme der Ranch ein wochenlanger Patt zwischen Sekte und hilfloser Polizei, der die Aufmerksamkeit des ganzes Landes auf sich zog.

Auch wenn er durch die gewählte Perspektive der zwei Jugendlichen nur bedingt die Bindungskraft des Predigers Lamb auf seine erwachsenen Anhänger nachvollziehen kann, beeindruckt sein Roman doch durch den gegenläufigen Blick von Roy und Jaye – und den moralischen Dilemmata, denen sich die beiden Heranwachsenden gegenübersehen. Wem gegenüber sieht man sich verpflichtet – Eltern, zu denen keine Verbindung besteht oder doch eher dem Gleichaltrigen gegenüber, vor allem, wenn noch Gefühle im Spiel sind?

Mit solchen Fragestellungen versehen ist We burn daylight ein Roman, der trotz der anfänglichen Statik rund um die gescheiterte Erstürmung Wacos immer mehr Fahrt aufnimmt – und der in die Gegenwart verweist. Denn in Zeiten der Aufrüstung und Isolation von Reichsbürgern hierzulande und präsidial begnadigten Kapitolstürmern in den USA zeigt Johnstons Roman auch eindrücklich, wozu es führen kann, wenn man solche Bewegungen unterschätzt und damit sehenden Auges ins Verderben taumelt.

Fazit

Das macht aus Bret Anthony Johnstons We burn daylight einen ebenso spannenden wie hochaktuellen Roman, der die damaligen Ereignisse in Texas genau nachvollzieht und der sich auch als engagierte Widerspruch gegen Waffenfanatiker und deren Slogan von mehr Sicherheit durch mehr Waffen in Privathand lesen lässt. Sein Roman ist vielschichtig, vereint Liebesgeschichte, Coming of Age und Gesellschaftskritik sowie historische Studie zu einem gelungenen literarischen Ereignis, dem man einen aussagekräftigeren deutschen Titel gewünscht hätte, der vor allem aber breite Rezeption verdient!


  • Bret Anthony Johnston – We burn daylight
  • Aus dem Englischen von Sylvia Spatz
  • ISBN 978-3-406-83692-3 (C. H. Beck)
  • 492 Seiten. Preis: 28,00 €