Franck Bouysse – Rauer Himmel

Die Cevennen sind eine Landschaft, die literarisch genauso wie im richtigen Leben recht dünn besiedelt ist. Robert Louis Stevenson beschrieb einst Eine Reise mit dem Esel durch die Cevennen, damit hat es sich aber. Das Gebiet dort im Zentralmassiv ist spärlich besiedelt, Bodenschätze oder eine florierende Industrie sind Fehlanzeige. Nach und nach blutete die Region aus und litt unter großer Abwanderung, die sie bis heute prägt.

Gus ist einer, der dageblieben ist. Er bewirtschaftet seinen Hof und lebt ein Leben als Eigenbrötler. Ein Hund, ein gelegentlicher Ratsch mit seinem Nachbarn Abel, das war es mit seinen sozialen Kontakten. Er hat sich eingerichtet in seinem Leben, das dem Lauf der Natur unterworfen ist. Doch der stete Gang der Dinge gerät schon bald ins Stocken. In der Kälte der Cevennen fällt ein Schuss, der Gus irritiert. Sein Nachbar verhält sich merkwürdig, beharrliche Missionare suchen ihn immer wieder heim und dann entdeckt gerät auch noch sein Hund Mars in einen Kampf. Fußspuren führen vom Kampfort weg und verlieren sich im Schnee, der die Cevennen in eine trügerische Stille getaucht hat. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse, die Gus bisher recht übersichtliches Leben durcheinander bringen.

Franck Bouysse‘ Denkmal der Cevennen und des Landlebens

Franck Bouysse - Rauer Himmel (Cover)

Franck Bouysse hat mit Rauer Himmel ein Buch geschrieben, das der Landschaft der Cevennen ein Denkmal setzt. Mit einer eindringlichen Sprache skizziert er Land und Leben. Die karge Landschaft, die eigenbrötlerischen Bewohner und die Macht der Natur, die Mensch und Tier beeinflusst, das sind Themen, die im Mittelpunkt dieses trügerisch ruhigen Kriminalromans stehen.

Eigentlich passiert hier kaum etwas – und doch so vieles. Bouysse gelingt die Kunst, ganz in seinen Einzelgänger-Helden hineinzuschlüpfen und die Welt durch seine Augen zu schildern. Wie durch scheinbar nur minimale Dinge das Leben von Gus innerhalb weniger Tage vom Extrem der Ruhe ins Gegenteil kippt, das lässt sich hier glaubhaft erfahren. Zudem hat Bouysse auch den Mut, das Buch mit einem wahrlichen Knall zu beenden, der Rauer Himmel konsequent und eindrücklich zu seinem Ende führt. Dieses Buch hat Ecken und Kanten und zeigt das Landleben in den Cevennen ungeschönt fernab aller Klischees.

Fazit

Einmal mehr präsentiert uns der Polar-Verlag hier eine Neuentdeckung aus Frankreich, die absolut lesenswert ist. Nicht ohne Grund wurde Rauer Himmel in Bouysses Heimatland preisgekrönt. Ein stark gemachter Country Noir, die Studie eines Eigenbrötlers, die Chronik weniger Tage, die die Gewissheiten eines Lebens ins Gegenteil verkehren. Übersetzt wurde das Buch von Christiane Kayser. Alf Mayer steuert wieder ein kenntnisreiches und informatives Nachwort bei.


  • Franck Bouysse – Rauer Himmel
  • Aus dem Französischen von Christiane Kayser
  • ISBN 978-3-948392-38-3 (Polar)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ivy Pochoda – Diese Frauen

Manchmal kommen sie ganz unerwartet daher, die Lektüren, nach denen mir folgender Gedanke durch den Kopf schießt: Darum lese ich! Solch einen unerwarteten Glücksfall und ein lange nachhallendes Leseerlebnis bescherte mir aus dem Nichts heraus Ivy Pochoda mit ihrem Roman Diese Frauen. Ein eindrückliches Leseerlebnis, das für mich Maßstäbe setzt, wie ein guter Thriller heute aussehen muss.


Eine Kultur des Wegschauens

N.H.I – das ist ein polizeiinternes Kürzel, das man in seiner ganzen Unfasslichkeit erst einmal gar nicht erfasst. Die Abkürzung steht für den Ausdruck No humans involved, auf Deutsch etwa „Keine Menschen beteiligt“. Dieser Ausdruck kam bei Drogenabhängigen oder ermordeten schwarzen Prostituierten zur Anwendung, denen man kurzerhand ihre Menschlichkeit und damit eine notwendige Strafverfolgung absprach. Die Abwertung marginalisierter Menschen und potentiellen Straftätern war verheerend. So schlüpfte etwa der Serientäter Lonnie Franklin der Polizei von Los Angeles jahrelang durchs Netz.

Ungestraft konnte er über zwanzig Jahre in Los Angeles schwarze Frauen ermorden, ehe die Polizei 2007 die Community alarmierte. Der erste nachweisbare Morde des später Grim Sleeper genannten Mannes hatte sich bereits 1985 ereignet. Eine Überlebende eines Mordversuchs behandelte die Polizeibehörde nicht als Zeugin, sondern als Verdächtige. Allgemein herrschte in der Behörde trotz der Erkenntnis, dass ein Mörder die Straßen der Stadt unsicher machte, eine Kultur des Ignorierens. Sogar befürwortenden Stimmen für das Tun des Killers gab es im Polizeiapparat, da ja hier auch jemand „endlich einmal die Straßen aufräumen würde“.

Ein skandalöser Fall, der durch Wegschauen und das bewusste Ignorieren von Ermittlungserkenntnissen vielen schwarzen Frauen in Los Angeles das Leben kostete. Ein Fall, der aber auch Erinnerungen an eine ähnliche Mordserie an marginalisierten Personen in Deutschland wachruft, die die Behörden hier ähnlich lasch bis ignorierend verfolgten, ehe das NSU-Trio 2011 aufflog und plötzlich öffentliches Entsetzen darüber einsetzte, wie diese Mordserie all die Jahre nicht nachverfolgt werden konnte.

Und trotz Untersuchungsausschüssen, einem Mammut-Prozess und viel medialer Begleitung kam doch die Seite der Opfer zu kurz. In den USA wie auch hierzulande wird unter dem Schlagwort Say their names gefordert, den Opfern eine Stimme zu verleihen. Woran wir hier immer noch scheitern, das gelingt Ivy Pochoda in ihrem Roman Diese Frauen exzellent. Ein Buch, das lose auf dem Fall des Grim Sleepers basiert und das erfahrbar macht, wie es sich anfühlt, in Kontakt mit einem derartigen Verbrechen zu kommen.

Frauen in Los Angeles

Ivy Pochoda - Diese Frauen (Cover)

Dafür wählt Ivy Pochoda einen vielstimmigen Erzählansatz. Eingeteilt in mehrere Hauptkapitel verleiht sie Diesen Frauen eine Stimme. Da ist eine Frau, die einen Angriff des Mörders überlebt hat. Eine Polizistin mit zu vielen Gedanken im Kopf, die hinter der Mordserie ein Muster sieht. Eine junge Künstlerin, die mit ihren Arbeiten den Toten eine Stimme verleihen will. Und Dorian, eine Mutter eines jungen Mädchens, das ermordet wurde. Schon einmal gab es eine Mordserie an schwarzen Frauen entlang der Western Avenue in Los Angeles, ehe nach einer Pause wieder Frauen umkamen, diesmal eben auch die Dorians Tochter. Das nimmt die Besitzerin einer Fischbude zum Anlass, selbst zu mahnen und für Ermittlungen einzustehen.

Sie alle stehen in Kapiteln im Mittelpunkt, begegnen sich manchmal, beeinflussen sich durch ihr Handeln und treiben die Geschichte voran. Zwischen den Großkapiteln stehen dabei Gedankenfetzen und Schilderungen der Überlebenden, die dem Western-Killer entging. Generell ist festzuhalten, dass jede Figur eine eigene Ausformung ihrer Gedanken und Wahrnehmungen erhält. Die Fischbudenbesitzerin, die immer wieder tote Kolibris in ihrer Umgebung findet. Die Polizistin, der die Gedanken verrutschen und in deren Kopf ein großes Durcheinander herrscht. Die Gattin des Killers, die mit Strenge und Wegschauen ihr Leben zu ordnen versucht. Sie alle sind Figuren, die Pochoda großartig herausarbeitet, ihnen eine eigene Sprache verleiht und so Figuren erschafft, die auch über das jeweilige Kapitel und Buchende in Erinnerung bleiben.

Was eine Mordserie mit den Beteiligten macht, das lässt sich in Diese Frauen unmittelbar erspüren. Die Bräsigkeit des Polizeiapparats, dem einzelne Engagierte gegenüberstehen, die Gefahren, denen Frauen ausgesetzt sind, die systematische Abwertung von Marginalisierten, das ist es, was Ivy Pochoda interessiert und wovon sie auf großartige Art und Weise erzählt. Mag das Buch auch alle Zutaten für einen handelsüblichen Serienkiller-Thriller enthalten, schafft sie es doch, ihr Material so zu gewichten und zu erzählen, dass dieses Buch ganz anders ist als alles, was sich sonst dutzendfach in den Buchregalen findet.

Formal ambitioniert und anspruchsvoll

Ihr Buch ist formal ambitioniert und anspruchsvoll. Durch den Fokus auf die Opfer des Killers und sein unmittelbares Umfeld gelingt es ihr, neu und unmittelbar vom Bösen zu erzählen, das die Gegend rund um die Western Avenue in Los Angeles jahrelang unsicher machte. Diese Frauen ist ein Porträt der dunklen Seiten von Los Angeles, die Ivy Pochoda hier präzise vermisst. Ihr Buch lässt sich auch als feministischer Warnruf auf das Treiben des Grim Sleepers und anderer Serientäter lesen, die jahrelang ungestraft ihren Trieben nachgehen konnten. Das Buch hat mit der Frage vom gesellschaftlichen und polizeilichen Umgang mit marginalisierten Personen ein Thema, das weit über seinen eigentlichen Rahmen und Genregrenzen hinausweist.

Übersetzt wurde dieses Buch von Sigrun Arenz, die weitestgehend einen tollen Job erledigt (auch wenn ich beispielsweise den Terminus des „wildfire“ eher einem „Wildfang“ oder „Wirbelwind“ anstelle eines „Wildfeuers“ vorgezogen hätte) doch ganz großartig, den einzelnen Erzählerinnen auch im Deutschen eine markante Stimme zu verleihen.

Fazit

Wie man meinen Worten vielleicht entnehmen kann: ich bin begeistert und empfehle dieses Buch nachdrücklich. So sehen gute, gesellschaftlich relevante und moderne (Spannungs-)Romane aus. Literarisch hochspannend ausgeformt, formal überzeugend und anders als das Spannungseinerlei. Mit einem gesellschaftlichen Anliegen versehen, dass das Leseerlebnis nie übertüncht, gelingt Diese Frauen das Kunststück, zugleich höchst aktuell und zeitlos zu sein. Eines meiner ganz großen Entdeckungen in diesem Jahr!


  • Ivy Pochoda – Diese Frauen
  • Aus dem Amerikanischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0218-0 (Ars Vivendi)
  • 356 Seiten. Preis: 23,00 €
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Willy Vlautin – Nacht wird es immer

Die Frage nach Wohnen und dem Wohnraum, sie wird immer drängender. Enteignungsdebatten, Familien, die an die Ränder der Städte gedrängt werden, viel Frust und Not angesichts steigender Mieten und Kaufpreise. Doch nicht nur in Deutschland beschäftigen diese Themen Menschen und lassen sie verzweifeln. In den USA ist die Lage nicht viel besser, wie Willy Vlautins großartiger Roman Nachts wird es immer zeigt. Ein einfühlsames Stück Literatur, irgendwo zwischen Lola rennt und Gentrifizierungsdebatten.

Der Kampf um bezahlbares Wohnen

Die Heldin, mithilfe derer Willy Vlautin von Heimat und Wohnen erzählt, trägt den Namen Lynette. Sie wohnt zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Kenny in einem kleinen Haus in Portland, Oregon, zur Miete. Ihr Bruder hat eine Entwicklungsstörung und ist höchst betreuungsintensiv, ihre Mutter hat einen kleinen Job und hat Mühe, sich zur täglichen Arbeit zu motivieren. Lynette ist der Motor ihrer Familie und kämpf an vielen Fronten. Mit einem Job in einer Bäckerei und einem abendlichen Job in einer Kneipe versucht sie ihren Teil zum Einkommen der Familie beizutragen, studiert nebenher und bräuchte eigentlich einen 48-Stunden-Tag, um ihr Pensum zu schaffen.

Willy Vlautin - Nacht wird es immer (Cover)

Das große Ziel, auf dass sie unablässig hinarbeitet, ist der Kauf ihres derzeit zur Miete bewohnten Hauses. Wie überall anders im Land steigen auch in Oregon die Mieten, werden selbst für schrottreife Häuser exorbitante Summen erlöst und Menschen mit niedrigen Einkommen an den Rand der Städte gedrängt. Lynette und ihrer Mutter bietet sich nun die Möglichkeit, als langjährige Mieter das Haus von ihrem Vermieter zu einem Vorzugspreis zu erwerben. Doch hierfür braucht es einen Kredit, den Lynette nicht bekommt, da ihre Kreditwürdigkeit dem entgegensteht. Als sich dann auch ihre Mutter am Tag vor der Geschäftsanbahnung auch noch ein teures Auto zulegt, eskaliert die Situation.

Lynette beschließt, selbst das fehlende Geld für einen Kauf zu beschaffen. In einer Nacht möchte sie das ausstehehende Geld bei Menschen eintreiben, die ihr noch etwas schulden. Vom Tresorraub bis zum Kontakt mit Männern, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Escort-Girl traf. Mit dem Mut der Verzweiflung kämpft sie sich durch die Nacht, um das Geld zu beschaffen, dass ihrer Familie ein besseres Leben verheißt. Dabei lernt man mit jedem Eintreibungsversuch neue Seiten und Facetten an der jungen Frau kennen, die bald ein glaubhaftes und einfühlsam gezeichnetes Bild ergeben.

Ein einfühlsamer Erzähler

Man merkt Willy Vlautin in Nachts wird es immer seinen warmherzigen und realistischen Blick auf seine Hauptfigur an (was auch schon am Vorgängerbuch Ein feiner Typ ein herausragendes Merkmal war). Lynette ist eine sympathische Heldin, da sie auch fehlbar und alles andere als glattpoliert ist. Ihre schwierige Vergangenheit fächert Vlautin erst langsam auf. Man nimmt ihr ihre Verzweiflung zu jeder Sekunde ab, da es Vlautin gelingt, ihr Lebensumfeld, ihre Hoffnungen und Träume nachvollziehbar zu schildern. Sobald man mit der Lektüre dieses Buchs beginnt, ist man wirklich drin im Leben dieser Prekariatsfamilie, in der Lynette noch so stark kämpfen mag, aber dennoch vom Amerikanischen Traum ausgeschlossen bleibt.

Vlautin zeigt anhand dieser Familie, wie steigende Mieten das Miteinander verkomplizieren und welche Verwerfungen im Privaten mit den steigenden Preisen einhergehen. Daneben thematisiert er Probleme wie die mangelnde Krankenversicherung und die grassierende Armut, die Menschen immer stärkere Verrenkungen abverlangt, um irgendwie zu überleben. Das alles adressiert dieses Buch, vergisst darüber aber auch nicht seinen Anspruch, gut zu unterhalten.

Fazit

Nachts wird es immer ist im besten Sinne Americana-Literatur, die sich für die einfachen Menschen interessiert. Vlautin blickt in die Provinz und entdeckt wahrhaftige Menschen mit Problemen, von denen er einfühlsam zu erzählen vermag. Ihm gelingt ein spannender Roman, der immer vorwärts drängt, sich aber auch Zeit für Dialoge und große Diskussionen nimmt. So stellt Vlautin mit diesem Roman einmal mehr sein Talent als Chronist der „einfachen“ Amerikaner unter Beweis und legt einen sehr empfehlenswerten Roman vor, der von Nikolaus Hansen aus dem Englischen übertragen wurde.

Eine weitere Meinung zu diesem Roman gibt es bei Feiner, reiner Buchstoff.


  • Willy Vlautin – Nacht wird es immer
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1430-6 (Piper)
  • 288 Seiten. Preis: 25,00 €
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Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung

Auf den kleinen Münchner Verlag Liebeskind ist Verlass. Egal ob Western, Klassiker, Krimi oder welthaltige Literatur aus Afrika oder Japan. Immer wieder gelingt es diesem Haus, spannende Perlen abseits des literarischen Mainstreams zu präsentieren. Dieses Buch macht dabei keine Ausnahme: Didier Daeninckx‚ Klassiker Le der des ders aus dem Jahr 1984, vor zehn Jahren in der Übersetzung von Stefan Linster als Tod auf Bewährung erschienen. Ein klarer Fall für #backlistlesen.

Wir befinden uns Anfang der Zwanziger Jahre in Paris. Der Große Krieg liegt zwar in der Vergangenheit, seine Auswirkungen sind aber immer noch überall zu spüren. Die Amerikaner bevölkern die Gassen von Montmatre bis Pigalle, viele Menschen tragen Traumata mit sich herum und der illegale Handel mit Waren aus Übersee boomt.

Ein Auftrag für René Griffon

Didier Daeninckx - Tod auf Bewährung (Cover)

Anfang Januar verheißt ein nächtlicher Anruf einen neuen Auftrag für René Griffon, der sich als Privatdetektiv im 19. Arrondissement verdingt. Er wird von einem ranghohen Militär angeheuert, der Untreue bei seiner Ehefrau vermutet. Ein absoluter Klassiker, der auf den ersten Fall wie leicht verdientes Geld für Griffon aussieht. Doch so einfach, wie sich der Fall zunächst darstellt – der bekennende Krimileser ahnt es längst – ist der Fall dann natürlich nicht. Seine Suche nach der Wahrheit hinter dem Fall führt ihn vom Anwesen des Colonels in Aulnay über die Kneipen von Pigalle bis zu einem Sanatorium in Villepinte. In seinem Packard Twin Six braust Griffon durch höchst unterschiedliche Orte rund um Paris, um Licht ins Dunkel dieses immer kompliziert werdenden Falles zu bringen. Hier scheint niemand mit offenen Karten zu spielen

Von der anfänglichen Untreue wächst sich der Fall zu einer Affäre aus, die zurück bis zu den Schlachtfeldern bei La Courtine führt. Dabei entfaltet Didier Daeninckx neben der Rahmenhandlung auch ein beeindruckendes Porträt von Paris mit seinen ganzen so unterschiedlichen Vorstädten. Vom industriellen Levallois bis nach Roissy en France, von Vergnügungsvierteln bis in das Sanatorium, das hier an das Batman’sche Arkham Asylum erinnert reicht der Bogen, den der Krimiautor spannt.

Bis zum bitteren Ende

Schön auch der Mut von Daeninckx, seine voranpreschende Geschichte bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Hier gibt es kein unpassendes Happy End, hier wird der Noir in seiner ganzen Düsternis durchexerziert. Dass die Farbe Schwarz dabei immer wieder als Leitmotiv auftaucht, das passt gut ins Bild.

So ist Tod auf Bewährung ein souverän mit den Themen und Motiven des Krimi Noir spielendes Buch, das einerseits als Hommage an ein (zumindest im Erscheinungsjahr 1984) nicht mehr wirklich populäres Genre funktioniert. Die Themen, die Figur von René Griffon als Privatdetektiv, das von halbseidenen Figuren bevölkerte Paris, alles das ist Noir Pur.

Dann hat das Buch neben seinem Willen zu Hommage andererseits aber auch selbst das Zeug zum zeitlosen Klassiker. Das Buch ist eine Vermessung von Paris in der Zwischenkriegszeit, ein klassischer (manchmal ja schon fast altmodischer) Krimi um einen Privatschnüffler und ein Porträt dessen, was ein Krieg mit einer Gesellschaft anstellen kann, souverän ausbalanciert durch Didier Daeninckx. Obwohl hier viele Zutaten zusammenfinden, ist das Ganze doch sehr stimmig ausbalanciert und darüber hinaus auch noch spannend. Schon ab dem Anruf, der Griffon aus seinem Trott reißt, besitzt Tod auf Bewährung einen mitreißenden Sog.

Fazit

Hervorragend, dass der Liebeskind-Verlag die Initiative gewagt hat, das Buch dem deutschen Lesepublikum zugänglich zu machen. Schade hingegen, dass das Interesse für Daeninckx‘ Krimi hierzulande eher verhalten geblieben ist. Obwohl er laut Verlagsangaben immerhin als einer der wichtigsten Kriminalschriftsteller Frankreichs gilt. Wer Tod auf Bewährung liest, wird dieser Einschätzung nicht widersprechen wollen. Ein kluges Spiel mit Genremotiven und ein überzeugender Krimi Noir aus Paris, der die Zeit der 20er Jahre schon lange vor Volker Kutscher und Co. als Spielfeld entdeckte.


  • Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung
  • Aus dem Französischen von Stefan Linster
  • ISBN 978-3-935890-83-0 (Liebeskind)
  • 288 Seiten. Preis: 18,90
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Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge

Diese Familie ist wirklich mehr als außergewöhnlich. Kristen Arnett in ihrem Debütroman „Ziemlich tote Dinge“ über eine reichlich dysfunktionale Dynastie von Taxidermisten, die Kunst der Tierpräparation, die Verarbeitung von Verlusten und die Frage nach einem möglichen Neuanfang. Großartige und eigenwillige Literatur aus Amerika, die es sich zu entdecken lohnt.


Jessa-Lynn Morton entstammt einer Familie von Taxidermisten. Ihr Vater hat ihr einst die Kunst der Präparation von Tieren nahegebracht, seitdem verdingt sie sich im familieneigenen Geschäft in Florida als kunstvolle Handwerkerin, die den toten Tieren noch einmal Leben einhaucht. Bei ihrem Vater kann sie allerdings auch mit jeglicher Kunstfertigkeit nichts mehr ausrichten. Sie findet ihn erschossen in den Arbeitsräumen des Geschäfts vor.

Der Suizid ihres Vaters wirft in der Folge nicht nur Jess aus der Bahn. Alle Familienmitglieder geraten ins Taumeln und begegnen dem Verlust auf ganz eigene Art und Weise. Jess‘ Mutter rasiert sich eine Glatze und beginnt, sich künstlerisch auszuleben. Im Schaufenster ihres Geschäfts modelliert und gruppiert sie ausgestopfte Tiere zu freizügigen bis obszönen Gesamtensembles, die schon bald die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich ziehen.

Milo, der Bruder von Jess, ist sowieso schon aus der Bahn geworfen. Seine Frau Brynn hat ihn verlassen, die Kinder sind bei ihm geblieben. Ein Verlust, den aber nicht nur Milo nicht verwinden kann, auch Jess macht dieser Verlust noch immer zu schaffen. Denn auch sie pflegte eine intensive Affäre mit Brynn…

Viele eigenwillige Figuren

Kirsten Arnett - Ziemlich tote Dinge (Cover)

Es sind viele eigenwillige Figuren, die uns Kristen Arnett in ihrem Debüt präsentiert. Die queere Jess, die die Frau ihres Bruders liebt. Die exzentrische Mutter, deren Kunst schon bald auch eine lokale Galeristin begeistert. Die lokale Galeristin, die wiederum sehr von Jess begeistert ist. Und dazwischen allerhand ausgestopfte Waschbären, Alligatoren, Pfaue und Bären.

Höchst anschaulich schildert Arnett die Kunst, die es bedeutet, Ziemlich tote Dinge wieder zum Leben zu erwecken. Den Prozess dahin, bis ein Tier ausgestopft an der Wand hängt oder als Trophäe ausgestellt wird, das dekliniert die amerikanische Autorin hier bis ins Kleinste vor. Hier werden überfahrene Tiere von der Straße geklaubt, Skelette geformt und präpariert – aber nie so, dass sie dieses Handwerk platten Grusel- oder Ekeleffekten opfert. Stattdessen zeichnet sie dieses Handwerk als Kunst, das in vielfacher Hinsicht bei der Trauerbewältigung helfen kann.

Interessant wird Ziemlich tote Dinge zudem durch die Kombination von Eros und Thanatos. Während der Tod sowohl in die Familie als auch das Handwerk und die Kunst der Mortons bestimmt, ist dieses Buch auch stark vom Begehren und Sexualität geprägt. Die gleichzeitige Liebe von Bruder und Schwester zur gleichen Frau, die Affäre von Jess mit der Kuratorin der kleinen Galerie, die Suche nach einer eigenen queeren Identität, das alles prägt dieses Buch ebenfalls sehr. Gelungen schafft es Kristen Arnett, diese schwierige Suche nach dem eigenen Ich und die Kalibrierung der eigenen Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen. Arnetts Buch ist voller Szenen, die von anrührend bis hin zu grotesk reichen.

Von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben

In dieser Engführung von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben, Begehren und Abschied ist Arnetts Buch wirklich gelungen. Zudem verfügt die 1980 geborene Autorin über eine wirklich gute Schreibe (übersetzt von Brigitte Jakobeit), die die Natur Floridas, die Kunst der Taxidermie und das Leiden und Begehren nachvollziehbar in Worte kleidet. Das dieses wie in einem sog lesbare Buch ein New York Times-Bestseller war, das verwundert nicht.

Kristen Arnett gelingt das Portrait einer eigenwilligen Familie voller eindringlicher, manchmal geradezu skurriler Figuren, die vom Tod und dem Leben erzählen. Dieses Buch ist wirklich eine Wunderkammer, die nicht nur mit vielen ausgestopften Tieren, sondern auch einer ganzen Füller unterschiedlicher Themen aufwarten kann. Queere Identität. Trauerarbeit. Die Kunst der Taxidermie. Eine Hymne auf die Fauna Floridas und die Kraft der Versöhnung.

Ein außergewöhnliches Buch das zeigt, dass nicht nur die großen Namen Jonathan Franzen und Co. das Metier des Familienromans beherrschen. Hier lernt man eine Sippe kennen, die man auf keinen Fall schnell vergisst – und besonders nicht dieses Cover!


  • Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
  • ISBN 978-3-7530-0007-7 (Ecco-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 22,00 €
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