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Ulrich Woelk – Für ein Leben

Ulrich Woelk verfolgt in Für ein Leben das Leben seiner beiden Protagonistinnen um die halbe Welt. Ein Berlin-Roman, der den verschlungenen Wegen des Schicksals nachspürt und mit einer erstaunlich hohen Genitalien-Dichte aufwartet.


Schon auf den ersten Seiten des Romans kommt es zu einer schmerzhaften und beinahe folgenschweren Hodentorsion, die Clemens Rubener fast seiner Zeugungsfähigkeit beraubt hätte.

Als Nikisha Lamont ihrem späteren Ehemann, Clemens Rubener, erstmals begegnete, hätte sie ihm um ein Haar die Fruchtbarkeit geraubt.

Ulrich Woelk – Für ein Leben, S. 9

Mit diesem Paukenschlag beginnt Ulrich Woelk seinen Roman. Auf den folgenden Seiten wird noch viel die Rede sein von jener Hodentorsion, die die Ärztin Nikisha Lamont aufgrund mangelnder Erfahrung und Überarbeitung bei Rubener fehldiagnostizierte. In den Nachwehen der gerade erfolgten Maueröffnung ist Nikisha Lamont in ihrem Weddinger Krankenhaus überlastet und erkennt verwirrt von ihrem Patienten die eigentliche Verletzung Clemens Rubeners nicht. Doch die Diagnose kann korrigiert werden, ein anderer Arzt erkennt den kritischen Zustand der Hoden und alles nimmt ein glimpfliches Ende.

Viele Episoden um Erektionsprobleme, Pornoproduktionen, entblößte Genitalien, Priapismus und mehr werden in Woelks Roman folgen. Sie verbinden die Schicksale der Figuren miteinander. Immer wieder kommt es in Für ein Leben zu Kontraindikationen von Geist und (Unter)Leib. Verschiedene Figuren lieben und begehren sich, verbinden und trennen sich und bilden somit eine vielschichtige Erzählung, die den unerklärlichen Wegen der Liebe und des Schicksals nachspürt.

Von Mexiko in den Wedding

Ulrich Woelk - Für ein Leben (Cover)

Nachdem jüngst Regina Scheer im Wedding schon den Wohnsitz Gottes verortete und Nicola Karlsson von Schicksalen im Viertel erzählte (Lichter über dem Wedding) wählt nun auch Ulrich Woelk jenen Arbeiterkiez als Kulminationspunkt verschiedener Schicksale. Da ist Nikisha Lamont, die als Kind zweier deutschen Hippies schon als Kleinkind um die halbe Welt reist. Die Eltern lassen sich in Mexiko nieder, die Tochter beschließt, Medizin zu studieren und gelangt schließlich zurück nach Deutschland, wo sie in einem Weddinger Krankenhaus ihren Dienst versieht.

Dann ist da Clemens Rubener, der mit einem Roman einen großen Erfolg gelandet hat. Eine Verfilmung des Stoffs ist in Planung, in die sich Clemens mit Hingabe stürzt – muss er sich so doch nicht um das drängende Problem der fehlenden Inspiration für einen neuen Roman kümmern. Er hält den Verlag in Gestalt seiner Lektorin hin und erwirbt in Sachen Prokrastination fast virtuose Fähigkeiten.

Auch die in einem Miethaus im Wedding wohnhafte Lu muss kreativ werden, um ihren Alltag zu meistern. Ihr Vater neigt nach dem Tod seiner Frau wechselweise dem Alkoholmissbrauch und der Suche nach einem Ersatz seiner verstorbenen Gattin zu. In diesem unsteten Umfeld findet Lu bei ihren Nachbarn, dem vergeistigten Musiker Hans Krol und dem jungen Victor Belkow Zuflucht. Sind die Eskapaden ihres Vaters zu krass, flüchtet sie zu den ganz unterschiedlichen Männern, um in ihren Wohnungen Distanz zu ihrem Vater herzustellen.

Viele Episoden ergeben ein Ganzes

Die Erzählung um die Hauptfiguren Nikisha, ihren späteren Ehemann Clemens und Lu umspinnt Woelk mit Erzählungen weiterer Nebenfiguren wie etwa jene eben schon erwähnten Hans Krol oder Victor Belkow, dessen Flucht aus der DDR einst scheiterte. Neben der Fülle von Figurenschicksalen sind es noch zahlreiche andere Elemente, die Woelk in diesen motivreichen Roman integriert. So erzählt er vom Schmuggel von Pornos aus Westberlin in den Osten, Filmarbeiten rund um den apokryphen Film Mexican von Gore Verbinski mit Brad Pitt und Julia Roberts oder lesbische Filmtage eines Kollektivs in einem Weddinger Kiez Kino.

Die Kunst, die Woelk hier deutlich besser als in seinem letzten Roman Der Sommer meiner Mutter gelingt, ist es, die Vielschichtigkeit von Liebe und Begehren darzustellen. So führt das Schicksal Niki und Lu zusammen, lässt sie sich lieben und trennen, sich begehren und abstoßen. Immer wieder ergeben einzelne Episoden Querbezüge und runden sich zum Ende hin – was für eine derart umfangreiche Laufzeit eine wirklich beachtliche Leistung ist. Woelks Buch kann man als Studie über die Macht des Schicksals lesen. Genauso funktioniert der Roman auch als breit gefächertes Panoptikum der verschiedenen Erscheinungsformen von Liebe. Für ein Leben ist aber ein Porträt des Weddings und seiner diversen Bewohner*innen. Medizinische Diagnosen spielen eine Rolle (siehe die hohe Genitalien-Dichte), Kunst und Kultur im Wandel der Zeit sind ebenso Themen, die hier beleuchtet werden. Kurzum: dieser Roman ist eine Wundertüte, die unterhält und erfreulich vielgestaltig daherkommt.

Fazit

Für ein Leben ist ein Roman, der Komplexität wagt und sich nahezu keinen Durchhänger leistet. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Wie sehen die Wege des Schicksals aus, sind sie durch etwas zu beeinflussen? All das thematisiert dieses Buch und bietet höchst unterschiedliche Leseweisen an. Ein starkes, vielschichtiges Buch und für mich ein Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2021!


  • Ulrich Woelk – Für ein Leben
  • ISBN 978-3-406-77451-5 (C. H. Beck)
  • 632 Seiten. Preis: 26,00 €
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Jan Christophersen – Ein anständiger Mensch

Anstand, was heißt das schon? In diesen Tagen, in denen Unwahrheiten, Poltereien und Verächtlichmachung der Gegner schon politisch vorgelebt werden, hat es eine vermeintlich altmodische Tugend schwer. Doch Steen Friis hält die Fahne des Anstandes hoch. Wie eine Mischung aus Axel Hacke, Asfa Wossen-Asserate und Richard David Precht wirkt dieser Friis, der mit Büchern und Talkshowauftritten sein Geld gemacht hat. Längst hat er große Berühmtheit erlangt und ist vielgefragter Gast in den Medien. Sein Lebensthema dabei stets: Der Anstand und das, was sich gehört. Beziehungsweise das, was sich nicht gehört.

Unzählige Sachbücher und Ratgeber hat er zu diesem Thema verfasst. Entstanden sind sie alle auf einer kleinen dänischen Insel, auf die sich Friis zum Schreiben zurückzieht. Ein ausgebautes Ferienhaus als Schreibklause, das Meer gleich vor der Haustür und kein Internetanschluss. Mehr braucht Friis nicht, um produktiv zu sein.

Mit der Idylle auf der Insel ist es aber schon zu Beginn des Buchs nicht weit her. Denn Gäste haben sich angekündigt. Ein befreundetes Paar kommt Friis und seine Ehefrau besuchen. Er IT-Administrator, sie Friis‘ Agentin. Zusammen wollen die beiden Paare ein paar schöne Tage auf der Insel verbringen. Natur und hyggelige frokost, da seufzen Skandinavien-Liebhaber*innen beglückt auf. Doch so idyllisch, wie sich die Szenerie anfangs ausnimmt, ist es dann natürlich nicht. Denn Friis Frau offenbart ihm, dass sie sich zum anderen Mann hingezogen fühlt. Und auch Friis‘ Agentin und er pflegen ein Verhältnis, das nicht unbedingt anständig zu nennen ist. Bei einem abendlichen Pilz-Essen eskaliert dann die Lage – und zwar gehörig.

Die Frage nach Anstand und Moral

Jan Christophersens Roman erinnerte mich von der Anlage stark an Ian McEwans Kindeswohl. Hier wie da steht ein Mensch im mittleren Lebensalter im Mittelpunkt, den der offen ausgesprochene Wunsch des Ehepartners nach amouröser Abwechslung mit einem anderen Partner völlig aus der Bahn wirft. Ein weiterer Berührungspunkt ist die Frage nach Moral und Ethik, die beiden Büchern zugrunde liegt. Was darf man, was ist gerechtfertigt? Wo sind die Grenzen des Anstands erreicht? Wo McEwans Roman eine tiefenscharfe Auslotung der moralischen Fragen, die im Laufe der Handlung aufgeworfen werden, gelingt, schafft dies Christophersen in seinem Buch nur bedingt. Zwar wird die Frage nach Anstand und dessen Grenzen angeschnitten, wirklich angegangen wird sie nicht. Stattdessen legt Christophersen Wert auf das Vorantreiben der Handlung.

Man freut sich auf einen Abend bei Essen, der Yasmina-Reza-haft eskaliert, doch dann bricht diese Schilderung wieder recht hastig ab, um dann einige Zeit später in Hamburg fortgesetzt zu werden. Gerade von dieser Konfrontation der Paare hätte ich mir viel erhofft. Einsichten in die emotionale Seelenlage der Protagonist*innen, überraschende Geheimnisse, die sich offenbaren, umschwingende Sympathien und Antipathien. Stattdessen flüchtet sich Steen nach der finalen Konfrontation wie ein pubertärer Trotzkopf ins Bettchen und verrammelt die Türe seines Schlafgemachs.

Nicht ganz ausgeschöpftes Potential

Dieser Abend und der gesamte Aufenthalt auf der Insel hätte in meinen Augen deutlich mehr Potential zu dramatischer und philosophischer Ausgestaltung besessen. Stattdessen spielt das letzte Drittel des Romans wieder in Hamburg und bricht damit die Einheit von Zeit und Ort, die Christophersen vorher aufgebaut hat. Auch die Möglichkeiten des unzuverlässigen Erzählers, die Christophersen ab und an aufblitzen lässt, schöpft er nicht wirklich aus. Um sich wirklich nachhaltig in meinem Kopf zu verankern fehlt diesem Buch in meinen Augen die Tiefe. Statt die ethischen Fragen und die Hintergründe der vier beteiligten Personen facettenreich zu beleuchten, verlegt er sich auf die Schilderung von Äußerlichkeiten. Diese gelingen ihm auch besonders in Bezug auf die Schilderung der Natur auf der dänischen Insel ganz hervorragend. Aber mehr bietet dieses sprachlich solide Roman in meinen Augen nicht. Kann man auf alle Fälle lesen, gelungener ist in meinen Augen nach wie vor Ian McEwans Kindeswohl.


Weitere Besprechungen des Buchs findet sich beim Kulturjournal von Fräulein Julia und bei Hauke Harder vom Leseschatz.

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Männlichkeit, quo vadis?

Jan Weiler – Kühn hat Hunger

Steckt die Männlichkeit in der Krise? Nach der Lektüre von Jan Weilers neuem Roman Kühn hat Hunger könnte es man fast meinen. Denn der neue Fall von Hauptkommissar Martin Kühn konfrontiert ihn mit toxischer Männlichkeit und dem eigenen Hunger nach mehr. Abermals gelingt Weiler ein ausgesprochen schlechter Krimi und ein ausgesprochen guter Roman.


Dieser Tage wird im Berliner Verlag Matthes&Seitz ein Buch neu aufgelegt, das ursprünglich vor über vierzig Jahren erschien. Die Rezeption dieses Werkes riss aber nie wirklich ab, wenngleich das Buch zwischendurch vergriffen war. Nun erscheint diese richtungsweisende Monographie erneut – die Rede ist von Klaus Theweleits Mammutwerk Männerphantasien, das als einer der ersten Forschungsansätze der nationalen und internationalen Männerforschung gilt.

Ein Klassiker der Männerforschung

In diesem Werk erforscht Theweleit unter anderem die Ursprünge von Faschismus und Gewaltphantasien. Ein Werk, das leider auch nach vierzig Jahren immer noch von größter Aktualität ist, wie nicht auch zuletzt Jan Weilers Roman beweist. Denn einer der zentralen Männertypen, der sowohl in Theweleits als auch in Weilers Buch eine Rolle spielt, ist der mit dem Begriff des Fragmentkörpers umrissene Mann. Dieser Mann, so erklärt es Theweleit, versucht seine Probleme, mit denen er psychisch integrativ nicht umgehen kann, durch Gewalt zu lösen. Gewalt, die auch zu einem Mord führen kann, wie Jan Weiler eindrücklich zeigt.

Der Fragmentkörper, dem wir in Kühn hat Hunger begegnen, trägt den Namen Sebastian Pflug. Er versieht seinen Dienst als Polizist im und um den Münchner Hauptbahnhof herum. Ein junger Mann, gerade einmal 21, der noch bei seinen Eltern in Landshut wohnt. Täglich pendelt er in die bayerische Hauptstadt und kümmert sich um die Verlorenen, Gestrandeten und Randständigen, die im Bahnhof Zuflucht suchen. Doch es gibt auch an einem solchen Ort Verlockungen und Gefahren – die gleich hinter dem Nordausgang des Bahnhofs lauern.

Männliche Abgründe

Denn dort verläuft die Arnulfstraße, die mit zahlreichen Rotlicht-Etablissements aufwartet. Eine Zufallsbegegnung in einem solchen Etablissement, in das Sebastian Pflug ein Einsatz führt, weckt in dem jungen Mann den Hunger. Hatte er bislang noch keinen Kontakt zum weiblichen Geschlecht und beschränkte den Kontakt auf stalking-ähnliches Verhalten, so entflammt schon bald das Begehren für eine Tabledance-Angestellte namens Nicky.

Zusammen mit einem weiteren Fragmentkörper, dem er bei seiner Routine im Bahnhof begegnet, beschließt er die Tänzerin zu einem privaten Tanz zu bitten. Doch – irgendwo muss die Krimihandlung ja beginnen – natürlich läuft dieses Tête-à-têtes schief und am Ende liegt die Leiche der jungen Tänzerin nackt im Januarschnee. Ein dilettantischer Mord, aus dem Affekt heraus geschehen. Oder wie es Klaus Theweleit analysieren würde: ein Problem, das Pflug und sein Partner in crime psychisch integrativ nicht lösen konnten, und das in Gewalt mündete. Fragmentkörper vom Feinsten.

Darf man das machen? Bei einem Krimi den bzw. die Mörder, den Tathergang und das Motiv gleich verraten? Ich finde ja, schließlich macht es Jan Weiler nicht anders. Schon nach siebzig Seiten ist der ganze Krimiplot erklärt und alles minutiös beschrieben. Die klassischen W-Fragen des Krimis (Wer wars? Warum? Und wie?) – sie liegen alle glasklar vor den Lesenden. Und auch in der Folge hat Jan Weiler kein gesteigertes Interesse, den Formalia eines Krimis zu entsprechen. Immer weiß der Leser oder die Leserin vorher Bescheid. Auch der Showdown wird schon lange vorauserzählt, ehe dann die Polizei in Gestalt von Martin Kühn und Kolleg*innen ihren Auftritt hat. Wieder einmal bestätigt sich für mich die Erkenntnis, die ich schon nach den vorhergehenden beiden Martin-Kühn-Bänden formulierte: diese Bücher sind als Krimis kaum brauchbar, als Porträt eines Durchschnittsmenschen aber umso besser.

Tipps für echte Typen

Die Probleme des Martin Kühn, sie sind so sympathisch wie durchschnittlich. Das Eigenheim, das Probleme macht. Die Beförderung, die eigentlich schon fest eingeplant ist. Die Schulden, die drücken und den Schlaf erschweren. Die Entfremdung von den eigenen Kindern. In vielen von Martin Kühns Sorgen kann man sich durchaus wiederfinden.

Und nun ist da auch noch das Gewicht, das dem Hauptkommissar Kummer bereitet. Denn die Hosen, sie passen nicht mehr so wichtig. Es zwickt und zwackt, so etwas wie Attraktivität oder Esprit scheint die eigene Existenz kaum mehr zu versprühen. Grund genug für Martin Kühn, zu einem Männlichkeitsratgeber mit dem bezeichnenden Titel Weck die Bestie, du Sau! zu greifen.

Abnehmen – aber wie?

Darin rät ein belgischer Coach zu einem radikalen Abnehm- und Ertüchtigungsprogramm. Während man tagelang nichts bzw. höchstens eine Avocado oder einen halben, ungekochten Blumenkohl zu sich nehmen darf, steht die Wiedererlangung der männlichen Dominanz im Mittelpunkt des Ratgebers. Sentenzen wie “ Streck es raus, dein stolzes Kinn. Das Kinn ist die obere Abteilung des Schwanzes. “ (S. 78f.) oder „Und jetzt geh raus und jage das Wild. Und denke immer daran: Erfolg ist männlich. Sonst würde es Siefolg heißen.“ (S. 80) sprechen für sich.

Auch Kühn versucht, mithilfe des ebenso radikalen wie misogynen und homophoben Ratgebers aus den Bestsellerlisten wieder zurück in die Spur zu finden. Denn eigentlich will er auch mehr sein als der Ernährer seiner Familie. Ein Leader in Job und Privatleben. Doch wie soll das gehen, wenn einen der nagende Hunger zu einer unausstehlichen Person werden lässt? Wenn selbst der Schnippi-Käse im eigenen Kühlschrank tabu ist und man sich selber nicht einmal mehr sicher ist, wann der Mann ein Mann ist?

Männlichkeit in der Krise

Zu einem Buch über die Männlichkeit in der Krise wird das Buch dann aber vollends durch die zweite Hauptfigur, den Kühn’schen Antagonisten Sebastian Pflug. Dieser junge Mann oder im Theweleit’schen Sinne Fragmentkörper zeigt, wohin fehlende soziale Anbindung, fehlgeleitete Sehnsucht und falsche Freundschaften als Brandbeschleuniger führen können. Würde man ein Musterbeispiel toxischer Männlichkeit suchen, in der Figur des Sebastian Pflug würde man fündig. Ein durchaus bemitleidenswerter, aber auch gefährlicher Typus Mann.

Mich erinnerte dieser Sebastian Pflug und sein ganzer Charakter auch stark an ein anderes, höchst eindrückliches Buch – und zwar an Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh über den Hamburger Frauenmörder Fritz Honka. Ähnlich wie Honka ist es auch bei Pflug die eigene verkorkste Existenz und der Wunsch nach weiblicher Zuwendung, die ihn zu einer fatalen Tat treibt.

Bei den Blicken in diese trostlosen und Leben der Mörder ist Jan Weilers Buch wirklich enorm stark. Sinnbildlich ist die Szene, in der Pflug und sein Kumpane Nicky zu einem Strip im verschmutzten Wohnwagen überreden wollen. Während die Tänzerin traurig und robotergleich ihren Körper vor den beiden Männern zur Schau stellt, laufen im Hintergrund Die Amigos mit „Bella Donna Blue“ und später Andreas Gabaliers „Hulapalu“ (dessen Frauenbild man ja auch durchaus hinterfragen kann). Trauriger und trostloser wurde Begehren und der Wunsch nach weiblicher Zuwendung in diesem Bücherjahr kaum inszeniert.

Fazit oder Der Hunger nach mehr

Mit dem Hunger und der brüchigen Männlichkeit findet Jan Weiler zwei starke Themen für sein Buch, die locker über den schwachen Krimiplot hinwegtrösten. Auch der Handlungsort des Hauptbahnhofs, der ja wie kein zweiter für Aufbruch und Hoffnung steht, ist klug gewählt. Dass der Aufbruch und der Schritt ins Glück für den jungen Polizisten dann so endet, das ist bitter, aber auch konsequent. Denn toxische Männlichkeit, sie hat auch ihre tödlichen Seiten und kann auf die falsche Spur führen.

Oder wie es die Band Soul Asylum in ihrem Hit Runaway Train einst besang: Runaway train never going back. Wrong way on a one way track. Dieser Sebastian Pflug, möchte man in der Zug- und Bahnhofsmetaphorik verharren, ist ist mit seinem Verhalten und Frauenbild schon lange auf der falschen Spur unterwegs.

Natürlich kann man das Buch auch einfach als Unterhaltungsroman lesen. Diese Funktion erfüllt Jan Weilers Roman sehr gut. Aber wenn man Hunger auf mehr hat, dann kann man in Kühn hat Hunger eben auch deutlich mehr entdecken.

Sein Buch wirkt wie eine Fortschreibung oder eine Fallgeschichte von Klaus Theweleits Männerphantasien. Wie aktuell Theweleits Thesen sind, dass zeigt Kühn hat Hunger mehr als eindrücklich. Denn Felder wie toxische Männlichkeit, die INCEL-Bewegung, Alpha-Mentoring und misogyne Gewaltexzesse, sie sind in den letzten vierzig Jahren seit den Männerphantasien nicht verschwunden. Im Gegenteil. Und so steht für mich am Ende des neuen Weiler’schen Werks nur eine Frage: Männlichkeit, quo vadis?

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Haruki Murakami – Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Murakami reloaded

Der Streit im Literarischen Quartett ist schon legendär, der sich damals zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler abspielte. Dieser Krach führte letztendlich zur Auflösung der damaligen Besetzung des Literarischen Quartetts und ging in die Annalen der Literaturrezeption im Fernsehen ein. Der Auslöser war – eigentlich recht profan – das neue Buch des Japaners Haruki Murakami, dass damals unter dem Titel Gefährliche Geliebte erschien. Krux hierbei, an der sich auch der Streit entfachte, war die Übersetzung jenes Titels. Dieser wurde nämlich statt aus dem japanischen Original von der englischen Übersetzung her ins Deutsche übertragen.

Nach dem Debakel im Literarischen Quartett entschied man sich daraufhin, den Titel aus der Originalsprache zu übersetzen und beauftragte damit Ursula Gräfe, die in der Folge zur Stammübersetzerin von Haruki Murakami avancierte. Der Titel wurde nun auch angepasst und fortan hieß der Titel Südlich der Grenze, westlich der Sonne.

Suedlich der Grenze westlich der Sonne von Haruki Murakami (Cover)

Das dünne Büchlein (225 Seiten) erzählt vom Barbesitzer Hajima, der zwei Jazz-Bars betreibt und mit seiner Frau und seinen zwei Kindern eigentlich rundum zufrieden ist. Doch in seiner Schulzeit begegnete er Shimamoto, einem jungen Mädchen, in dem sich Hajima als Einzelkind gespiegelt sah. Dieser ersten Liebe begegnet er nun im Alter von 37 Jahren wieder, als diese plötzlich in einer seiner Bars sitzt und seine Gefühle ordentlich durcheinander wirbelt. Fortan ist für ihn sein Leben nicht mehr das, das er kannte.

Murakamis Erzählung aus dem Jahr 1992 verschränkt die erste Liebe Hajimas mit seinem fortgeschrittenen Leben und schafft es, auch wenn Murakami dafür nicht viele Seiten benötigt, intensiv die Liebesgeschichte der beiden zu schildern. Zwischen Jazz und Begehren entfaltet sich ein zart und präzise geschildertes Panoptikum, das den Leser für sich einzunehmen weiß. Mich erinnerte dieses Buch in seinen poetischen und leise geschilderten Tönen an das über 20 Jahre später erschienene Buch Die farblosen Pilgerjahre des Herrn Tazaki. Hier wie da versteht es Murakami in Meisterschaft, Männer und ihre Gefühle in großartige, klare Prosa zu überführen.

Fazit

Eine tolle (Wieder)entdeckung des ewigen Nobelpreis-Aspiranten, der schon lange seine Fans gefunden hat. Mit diesem Buch bietet sich die beste Möglichkeit, sich erstmals in den Kosmos des japanischen Starautoren zu wagen.

Und hier noch einmal der Zwist über Murakami im Originalvideo aus dem Jahr 2000.

https://www.youtube.com/watch?v=IFCSHEfQvY4
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