Tag Archives: Coming-of-Age

So spannend wie trockenes Mondgestein

Ulrich Woelk – Der Sommer meiner Mutter

Es bietet sich natürlich an, im Jahr 2019 ein Buch über die Mondlandung 1969 zu veröffentlichen. 50-jähriges Jubliäum des Armstrong’schen Monspaziergangs – da könnte man doch noch mal prima drüber schreiben, wie sich das damals so angefühlt hat. Muss sich auch Ulrich Woelk gedacht haben, der mit Der Sommer meiner Mutter ein Buch vorlegt, das es in Sachen Spannung, Sprache und Tiefenwirkung jenem trockenen Mondgestein aufnehmen kann, über das Neil Armstrong 50 Jahre zuvor wandelte.


Dabei packt Woelk alles in das Buch, was dieses Jahr 1969 so besonders machte. Die 68er-Revolte hat das Land durchgeschüttelt, die sexuelle Befreiung ist auf dem Vormarsch. Frauen emanzipieren sich, das Wirtschaftwunder klingt endgültig ab. Das lunare Wettrennen zwischen der UdSSR und Amerika ist im vollen Gange – da liegt der Stoff natürlich förmlich auf der Hand.

All diese Themen bündeln sich in den beiden Familien, die Woelk in den Mittelpunkt seines nicht einmal 200 Seiten umfassenden Romans setzt. Da ist zum einen Tobias, der 11-jährige Ich-Erzähler, durch dessen Augen man die Handlung erlebt. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater leben sie am Stadtrand von Köln, ein kleines Einfamilienhaus ist ihr Zuhause. Die Beziehung atmet die typischen Konventionen der Zeit. Während der Vater das Geld verdient, fügt sich Tobias‘ Mutter in die Rolle als Hausfrau.

Die Wahlverwandschaften am Kölner Stadtrand

Die Spiegelung dieser zeittypischen Familie bilden die Leinhards, eine Familie, die das nebenstehende Haus beziehen. Sie übersetzt, er ist als Philosophie-Dozent an der Uni tätig. Rosa, ihre Tochter sticht durch viel Altklugheit davor – und fasziniert gerade dadurch Tobias. Mit dieser Familie kommt ein ganz neuer Geist in die Nachbarschaft, der mit dem konservativen rheinländischen Katholizismus von Tobias Elternhaus kontrastiert. Die Leinhards hegen Sympathien für den Kommunismus, mussten aufgrund nebulöser Gründe aus Griechenland fliehen und stehen für ein neues Beziehungsbild.

Es entspinnt sich eine Handlung, die an die Wahlverwandschaften Goethes erinnert. Beide Ehepartner fühlen sich zu den anderen Partnern hingezogen (so zumindest Tobias‘ Wahrnehmung), während dieser selbst Rosa näherkommt und das erlebt, was man heute als Coming-of-Age bezeichen würde, sexuelle Initiation inklusive. Was bei Goethe schon nicht gut ausgeht, tut es bei Woelk schon erst recht nicht. Ein Geheimnis ist das mitnichten, schon der erste Satz des Romans nimmt dies vorweg.

Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.

Woelk, Urlich: Der Sommer meiner Mutter, S. 7

Damit ist natürlich auch die Spannung bzw. die Überraschung im Buch schon perdu. Wie es ausgeht, das überrascht nicht wirklich. Die Gestaltung eines dramatischen Bogens scheint Ulrich Woelk in Der Sommer meiner Mutter aber auch nicht wirklich zu interessieren. Chronologisch wird die ganze Handlung heruntererzählt, die es zu keinem Zeitpunkt schafft, so etwas wie eine Metaebene oder eine tiefergehende zweite Handlung hinter der erzählten Hauptebene zu entwickeln.

Bräsig wie eine Reihenhaussiedlung

So bräsig und banal wie die Reihenhaussiedlung am Stadtrand bleibt auch die Gestaltung der Kapitel, die Titel wie Neue Nachbarn oder Mädchen sind so tragen. Das Ganze las sich für mich ungeheuer rückwärtsgewandt und so spannend wie eine überbelichtete Fotografie aus den 60ern. Wenn es Woelks Ziel war, diese verschlafene BRD-Stimmung in Worte zu gießen, dann hat er das durchaus geschafft. Aber mir war diese in kunstlose und völlig austauschbare Sprache gekleidete Geschichte viel zu wenig, auch als Erinnerung an das Jahr 1969. Gerade in diesem Jubliäumsjahr werden wir ja mit Erinnerungen, Dokumentationen und Reportagen in mannigfaltiger Form überschüttet. Von diesen Rückblicken kann sich Woelks Buch leider überhaupt nicht absetzen und fügt der 69er-Nostalgie in meinen Augen nichts Wesentliches hinzu.

Natürlich ist es okay, diese Zeit wieder aufleben zu lassen und sich den Erinnerungen hinzugeben. Auch ein nostalgisches Buch über Kindheitserinnungen und die Mannwerdung in vergangen Zeiten ist ja erlaubt und bekommt seinen Platz. Aber dennoch stelle ich mir die Frage, ob es solch ein rückwärtsgewandtes Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 braucht. Gewiss, der Blick zurück dominiert auch bei den bisher ausgezeichneten Titeln. Ich selbst würde aber mir mehr inhaltliche und formale Wagnis von einem Buch wünschen, das auf dieser Liste steht. Ein Buch, das Ideen für unsere Zeit liefert, das sich der Komplexität der Welt da draußen stellt. Der Sommer meiner Mutter von Ulrich Woelk tut dies in meinen Augen leider nicht. Schade drum!

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Wo die Flusskrebse singen

Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse

Gerne ist in Rezensionen (meinen eingeschlossen) von atmosphärischen Schilderungen die Rede. Doch was bedeutet das eigentlich? In Delia Owens Debüt Der Gesang der Flusskrebse lässt sich das nahezu in Perfektion beobachten.

Die Hütte lag etwas entfernt von den Palmettopalmen, die sich über Sandwatt bis zu einer Perlenschnur von grünen Lagunen erstreckten, und dahinter, in der Ferne, kam die weite Marsch. Meilenweit widerstandsfähiges Riedgras, das sogar in Salzwasser wuchs, nur unterbrochen von Bäumen, die der Wind nach seinem Belieben gekrümmt hatte. Eichenwald umringte die Hätte auf der anderen Seite und schützte die nächstgelegene Lagune, deren Oberfläche vor Leben schäumte. Salzluft und Möwengeschrei drangen vom Meer durch die Bäume herüber.

Owens, Delia, Der Gesang der Möwen, S. 15

Man meint, förmlich selbst mit durch die Marschlandschaft zu wandern, wenn sie Delia Owens (toll von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt) so in Szene setzt. Die Atmosphäre überträgt sich in diesem Buch durch die präzise geschilderten Landschaftsbeschreibungen, die unter anderem den Reiz dieser Erzählung ausmachen. Zusammen mit der jungen Kya durchfährt man Kanäle, beobachtet Flora und Fauna und ist mit ihr weit draußen in der Natur, dort wo die Flusskrebse singen. So hat es ihr zumindest ihre Mutter erzählt, denn erst wenn man sich alleine und ungestört in die Natur begeben hat, dann hört man ihn vielleicht, den Gesang der Flusskrebse, draußen in den Marschen North Carolinas.

In den Marschen North Carolinas

Doch von ihrer Mutter bleibt Kya außer dieser Weisheit wenig. Schon zu Beginn der Geschichte verlässt sie die Familie. Der Exodus der Familienmitglieder setzt sich immer weiter fort, und so bleibt dann nur Kya zusammen mit ihrem jähzornigen Alkoholikervater in jener ärmlichen Hütte zurück, die Delia Owens im Eingangszitat beschreibt. Kyas Kindheit und das Aufwachsen in den Sümpfen erfahren wir in chronologischen Rückblenden, die die Handlung in der erzählten Gegenwart von 1969/70 ergänzen.

Delia Owens - Der Gesang der Flusskrebse (Cover)

Denn in zu dieser Zeit ist die lokale Polizei um die Aufklärung eines eventuellen Mordes bemüht. Chase Andrews, vielversprechendes Sporttalent und Womanizer, liegt tot am Fuße eines Turms in der Marsch. Zwar gibt es keine eindeutigen Beweise, aber die Polizei geht von Mord aus. Und die Verdächtige steht auch schnell fest: die junge Kya, von allen das Marschmädchen genannt. Und so ist man als Leser*in Zeuge, wie der Krimi seinen Ausgang nimmt, der später im Gerichtssaal enden wird.

Es sind also die verschiedensten Zutaten, die Delia Owens in ihrem Debüt verquickt. Ein Krimi, ein Justizdrama, ein Coming-of-Age-Roman, ein Naturbuch. Das dieses Gemisch nicht in seine Einzelteile zerfällt, das ist der Autorin hoch anzurechnen. Mit ihrem Sinn für Atmosphäre kreiert sie einen ganz eigenen Kosmos, der ähnlich dem ist, den William Kent Krueger in Für eine kurze Zeit waren wir glücklich präsentierte.

Eine Überraschung zum Schluss

Für ihre jugendliche Protagonistin findet sie eine stimmige Erzählweise und die Rückblenden belegen die Formung des Charakters von Kya glaubhaft. Die Balance aus Krimihandlung in der Gegenwart und Rückblenden ins Leben des Marschmädchens ist gut austariert. Wenngleich eine der beiden im Buch geschilderten Liebesgeschichten etwas erwartbar bleibt, so fällt das auch dadurch kaum ins Gewicht, da Der Gesang der Flusskrebse dann mit einer Schlusspointe aufwartet, die man so nicht erwartet hätte (zumindest ich tat das nicht). Sie lässt die vorherige Handlung dann noch einmal in einem neuen Licht erscheinen, mehr sei dazu aber nicht verraten.

Auch das spricht ja für das schriftstellerische Vermögen von Delia Owens. Dieses Talent zu fesseln, zu überraschen, den Kopfkino-Projektor bei den Leser*innen anzuwerfen.

Insgesamt ist Der Gesang der Flusskrebse so ein Buch, das packende Lesestunden beschert, das berührt und das mitnimmt in die Marschlandschaften in North Carolina. Mehr kann man von einem Buch wahrlich nicht erwarten. Einer meiner großen Sommerurlaub-Lektüretipps!


Weitere Besprechungen dieses Titels finden sich bei Wortgelüste, Günther Keil und Nicolettantoinetta

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Thomas Klupp – Wie ich fälschte, log und Gutes tat

Dieses Buch ist wie eine Zeitmaschine – man steigt ein und wird unvermittelt in die eigene Jugend zurückgebeamt. Denn die Geschichte, die Thomas Klupp in seinem neuen Roman erzählt, hat weist viele Elemente auf, die man selbst aus den „wilden“ Jugendtagen kennt.

Bei ihm ist der Ich-Erzähler Benedikt „Ben“ Jäger, der in Weiden in der Oberpfalz lebt. Von den tatsächlichen Wirtschafts- und Arbeitslosigkeitsverhältnissen ist in Klupps Version der oberpfälzischen Stadt nichts zu merken. Stattdessen prosperiert die Stadt an der Grenze zu Tschechien, die Lion-Ladies laden zum Wohltätigkeitsbrunch in das Eigenheim der Jägers, die Flüchtlinge präsentieren am Büffet Speisen aus ihrer Heimat.

Eigentlich eine richtige Klischeerevue, dieses Weiden. Doch Thomas Klupp kontrastiert die Vorzeigewelt mit Abgründen, die sich vor Ben auftun. An diesen lässt er uns Leser durch eine Art Tagebuch teilhaben, in dem er seine Eskapaden und Abenteuer chronologisch schildert.

So bewahrheitet sich der Buchtitel schon bald und zeigt, welche kleinen und großen Notlügen Ben auffährt, um sich unbeschadet durch sein Leben zu schummeln. Doch eine Lüge führt zur anderen und stellt ihn alsbald vor wirklich enorme Herausforderungen. Da ist es kein Wunder, dass sich Ben in einer Englisch-Schularbeit die Hasardeure Jay Gatsby und Tom Ripley für eine Charakterisierung herauspickt.

Von kleinen und großen Lügen

Diese kleine Lügen, dieses Schummeln (auch wenn natürlich nicht in dem Maße, in dem es Ben betreibt) – das kennt wohl jeder von uns. Die eine Notlüge, die zum anderen führt oder die eine Ausrede, die unnötig war, uns das Leben aber vereinfacht. Egal ob Erwachsene oder Jugendliche, in Klupps Welt erfassen diese Lügen uns alle – und das lädt natürlich zur Identifikation ein.

Wohl keiner von uns, der nicht schon einmal daran gedacht hat, nach einer Klausur das Ergebnis zu fälschen oder sich in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Wie ich fälschte, log und Gutes tat zeigt, was das bedeuten kann. Doch dabei verzichtet Klupp wohltuende auf eine Moralisierung – er lässt Ben einfach auf der schiefen Ebene seiner Täuschungsmanöver schlittern – und wir schauen ihm dabei wohlig zu.

Das Ganze ist in eine jugendlichen Sprache gekleidet, die zwar manchmal ins Klischee kippt, aber das passende Vehikel zu Klupps Text ist. Als Coming-of-Age-Geschichte passt hier alles recht gut zusammen und weiß besser als Ben selbst zwischen Nostalgie und Realismus zu balancieren. Dass das Buch so etwas wie eine Meta-Ebene nicht enthält, zeigt, dass Wie ich fälschte, log und Gutes tat nicht viel mehr ist, als ein Unterhaltungsroman. Aber ein gut relativ gemachter.

Fazit

Das Buch als Jugendbuch zu klassifizieren, greift zu kurz. Wie ich fälschte, log und Gutes tat lädt ein zu einer Reise zurück in die eigene Jugend und lässt den Fälscher in uns wieder ans Tageslicht kommen. Ungelogen – eine unterhaltsame Empfehlung.

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Kurz und Gut

Heute gibt es wieder eine Fuhre von Büchern, die ich in der letzte Zeit gelesen habe. Kurze Besprechungen neuer Titel – los gehts!

Jacqueline Woodson – Ein anderes Brooklyn

Es sind oftmals die kleinen und unscheinbaren Bücher, die aufgrund ihrer Konzentration dann den größten Eindruck hinterlassen. Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn zählt zu genau diesen Büchern. Bislang trat Woodson als Autorin von Büchern für Kinder und Jugendliche in Erscheinung – nun also ihr Debüt im Erwachsenengenre. Kurz nachdem das Buch im Deutschen erschienen war (Übersetzt von Brigitte Jakobeit), wurde die Autorin mit dem Astrid-Lindgren-Preis geehrt – nach der Lektüre dieses Buchs weiß man warum. Die Held*innen in Woodsons Buch sind August und Clyde, ein Geschwisterpaar, das mit ihrem Vater aus Tennessee nach Brooklyn gezogen ist. In der flirrenden Atmosphäre der Großstadt im Jahr 1973 sitzen die beiden zunächst noch beständig am Fenster, um das Treiben auf den Straßen zu beobachten. Doch bald öffnet sich die Welt der beiden und sie finden Anschluss auf den Straßen Brooklyns.

Auf nicht einmal 160 Seiten gelingt es Jacqueline Woodson, das komplexe Heranwachsen Augusts in einer schwierigen Umgebung zu skizzieren. Das komplexe Innen- und Außenleben der Held*innen wird von der Autorin gut eingefangen und glaubhaft vermittelt. Ein unglaublich präsentes, klares und unsentimentales Buch über die Kindheit. Auch meine geschätzte Mitbloggerin Birgit Böllinger war sehr angetan.

 

Nicolás Obregón – Schatten der schwarzen Sonne

Von Amerika aus geht es mit dem nächsten Buch auf einen ganz anderen Kontinent, nämlich Asien. Diesen bespielt der Debütautor Nicolás Obregón mit seinem Thriller Schatten der Schwarzen Sonne. Das Buch ist der Autakt zu einer geplanten Reihe um den Ermittler Kosuke Iwata. Dieser wurde zur Mordkommission in Tokio versetzt und bekommt es gleich mit einem gerissenen Täter zu tun. Dieser ermordete eine ganze Familie und hinterließ am Tatort eine gezeichnete Schwarze Sonne. Dieses Symbol wird dem Polizeibeamten noch öfter an Tatorten begegnen und führt ihn bis nach Hongkong. Doch die wahren Hintergründe bereiten Iwata  Kopfzerbrechen. Handelt es sich um Taten der Triaden, gibt es im privaten Umfeld der Ermordeten Motive oder steckt etwas ganz anderes hinter den Taten? Um den Täter zu stellen, muss Iwata ein hohes Tempo an den Tag legen – denn der Täter ist mit so ziemlich allen Wassern gewaschen.

Mit Schatten der Schwarzen Sonne hat Nicolás Obregón einen wirklich multikulturellen Thriller geschrieben. Obrégon selbst hat eine französische Mutter und einen spanischen Vater. Sein Buch hingegen wurde in Englisch verfasst, ins Deutsche von Thomas Stegers übertragen und in spielt in Japan und China. Wäre dieses Buch ein Fluggast, es hätte wohl so einige Bonusmeilen gesammelt. Obregón erfindet zwar das Rad nicht neu, bietet dafür aber einige spannende Lesestunden.

 

Horst Eckert – Der Preis des Todes

Horst Eckert schaut dahin, wo wir unseren Blick lieber abwenden. Mit seinen Kriminalromanen spürt er gesellschaftlichen Entwicklungen nach und bringt auch Themen aufs Tapet, die sonst eher unpopulär sind. Zuletzt untersuchte er in Wolfsspinne die Verflechtungen von NSU und den aktuellen rechten Bewegungen. In Der Preis des Todes richtet er seinen Blick von Deutschland aus nach Afrika. Genauer gesagt spielt eine große Stadt Afrikas im Buch eine tragende Rolle – die offiziell nicht einmal eine Stadt ist. Die Rede ist von Dadaab, einem der größten Flüchtlingslager der Welt. Dorthin führen die Spuren, denen die TV-Talkerin Sarah Wolf nachgeht.

Diese moderiert eigentlich im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen eine Talkshow. Privat ist sie mit einem parlamentarischen Staatssekretär liiert, was beide zu einem Versteckspiel zwingt. Dramatisch wird es, als ihr Geliebter tot in seiner Berliner Wohnung aufgefunden wird. Sarah zweifelt am offiziellen Tathergang und beschließt, auf eigene Faust die Hintergründe des Todes aufzuklären. Schließlich versteht sie sich ja qua Job aufs kritisches Nachhaken und Analysen. Und so führen sie die Spuren schon bald ins Flüchtlingslager nach Dadaab, wo sie einem Skandal auf die Spur kommt.

Im Gewand des Kriminalromans bietet Horst Eckert eine ungewohnte und betrachtenswerte Perspektive auf die internationalen Fluchtbewegungen. Ist hierzulande die Debatte über Flüchtlinge durch starre Lagerbildung, Meinungskämpfe und viel Geschrei aufgeladen, so bietet dieser Krimi die Gelegenheit, noch einmal einen Schritt zurückzutreten. Eckert bietet Einblicke in das Geschäft mit der Flucht, Lobbyismus und das Treiben hinter den Kulissen einer Talkshow. Relevant und auf Höhe der Zeit!

 

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Lize Spit – Und es schmilzt

Eine Frau fährt mit einem Eisblock in einer Tiefkühlbox durch die flämische Provinz. Wie es dazu kam und was hinter der Aktion steckt, das erklärt Lize Spit in ihrem Debüt Und es schmilzt, das in Belgien sage und schreibe ein Jahr an der Spitze der Bestsellercharts stand.

Spit fährt in ihrem Roman zweigleisig. Die Rahmenhandlung bildet die Kurierfahrt des Eisblocks, die Eva frühmorgens beginnt. Immer wieder springt Spit mit der Angabe der aktuellen Uhrzeit zurück zu dieser Fahrt durch Belgien. Den Hauptanteil nimmt aber ein großer Flashback ins Jahr 2002 ein – es war ein Sommer, der Eva und ihre Freunde immer verändern sollte. Und am Ende dieses Sommers wird dann auch klar, warum sich nun Eva mit dem Eisblock im Gepäck auf den Weg gemacht hat – denn die Vergangenheit zieht ihre Kreise bis in die Gegenwart.

Stellenweise war ich während der Lektüre geneigt, in Lize Spit eine flämische Schwester von Charlotte Roche zu sehen, mit solcher Hingabe blickte sie im Detail auf Bereiche unserer Leben und Körper, die man normalerweise ausspart. Da wird die eigene Sexualität erforscht oder aus abgestanden Pfützen (Kaulquappen inklusive) getrunken. Das Personal ihres Buches sind Metzgersöhne, vernachlässigte Kinder aus dysfunktionalen Familien und generell Menschen, die man gemeinhin mit dem wenig treffenden Ausdruck sozial schwach versieht.

Ein Buch, das herausfordert

Und es schmilzt fordert den LeserInnen vieles ab – die ekligen Szenen sind das eine, zum Ende des Buchs kommen weitere explizite Schilderungen hinzu, auf die hier nicht tiefer eingegangen werden soll, um die Lesefreude nicht zu schmälern. Durch diese Passagen wird das Geschehen dann rund und verfugt die Vergangenheit mit den aktuellen Geschehnissen. Die psychologisch eindringlich gelungenen Szenen berühren und machen nachdenklich – und ließen mich das Buch dann schlussendlich unschlüssig zuklappen.

Stößt das Buch jetzt ab oder fasziniert es? Es ist wohl eine Mischung aus beidem, und darin liegt auch für meine Begriffe der Reiz des Buchs. Die Knausgard’sche Detailfülle entführt den Leser geradewegs zurück in die eigene Teenagerzeit und ruft mannigfaltige Erinnerungen wach. Auch der Kniff um den Eisblock im Kofferraum von Eva ist dazu angetan, den Leser bei der Stange zu halten. Und diese Qualitäten überwiegen für mich in der Endabrechnung trotz einer manchmal zu krassen und plakativen Schilderungswut der jungen Autorin.

Ich prophezeie, dass sich an diesem Buch sicherlich die Geister scheiden werden. Es gibt gute Argumente sowohl für Lobeshymnen als auch für Kritik oder gar Verrisse. Sicherlich ein Buch, das Potential für Debatten hat und das die Diskussionen der Feuilletons in diesem Bücherherbst dominieren könnte – und wie stets empfehle ich gerne, sich auch in diesem Fall einen eigenen Eindruck zu verschaffen und die Meinungen auch gerne hier kundzutun!

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