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Kerstin Brune – Die Jahres des Maulwurfs

Allzu große Kreativität muss sich die deutsche Gegenwartsliteratur nicht vorwerfen lassen. Berlin-Romane gibt es en masse, die Wendezeit wurde literarisch schon dutzenfach abgearbeitet, in jüngster Zeit geht der Trend zum Dorfroman – und auch Coming-of-Age-Geschichten boomen und finden sich dutzendfach in den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken. Nun veröffentlich auch Kerstin Brune mit ihrem Debüt Die Jahres des Maulwurfs einen weiteren solchen Roman, der zugleich Kindheits-Erinnerung als auch Dorfroman ist. Thematisch alles andere als originell ist das Ganze aber sprachlich mit einer interessanten Note versehen.


Die Felder und der Schreckliche Wald dahinter – das hatte ich gelernt – bildeten einen Bannkreis, der jeden Fluchtversuch unterband. Menschen und Dinge konnten nur über die einzige Hauptstraße, die durch den Torbogen im Anwesen des Großbauern Deiwel führte, hineingeschwemmt werden, während im Gegenzug nichts hinausdringen konnte. Was hineingelangte, was da war, blieb, wurde vom Ochsen getränkt, von Bauer Deiwel gefüttert und von seinem Sohn Dirk verprügelt.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 60

Der Ochse so heißt die Kneipe, die als Mittelpunkt des anonymen Dorfs und heimlicher Hauptdarsteller in Kerstin Brunes Debüt fungiert. Hierhin kehren die meisten Dorfbewohner*innen abends ein, wo am Tresen die Aufstellungen für das nächste Match des Fußballsenioren vorgenommen werden oder am Tisch der Träumenden die ermattete Melkerin im Schlummer niedersinkt. Versorgt vom Wirt Wanzé hat sich hier kurz vor der Wende eine feinjustierte Gemeindeordnung etabliert, in die die Erzählerin auf Initiative ihrer Freundin Tanja eindringt.

Bauern, Dorffeste und Reporterlegenden

Wunderliches spielt sich dort vor den Augen der beiden Mädchen ab. So gibt es neben dem amtlichen Bürgermeister und dem eigentlichen Dorfherren, dem Bauernpatron Deiwel, noch die Reporterlegende Dietrich P. Albrecht, die die Bewunderung der Dorfbewohner*innen genießt. Seine Reportagen aus der glamourösen Welt der Stars bringen ein wenig Welthaltigkeit in das Dorf. Albrecht weiß von den Stars der Schwarzwaldklinik genauso zu erzählen wie von der Bonner Republik, in der Albrecht mit Genscher und Konsorten per Du ist.

Auf dem platten, dünn besiedelten Land hatte der massige Reporter dem Dorf mit dem Gewicht seiner Geschichten und der Geschichten Bewohner einen Mittelpunkt geschaffen, um den alle kreisten, mehr als um den Marktplatz vor der Kirche.

Sein Gewicht hatte ein Tal in das Raumzeit-Gitter gedrückt, ein Gravitationsfeld geschaffen, der große Planet aus heißem Gas, von dem Tanja erzählt hatte. Bunt, laut, bierschwer. Er hatte den Dorfbewohnern Weltschmerz gegeben, um Alltagsschmerz zu lindern.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 412

Das bringt Abwechslung in den Alltag, der sich sonst in Dorffesten, Kirchenchor und seiner feststehenden sozialen Hackordnung erschöpft und bei der Meldungen wie das Gladbecker-Geiseldrama nicht nur metaphorisch unberührt durch den Fluss des Dorfes treiben und höchstens den Enten als Nistmaterial dienen.

Doch durch das plötzliche Auftauchen von Tanja im Leben der Erzählerin gerät diese bundesrepublikanische Vorwendezeit in den Hintergrund. Stattdessen dominieren für die beiden Mädchen aufregende Abenteuer, die meist durch Tanjas eigenwillige und unangepasste Art entstehen und bei denen ein toter Maulwurf namens Herr Klotho steter Begleiter der beiden Mädchen ist.

So schleppt Tanja das tote Tier stets mit sich herum, bricht in Häuserrohbauten ein und damit wichtige Verhaltensregeln oder geht mit der Erzählerin auf Entdeckungstouren oder tritt mit der Schulklasse gegen eine bulgarische Turnerinnenmannschaft an, die das Dorf besucht.

Gaby Dohm im Ochsen

Kerstin Brune - Die Jahres des Maulwurfs (Covers)

Das weiß Kerstin Brune in elegischen Buchpassagen zu schildern, die die Mittelpunkte der sieben Buchkapitel bilden. So schildert sie gerade minutiös die Schlacht bei Schnakenbrock, in dem die politisierten Grundschulkinder den Kampf gegen die Joghurtbecher-Schwemme des lokalen Milch-Großproduzenten führen wollen – und doch vorgeführt werden. Auch der Besuch von Schwester Christa – des Schwarzwaldklinik-Stars Gaby Dohm – wird von Brune mit einer Akribie inszeniert, die ebenso beeindruckend wie in meinem Fall leider auch ermüdend ist. Egal ob schiefgelaufene Eröffnung eines Dorfcafés oder Turn-Wettkampf zu Abba-Musik – Kerstin Brune setzt hier weniger auf einen durchgängigen Erzählbogen als auf groß geschilderte Einzelereignisse, an die sich die Ich-Erzählerin erinnert und um die herum der über 460 Seiten starke Roman gebaut ist.

Dabei ähnelt ihre Prosa und Erzählweise etwas der des ebenfalls bei Random House verlegten Sebastian Stuertz und dessen Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Doch neben der bekannten Dorf- und Kindheitsmotivik des Romans, der Brune wenig hinzuzufügen weiß, hat sie als Pluspunkt die Sprache auf ihrer Seite.

Frische Sprachbilder und Sprachkraft

Aus Brunes Buch spricht eine ganz eigene Sprachkraft, in der nicht nur Tanja durch originelle Sprachbilder und Sentenzen zu überzeugen weiß – gehirnlogisch! Brunes Dorfbewohner sprechen in ihren Dialogen Dialekt und immer wieder findet man Formulierungen, die den gängigen und vielfach abgenutzten Sprachbildern zuwiderlaufen und gerade dadurch irritieren und Aufmerksamkeit schaffen.

Das macht dieses Buch dann schlussendlich in meinen Augen auch am interessantesten, denn inhaltlich finde ich Die Jahre des Maulwurfs gerade in Anbetracht der Fülle an thematisch ähnlich gelagerten Büchern tatsächlich eher wenig originell und austauschbar, was man über Brunes Prosa selbst überhaupt nicht sagen kann.

Darüberhinaus lässt sich der Aspekt des unscharfen Blicks auf der Haben-Seite des Buchs verbuchen. Denn neben dem Maulwurf Herr Klotho ist auch die Erzählerin selbst mit einigen Dioptrien geschlagen, die sie stets eine Brille zu tragen zwingen. Der schlierige Blick aus den ungeputzten Gläsern ist auf die Erzählhaltung des Buchs übertragbar, bei der vieles nicht scharfgestellt wird oder konturlos bleibt. So ist auch Tanja, obgleich zweite Hauptdarstellerin, eine Figur, die sich in ihrer Geschichte und Quecksilbrigkeit nicht wirklich greifen lässt und die der Erzählerin auch im Rückblick viele Rätsel aufgibt.

Schön zudem die Klammer des Buchs, die für mich eine Hymne auf das Wirken als Lehrkraft ist (ein Beruf, dem Brune selbst als Pädagogin an einem Gymnasium nachgeht). Hier hat das Buch wirklich eine Kraft und Pointierheit, die ich mir auch in manchen der ausufernden Beschreibungspassagen gewünscht hätte.

Fazit

Ist man mit Kindheits- und Dorfromanen aus deutscher Feder nicht schon hoffnungslos übersättigt (wie ich es aktuell leider bin), dann bekommt man hier einen sprachlich frischen und originellen Roman, der den Kosmos eines Dorfes genau untersucht, in elegisch geschilderten Kindheitserinnerungen versinkt und der auch Gaby Dohm endlich einmal ausgiebig würdigt.


  • Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs
  • ISBN 978-3-328-60181-4 (Penguin)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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Selene Mariani – Ellis

Schon das Cover von Selene Marianis Debüt Ellis macht klar: hier geht es um Teilung, Hälften, aber auch das Verbindende, das unsere Persönlichkeiten ausmacht. In ihrem Debüt erkundet die 1994 geborene Autorin tastend und springend das Leben ihrer Protagonistin Ellis und deren Freundin Grace. Ein interessant montiertes Porträt einer prägenden Freundschaft.


„Das beste Lied der Welt“, sagt Grace.

„Oh ja“, sage ich, und ihr Lächeln spiegelt sich in meinem Gesicht.

„Du magst sie auch?“ Grace hält mir begeistert das Cover hin.

„Klar“, sage ich und schaue darauf. „Kim“, lese ich laut.

„Langsam wird das unheimlich“, sagt Grace begeistert. „Wir sind ja ein und dieselbe Person.“

Selene Mariani – Ellis. S. 87

Sind sie das wirklich, ein- und diesselbe Person, die sich da in ihren Gesichtern spiegeln? Oder sind Grace und Ellis in Wahrheit nicht zwei ganz unterschiedliche Hälfte, die doch einander bedingen und brauchen? Um diese Frage kreist Selene Mariani in ihre Roman, der die Zerrissenheit der Ich-Erzählerin Ellis schon in der Struktur des Buchs selbst findet. Denn Mariani springt wild durch die Lebensjahre von Ellis – und wechselt auch zwischen dem Schauplatz Deutschland und Italien hin und her. So findet man sich nach knappen eineinhalb Seiten in Deutschland 2015 auf den nächsten Seiten schon wieder im Italien des Jahres 2019. Kurze Kapitel mit deutlichen Sprüngen markieren den Rhythmus des Textes.

Zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland

Nachdem sie mit ihrer Mutter nach Deutschland gezogen ist, besucht sie zu Anfang der 2000er Jahre die Schule. Während die No Angels tausende von jungen Mädchen faszinieren und träumen lassen – darunter auch Ellis – ist die Schule alles andere als ein Ort für Träume. Ellis wird gemobbt und ausgegrenzt – bis eines Tages ein neues Mädchen das Klassenzimmer betritt und gleich darauf Freundschaft mit Ellis schließt. Ihr Name ist Greta – genannt Grace – die zudem im gleichen Haus wie Ellis und ihre Mutter wohnt.

Selene Mariani - Ellis (Cover)

Im Jahr 2019 nun läuft Grace fast in Ellis hinein, als diese auf offener Straße für ein Unternehmen Unterschriften einwerben soll. Nach Jahren des Schweigens und der Distanz begegnen sich die beiden Frauen so wieder, was Selene Mariani als Rahmenhandlung die Möglichkeit gibt, in hingetupften Erinnerungsfragmenten der Beziehung der ehemaligen Freundinnen nachzuspüren. So erhält man Stück für Stück Einblick in die komplizierte Bindung der beiden Frauen, die von Schulzeiten über einen Urlaub in Italien bei Ellis‘ Großeltern bis hinein in die erzählte Gegenwart reicht, als sie sich beide langsam wieder annähern.

Dabei ist die Dichotomie stetes Erzählprinzip. Angefangen beim Cover reicht die Spiegelung der Dinge von Offensichtlichem bis hinein in kleinste Details. So lebt Ellis zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland hin- und hergerissen, hat mit Grace eine zweite für sie spiegelgleiche Hälfte entdeckt, besucht mit dieser Verona (mit seinem berühmten Balkon und Liebespaar) und darf ganz knapp vor Ende des Buchs auf Seite 147 dann noch Mulino Bianco-Kekse futtern. Es sind jene Kekse, die mit einer je einer hellen und einer kakaofarbenen Hälfte dann doch wieder einen Kreis ergeben. Immer wieder finden sich solche Stellen, die Interpretationen erlauben und vielgestaltig gelesen werden können.

Zerrissenheit und nicht gesagte Dinge

Ellis ist aber auch ein Roman, der vom Schweigen, von den nicht gesagten Dingen handelt, die man verdrängt oder die sich in der Rückschau verformen. Durch die spartanische und pointillistische Erzählweise Selene Marianis eröffnen sich genau dafür Freiräume, da sie die Ausdeutungen und Wertungen den Leserinnen und Lesern überlässt.

Das ist ein spannendes Erzählkonzept, das bei mir leider nicht in Gänze verfangen hat. Denn mir waren die Interpretationsräume etwas zu groß und das Erzählte zu wenig, als dass dieses Debüt in meinem Kopf Luftwurzeln geschlagen hätte, wie es im Buch an einer Stelle heißt (womit Mariani en passant dem Geburtstagskind Novalis die Ehre erweist).

Die Idee, die Zerrissenheit der Protagonistin durch die Struktur des Textes abzubilden, ist durchaus lobenswert, erwies sich für mich aber auch als kleiner Schwachpunkt des Ganzen.

Persönlich hätte ich mir noch etwas mehr Tiefe in der Schilderung der Beziehung gewünscht, noch intensivere Blicke in das Seelenleben von Ellis, das an allen Stellen, an denen es interessant werden könnte, gleich wieder abbricht, um an einem anderen Ort und anderen Jahr wieder neu anzusetzen. Auch das Ende in seiner Abruptheit ließ mich etwas überrascht zurück – aber im erzählerischen Mut ist das Buch natürlich zu loben.

Fazit

Von persönlichen Einwänden und Geschmacksurteilen abgesehen ist Ellis ein in seiner Knappheit und seiner Affinität zu interpretatorischer Vielgestaltigkeit interessantes Debüt, das der Wallstein-Verlag hier präsentiert. Selene Mariani überzeugt mit Zurückhaltung, Mut zu erzählerischen Leerstellen und gibt Einblick in das Seelenleben einer Deutsch-Italienierin, die sich selbst nicht immer gewiss ist.


  • Selene Mariani – Ellis
  • ISBN 978-3-8353-5152-3 (Wallstein)
  • 147 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Fatma Aydemir – Dschinns

Im letzten Jahr feierte das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei seinen 60. Jahrestag. Medienberichte beschworen noch einmal die Zeit herauf, als Türk*innen als „Gastarbeiter“ gelabelt die deutsche Industrie voranbrachten, ihnen jedoch lange Zeit Anerkennung und Wertschätzung versagt blieb. Als billige Arbeitskräfte waren die Türk*innen in der Wirtschaftswunderzeit willkommen, aber als Mitbürger wollte man sie doch nicht bezeichnen.

Und auch wenn türkisches Leben heute aus Deutschland nicht mehr wegzudenken ist und sichtbarer geworden ist, war es doch ein schwieriger Weg der Assimilierung und der gesellschaftlichen Akzeptanz. Sechzig Jahre ist das Anwerbeabkommen her. Genauso lange hat es auch gedauert, bis ein Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund am Kabinettstisch Platz nehmen durfte. Wie lang und steinig dieser Weg war, das lässt sich nun auch in Fatma Aydemirs großartigem neuen Buch Dschinns nacherleben und erfühlen.

Wir riefen nach Arbeitskräften, doch es kamen Menschen

Fatma Aydemir - Dschinns (Cover)

Der berühmte Ausspruch von Max Frisch lässt sich auch auf Aydemirs Buch übertragen, denn hier sind es sechs ganz unterschiedliche Menschen und deren Leben, die die 1986 geborene Autorin in den Mittelpunkt stellt. Den Anfang und das Ende des Buchs bilden dabei Hüseyin und Emine Yilmaz, die die Leben ihrer vier Kinder rahmen. Jedem der vier Kinder ist jeweils ein Kapitel im Mittelteil gewidmet.

Alles beginnt mit Hüseyin, der es endlich geschafft hat. Im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen hat er zeit seines Lebens hart gearbeitet, um seine Familie zu ernähren. Stets hat ihn dabei der Traum eines eigenen Zuhauses begleitet. Diesen Traum hat er sich nun mit Beginn des Ruhestandes erfüllt. In Zeytinburnu, einem Stadtteil Istanbuls, hat er sich eine Wohnung gekauft und diese mit all dem Luxus versehen, den es in Deutschland in der engen Unterkunft seiner Familie nie gab. Ein Balkon, eine schöne Aussicht, teure Möbel.

Alles ist angerichtet für einen komfortablen Lebensabend in seiner Heimt – doch Hüseyin wird ihn nicht mehr erleben. Noch bevor seine Familie die Wohnung in Augenschein nehmen kann, stirbt Hüseyin in seinen eigenen vier Wänden. Am Totenbett kommen sie nun alle zusammen, seine vier Kinder Ümit, Perihan, Hakan, Sevda und seine Ehefrau Emine. Der Tod bringt die fünf Menschen wieder zusammen – und lässt unterschiedliche Lebensentwürfe auf engstem Raum kollidieren. Denn wenn es etwas gibt, das diese Familie verbindet, dann sind es ihre Unterschiede.

Zwei Eltern, vier Kinder, unzählige Unterschiede

Da ist Sevda, die Erstgeborene, die von ihren Eltern erst spät aus der Türkei nach Deutschland nachgeholt wurde. So etwas wie Mutterliebe hat sie nicht erfahren, eher prägten Unverständnis und Ignoranz von seiten der Eltern das Verhältnis, aus dem sie sich durch Abnabelung befreit hat. Ümit, der jüngste der vier Geschwister, kämpft mit seiner Liebe zu einem gleichaltrigen Jungen und soll therapiert werden. Perihan, genant Peri, stürzt sich eher in Abenteuer, konsumiert Drogen und schreibt eine Arbeit über Nietzsche, während Hakan den unangepassten Revoluzzer gibt. Illegale Graffitis, Breakdance, Widerstand gegen die Obrigkeit und Familie, von der er sich nicht verstanden fühlt.

Alle vier Kinder Hüseyins verkörpern geradezu archetypisch die Biografien vieler Kinder mit Migrationshintergrund, die zu ganz unterschiedlichen Rollen in der Gesellschaft gefunden haben. Anpassung oder Widerstand, tradierte Rollenbilder oder Emanzipation – alle unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen sind in der Familie Yilmaz durchdekliniert.

Den Abschluss bildet dann Emine, die vor dann wie all ihre Kinder zuvor einen ganz eigenen Blick auf ihre Beziehung mit Hüseyin und ihre Kinder hat. Unverständnis, ererbte Vorstellung und Hilflosigkeit prägen das Miteinander der ersten und zweiten Generation, das sich vor allem im Streitgespräch zwischen ihr und ihrer Tochter Sevada Bahn bricht. Goßartig gelingt es Fatma Aydemir, diese unterschiedlichen Lebensentwürfte und Sichtweisen miteinander agieren zu lassen.

Sie stellt die Ansichten nebeneinander, enthält sich aber einer Bewertung und überlässt diese den Leser*innen. Alle Sichten haben ihre Existenzberechtigung und so etwas wie einen falschen oder richtigen Lebensentwurf gibt es nicht. Das Leben mit Migrationshintergrund ist pluralistischer und diverser, als es uns in diesen populistischen Zeiten oftmals glauben gemacht werden soll. Damit ist aber längt auch noch nicht gut, denn es gibt viel zu tun, bis der Weg zur Gleichheit und Geichstellung erreicht ist, wie dieses engagierte Buch zeigt.

Von der Akzeptanz des vermeintlich anderen

Noch immer sind Menschen mit (türkischem) Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit wenig sichtbar, auch wenn über 2,8 Millionen Menschen einen türkeistämmigen Hintergrund haben (so zumindest der letzte Stand aus dem Jahr 2018). Die Bildungs- und Aufstiegschancen sind geringer – und wer hierzulande eine Wohnung sucht, und Yilmaz oder Hakanoglu heißt, auch der hat es schwerer. Da sind die Worte von Ex-Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Festaktes zum 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens ein hehrer Wunsch, dem die Realität noch nicht standhält.

Denn die Frage ist: Wie lange muss man, wenn man einen Namen hat, der erkennbar nicht deutschen Ursprungs ist, sich eigentlich integrieren, bevor man integriert ist? Da, finde ich, muss jeder auch die Chance haben, spätestens mit der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft als Teil dieses Landes angesehen zu werden. Da darf der Name dann keine Rolle mehr spielen.

Angela Merkel in ihrer Rede zum Festakt des Anwerbeabkommens am 31.08.2021

Wie komplex es ist, zwischen zwei Ländern und Ethnien aufzuwachsen, das zeigt sich in Dschinns eindrücklich. Die Kämpfe um einen Platz in der Gesellschaft und die Akzeptanz des eigenen Ichs, sie dekliniert Fatma Aydemir hervorragend durch und zeigt, wie die Frage der Herkunft oftmals noch das entscheidende Kriterium ist, das unser Leben bestimmt. Besonders in der Lebensgeschichte von Peri wird dies klar, da sie besonders die um die Frage ihrer Herkunft und mögliche kurdische Wurzeln ihrer Familie kreist.

Verständnis für das vermeintlich Fremde

Wer Dschinns liest, der bekommt Verständnis für das vermeintlich Fremde und erkennt, wie deplatziert die Abwertung oder Ausgrenzung anderer Menschen ist, die womöglich anders heißen oder aussehen, als man das es selbst kennt. Dieses Buch ist zutiefst humanistisch in seinem Kampf für mehr Verständnis und Toleranz und ein echter Empathie-Booster.

Wer Fatma Aydemirs Buch liest, dem wird klar, dass es die Frage nach dem richtigen Leben, der Emanzipation und dem Finden eigener Werte und eines Kompasses ist, die uns über alle vermeintlichen Grenzen hinaus eint – auch im Kampf mit der eigenen Familie.

Und auch wenn die Handlung des Buchs im Jahr 1999 spielt, so bleibt doch ein Gefühl der Zeitlosigkeit zurück was diese Fragen und unser aller Bedürfnis nach Individualität und einem Platz im Leben angeht.

Zudem ist das Buch auch literarisch spannend gearbeitet. So wählt Fatma Aydemir für die erste und zweite Generation unterschiedliche Erzählperspektiven und lässt auch die Frage stehen, wer die Dschinns nun sind, die das Leben der Yilmazens beeinflussen. Ist es eine Figur, die sich erst spät im Gespräch offenbart, sind es wirklich Geister in der Istanbuler Wohnung oder doch noch einmal eine ganz andere Erzählinstanz? Hier neigt Aydemirs Buch genauso wie in der Bewertung der unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht zu einer eindeutigen Antwort – was ich sehr goutiere.

Fazit

So ist Dschinns ein enorm starker Frühjahrstitel, der Lebenswürfe und die Frage der eigenen Identität gekonnt verhandelt. Fatma Aydemir erzählt von einer Familie, die ihre Unterschiede eint und zeigt, welch langer Weg hinter der deutschen und türkischen Gesellschaft in diesem Land liegt – und welcher noch zu gehen ist. Ein literarisch wie thematisch überzeugender Roman mit humanistischem Kern, der zwar anders als Aydemirs 2017 erschienenes Debüt Ellenbogen gearbeitet ist – aber erneut wieder überzeugend um die Frage von Herkunft und Identität von Deutsch-Türk*innen kreist.


  • Fatma Aydemir – Dschinns
  • ISBN 978-3-446-26914-9 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €

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Ein Schrumpfkopf erzählt

Jan Koneffke – Die Tantsa-Memoiren

Als Gregor Tstantsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schrumpfkopf verwandelt.

So verballhornt könnte man eine Pointe des an Pointen nicht armen Romans von Jan Koneffke zusammenfassen. Denn im neuesten Roman des 1960 geborenen Autors und Übersetzers begegnen wir einem mehr als außergewöhnlichen Erzähler. Es handelt sich um einen sprechenden Schrumpfkopf, auch genannt Tsantsa, der uns hier seine Tsantsa-Memoiren präsentiert.

Dabei erfährt der sprechende Schrumpfkopf im venezuelanischen Cumaná um 1780 seine Erweckung durch einen sprechenden Ara. Dieser ist neben einem Affen und einem Jaguar eines der Haustiere, die sich Don Francisco in seinem herrschaftlichen Haus hält. Jener Don Francisco stammt eigentlich aus Spanien, ist nun in Venezuela allerdings im Dienst der spanischen Krone abgeordnet. In seinem Dienstzimmer baumelt auch der Schrumpfkopf, der sich untätig im Wind wiegt, ehe der Ara in sein Leben tritt. Dessen Spracharabesken stimulieren die kognitiven Fähigkeiten des Schrumpfkopfs. Und damit nicht genug. Neben der Gabe des Verstandes erwacht auch die Fähigkeit zum Sprechen des Tantsa – was dann postwendend gleich einmal für den Tod Don Franciscos sorgt.

In der Folge beginnt eine wahre Odysee, die uns der sprechende Schrumpfkopf weitestgehend chronologisch erzählt. Eine Odyssee, die bis ins Augsburg dieser Tage führt.

Von Südamerika bis nach Augsburg

Der Schrumpfkopf gelangt von Südamerika nach Europa, verlebt einige Zeit in Rom, gelangt nach Bamberg, Norddeutschland, reist im Gepäck von Scharlatanen, Bahningenieuren und erlebt Hinrichtungen, Kriege und den technischen Fortschritt. Ebenso wechselvoll wie seine Provenienz ist auch die seiner Besitzer*innen und deren Absichten mit dem Tsantsa. Mal wird er im Dienste der Wissenschaft gemartert, mal in London im Zuge der Weltausstellung im Crystal Palace als Kuriosum gezeigt. Immer wieder erlebt der Schrumpfkopf neue Abenteuer und erfährt so verschiedene Jahrhunderte aus einer ganz eigenen Perspektive.

Jan Koneffke - Die Tsantsa-Memoiren (Cover)

Koneffke lässt seinen Tansta dabei ein antiquiertes Deutsch sprechen, der Schrumpfkopf selbst gibt Auskunft, dass er ein um 1820 gebräuchliches Idiom gebraucht. Sprachlich werden uns so sehr elaboriert die Abenteuer geschildert, die in ihrer thematischen und zeitlichen Fülle ein höchst abwechslungsreiches Leseerlebnis ergeben.

Ein abwechslungsreiches Leseerlebnis, in das sich leider mit zunehmender Zeit tatsächlich dann aber auch einige kleine Längen einschleifen. Koneffke weicht dann allerdings auf einen Trick aus, indem er mithilfe der Psychoanalyse den Schrumpfkopf seine eigene Geschichte und Herkunft ergründen lässt. Diese liegt zu Beginn des Buchs nämlich noch im Dunkeln.

Erst allmählich lichtet sich das Dunkel um das Vorleben des Schrumpfkopfs, ehe er dann dieser Tage in Augsburg seinen Moment der Rückführung erlebt.

Zwar hätten ein paar Straffungen im Text speziell ab der Hälfte des 560 Seiten starken Romans gutgetan. Durch seine Fabulierfreude und den Erfindungsreichtum gleicht Koneffke dieses Manko in meinen Augen aber aus. Und mit der Erfindung seines besonderen Erzählers ist dem Autor ein wirklicher Coup gelungen. So viel Fabulierfreude liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten.

Fazit

In der Gesamtheit ist Jan Koneffke ein bunter, ja geradezu barocker Bilderbogen mit einem ganz besonderen Erzähler gelungen. Ein sprachlich ansprechender Unterhaltungsroman, der durch seine opulente Fülle an Themen und zeitgeschichtlichen Momente besticht.


  • Jan Koneffke – Die Tsantsa-Memoiren
  • ISBN 978-3-86971-177-5 (Galiani)
  • 560 Seiten. Preis: 24,00 €

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