Tag Archives: England

Paula Hawkins – Girl on the train

Als Pendler kennt man das Problem zur Genüge – der Halt auf freier Strecke oder an einem bestimmten Haltesignal. Der Blick zum Fenster hinaus befeuert da schon schnell einmal die Fantasie – was verbergen die Landschaft oder die Häuser da draußen? Der Pendlerin Rachel in Paula Hawkins Debüt Girl on the train geht es da nicht anders.

Abgründe hinter den Fassaden

Jeden Tag nimmt Rachel den Zug aus ihrem Vorort hinein nach London. Beim stets gleichen Stopp hat sie inzwischen schon Routine entwickelt, ein Pärchen zu beobachten, das eine Bilderbuchexistenz führt. Sie beobachtet die beiden und fühlt sich ihnen verbunden, als plötzlich eines Tages die Frau verschwunden ist.


Aus ihren Erinnerungen rekonstruiert Rachel, dass sie in der Nacht zuvor begegnet ist. Doch an die entscheidenden Stunden fehlen ihr sämtliche Erinnerungen. Rachel ist nämlich Alkoholikerin und hat einen Filmriss, was die Zeitspanne des Verschwindens der jungen Frau angeht. Sie weiß nur noch, dass sie blutverschmiert nach Hause kam und irgendetwas geschehen sein muss. Verzweifelt beginnt sie nachzuforschen und kommt hinter die Geheimnisse der Vorortbewohner.

Durch ihr Interesse für die Geschehnisse der entsprechenden Nacht und alle Beteiligten gerät Rachel allerdings auch in den Fokus der Polizei. Was hat Rachel mit dem Verschwinden der Frau zu tun und welche Geheimnisse hütet der Ehemann der Verschwundenen?

„Gone Girl II“?

Während der Lektüre von Paula Hawkins Debüt kamen mit oftmals die Parallelen zu Gillian Flynns Blockbuster-Erfolg Gone Girl in den Sinn. Hawkins erzählt aus drei Frauenperspektiven abwechselnd und enthüllt Stück für Stück die Geheimnisse, die die Frauen (und nicht nur diese) hüten. Die Abgründe hinter den Fassaden sind frappant – jede der Frauen wahrt dunkle Geheimnisse.

Dabei sind die Figuren in Girl on the train nicht unbedingt sympathisch. Gerade die Alkoholikerin Rachel strapazierte des Öfteren meine Geduld – am Ende fügt sich aber alles logisch. Allerdings lässt sich auch nicht bestreiten, dass die Geschichte (ebenso hier eine Parallele zu Gone Girl) sehr konstruiert wirkt, einige Unwahrscheinlichkeiten muss der Leser in Kauf nehmen – durch die flotte Schreibe Paula Hawkins fällt dies allerdings nicht weiter ins Gewicht.

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Hakan Nesser – Die Lebenden und die Toten von Winsford

Eine Frau, ein Hund und viel englischer Nebel – dies sind die Hauptkomponenten in Hakan Nessers neuem Roman Die Lebenden und die Toten von Winsford. Nach Himmel über London bleibt der Schwede Nesser nun in England, auch wenn das neue Buch in der englischen Provinz in Cornwall angesiedelt ist.


Maria Andersson: so nennt sich die Frau, die sich im kleinen Dorf Winsford niedergelassen hat. Einen Hund hat sie im Gepäck – und vor allem einige Geheimnisse, die erst langsam ans Tageslicht drängen. Früher hat diese Maria Andersson beim Fernsehen gearbeitet, nun schützt sie allerdings vor, ein Buch zu schreiben. Sie bezieht ein zugiges Cottage und fasst langsam im Dorf Fuß. Ihre Tage werden von Routine bestimmt. Den Hund ausführen, den lokalen Pub besuchen und darauf hoffen, dass die Dorfbewohner nicht hinter die Geheimnisse kommen, die sie so sorgsam hütet.

Eine Frau mit einem Geheimnis

Hakan Nesser - Die Lebenden und Toten von Winsford (Cover)

Genauso wie den Dorfbewohnern ergeht es auch dem Leser. Überlegt man zunächst noch, was die Schwedin von der Geschäftigkeit Stockholms ins ländliche England verschlägt, so kommt man schon bald den Geheimnissen der geheimnisvollen Fremden auf die Spur.

Ist sie vor jemandem auf der Flucht? Welches Schicksal hat die Schwedin in die Provinz gebracht?

Die Idee, die hinter „Die Lebenden und Toten von Winsford“ stehthat durchaus seinen Reiz: Eine Frau, die ein Geheimnis hütet und dieses erst allmählich ans Licht gezerrt wird – dieses Motiv in den Händen von Hakan Nesser, da kann eigentlich nichts schief gehen.

Verschwunden im englischen Nebel

Leider stellt sich mit Fortschreiten des Buchs ein gewisses Gefühl der Redundanz ein. Ähnlich wie mit der Monotonie und Einöde der englischen Landschaft, in der sich Maria befindet geht es dem Leser auch an einigen Stellen. Zahllose Wiederholungen des Wetters und der Beschreibung der Spaziergänge Marias sind nicht gerade dazu angetan, die Spannung des Buchs zu erhöhen. Um einen Krimi handelt es sich bei Die Lebenden und die Toten von Winsford eh nur im weiteren Sinn. Spannung kommt erst im letzten Drittel des Buches auf, das Buch überzeugt vielmehr durch seine dichte Atmosphäre, die Nesser hervorragend einzufangen weiß.

So ist das neue Buch des Schweden eher die Psychostudie einer getriebenen Frau als ein Spannungsroman. Für alle Liebhaber von England und im Speziellen von Cornwall ist dieser Titel auch auf jeden Fall eine Empfehlung wert!

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Michael Robotham – Erlöse mich

Der Stalker

Zum nunmehr neunten Mal lässt der gebürtige Australier Michael Robotham den Ex-Cop Vincent Ruiz und den Psychologen Joe O’Loughlin auf Londons Straßen ermitteln.
Erlöse mich heißt der neue Fall, der die beiden gegensätzlichen Charaktere über Gebühr beschäftigt.

Eine geheimnisvolle Patientin

Erloese mich - Michael Robotham

Erloese mich – Michael Robotham

Der Parkinson-geschwächte Psychologe Joe O’Loughlin hat eine ganz besondere Patientin in Behandlung, deren Schicksal ihn nicht loslässt. Marnies Gatte verschwand vor einem Jahr spurlos und seitdem befindet sich Marnie in Behandlung bei Joe.

Der Verlust ihres Gatten beschäftigt sie schwer. Für ihre Kinder muss sie eine gute Mutter sein und ihnen einen normalen Alltag bieten.
Doch durch das Fehlen ihres Ehemanns ist Marnie schwer traumatisiert und hat manchmal das Gefühl, als würde sie jemand beobachten. Doch wie real ist das Gefühl eines Verfolgers im Leben der jungen Mutter? Joe O’Loughlin muss mit seinen Zweifeln kämpfen – gibt es den Verfolger in Marnies Leben wirklich?
Zusammen mit dem alten Haudegen Vincent Ruiz ermittelt Joe und kann seinem eigenen Urteil manchmal gar nicht so richtig trauen.
Schon bald sollen alle Beteiligten erfahren, was Realität und was Fiktion ist.

Ein gelungenes Verwirrspiel

Die Reihe rund um Joe O’Loughlin und Vincent Ruiz finde ich deshalb so spannend, weil man nie so richtig weiß, was man bekommt. Mal schreibt Robotham einen astreinen Psychothriller (wie etwa das großartige Dein Wille geschehe oder eben auch Erlöse mich), dann gibt es wieder einen Verschwörungsthriller á la „Auf der Flucht“ (z.B. Bis du stirbst oder Der Insider). Stets schnürt Robotham eine Wundertüte, bei der das Geschehen mal aus der Warte von Vincent Ruiz geschildert wird, um dann im nächsten Buch wieder von Joe O’Loughlings Warte das Geschehen zu betrachten.
Im vorliegenden Band spielt neben Marnie ganz klar Joe O’Loughlin die Hauptrolle, der klären muss, ob es den mysteriösen Stalker wirklich gibt.  Der besondere Reiz, den Erlöse mich ausmacht ist das permanente Schwanken zwischen Glaube und Unglaube, was Marnies Verfolger angeht. Wie real ist die Bedrohung, die sie empfindet?
Michael Robotham weiß gekonnt mit seinen Lesern zu spielen. Besonders bis zum fiesen Cliffhanger hin dreht er unerbittlich an der Spannungsschraube und sorgt so dafür, dass der Leser unbedingt wissen will, welche Auflösung der Autor bereit hält.

Die Klasse, die „Dein Wille geschehe“ besaß, erreicht das Buch leider nicht, in der Reihe aber einer der definitiv stärkeren Titel. Deshalb sei an dieser Stelle eine große Leseempfehlung ausgesprochen!

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Kevin Barry – Dunkle Stadt Bohane

Die Stadt des Wahnsinns

Ein Buch, bei dem der Übersetzer im Nachwort seine Übertragung erklärt und dem Leser nahebringt, dass das Buch in der Übersetzung für den deutschen Leser leichter verständlich ist als für den Leser, der das englische Original vor sich hat – das gibt’s nicht? Doch das gibt’s. Das Buch heißt Dunkle Stadt Bohane und geschrieben hat es Kevin Barry

Die schmutzige Stadt

Worum geht es in „Dunkle Stadt Bohane“? Bei dem Versuch das 300 Seiten starke Buch zu subsumieren stößt man bereits auf erhebliche Schwierigkeiten – zu divers und vielfältig sind die Plots und Erzählstränge, die Kevin Barry in seinem Debütroman verwebt.
Das Grundkonstrukt allerdings macht jedem Western alle Ehre – ein Gangster namens Logan Hartnett herrscht im Jahre 2053 über Bohane, die auf einer Halbinsel gelegene zersiedelte Stadt, die dem Fluss Bohane ihren Namen verdankt. Die korrupte, schmutzige und zutiefst verkommene Stadt vegetiert vor sich hin, bis ein alter Bekannter – der Gant – wieder in seine Heimat zurückkehrt. Die Liebe zu Logans Gattin Macu und der Wunsch nach Rache treiben ihn zurück nach Bohane.
Derweil sinnen die verfeindeten Stadtteile Bohanes auf eine große Fehde, Verräter schleichen durch die Gassen, die Polizei schaut weg, wenn das organisierte Verbrechen zuschlägt und einige Protagonisten wollen aus dem Schlamassel ihren ganz eigenen Vorteil ziehen.

Eine einzigartige Sprache

Wenn man „Dunkle Stadt Bohane“ liest, dann scheint es, als hätte Kevin Barry diverse Dystopien, „West Side Story“, „Mad Max“, ein paar Western-Klassiker, Scorseses „The Departed“, die Bücher Mario Puzos und dergleichen mehr zusammen verquickt, durch den literarischen Fleischwolf gedreht und das Ergebnis im irischen Literaturinstitut unter Leitung von James Joye zum Redigieren abgegeben. Ein kaum in Worte zu fassendes (und manchmal auch arg anstrengendes) Konglomerat aus Bezügen, Anspielungen und Referenzen ist „Dunkle Stadt Bohane“ geworden.
Kevin Barry                                                        (c) The Guardian
Der mit reichlich Preisen ausgezeichnete Debütroman (unter anderem der IMPAC Dublin Literary Award, der Rooney Prize for Irish Literature, der Authors’ Club Best First Novel Award und der European Union Prize for Literature wurden dem Buch zugesprochen) zeichnet sich neben seiner inhaltlichen Fülle und Variation vor allem durch seine Sprache aus.

Die unterschiedlichen Bewohner der Stadtteile sprechen verschiedenste Slangs, von der Hochsprache bis hin zum Gossensprech ist alles mit dabei. Dies macht „Dunkle Stadt Bohane“ manchmal unglaublich schwer zu lesen, fasziniert muss man aber auch die Übersetzungsleistung von Bernhard Robben (er übertrug u.a. John Williams‘ Stoner und Ian McEwans Abbitte) anerkennen.

Er schafft es, im Deutschen die Dialekte und Sprachvariationen mit einer ganz eigenen Sprachenkreation zu würdigen.
Erhellend auch das Nachwort des Autoren und des Übersetzers, die dazu animieren, sich mit dem Gelesenen noch einmal zu beschäftigen, Bezüge und Referenzen zu suchen. Auch erklärt hier Bernhard Robben seine Schwierigkeiten bei der Übertragung der Sprache von Kevin Barry, da es für das vom Autoren verwendete Irisch kaum eine Möglichkeit gibt, mit der die Sprachfülle des Originals abgebildet werden kann. Somit verschlanken sich im Deutschen die Ausdrücke und die Sprachen, die die Protagonisten sprechen, was wiederum dazu führt, dass man das Buch in seiner  deutschen Übersetzung eher versteht. Kurios aber durchaus plausibel.
Wer Freude an experimenteller Literatur, besonderen Übersetzungen und Soziolekt hat, der sollte „Dunkle Stadt Bohane“ oben auf seine Leseliste packen. Alle anderen, die sich einen klar strukturierten Thriller erhoffen, der sie abschalten lässt, sollten lieber zu einem anderem Buch im Krimiregal greifen.

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Ian McEwan – Kindeswohl

Down by the salley gardens …

Der britische Schriftsteller Ian McEwan legt mit Kindeswohl ein Buch vor, das zwischen Juristerei, Liebe, Musik und Verantwortung oszilliert. Sein neuer Roman ist zwar äußerlich nicht umfangreich (gerade einmal 220 Seiten zählt das von Werner Schmitz übersetzte Buch), dafür aber sehr gehaltvoll. McEwan erzählt von Fiona Maye, einer circa 60-jährigen Richterin, die am High Court als Familienrichterin ihren Dienst mehr als korrekt versieht. Von Kollegen für ihr brillant formulierten Urteile geschätzt, hat sie nicht nur in ihrem Gerichtssaal alles unter Kontrolle, bis sie sich eines Tages auf das Minenfeld der Liebe begeben muss. Ihr Mann beklagt das eingeschlafene Eheleben des Paares, weshalb er von Fiona das Eingeständnis einfordert, sich eine Geliebte nehmen zu dürfen. Zudem ist Fiona beruflich auch noch mit einem hochdiffizilen Fall eines siebzehnjährigen Zeugen Jehovas konfrontiert, der eigentlich einer Bluttransfusion bedürfte, diese aus Glaubensgründen jedoch ablehnt. Die geordneten Verhältnisse Fionas geraten zunehmend außer Kontrolle …

Komplizierte Frauengestalten sind ja die Spezialität Ian McEwans – und in Kindeswohl zeigt er seine Meisterschaft im Entwerfen solcher Figuren erneut. Seine Richterin Fiona Maye ist eine ambivalente Figur, der man gerne durch die Gerichts- und Gedankengänge folgt und die auch nach der Lektüre noch im Gedächtnis des Lesers bleibt. Dem britischen Großautoren ist es auch hoch anzurechnen, dass in seinen fachkundigen Händen die Juristerei zu einer wunderbar zu goutierenden Prosa gerät. Ebenso wie die Gesetzgebung durchzieht die Musik den Roman unaufdringlich und verwebt so die akustischen, philosophischen, juristischen und amourösen Gedanken der Protagonisten zu einem dichten Netz, das auch allen Nicht-Juristin gerne empfohlen werden kann. Ein wunderbar geschriebener Roman mit einem nicht alltäglichen Thema, das durch die Schreibe Ian McEwans zu großer Literatur wird und den Leser grübelnd ob dem Gelesenen zurücklässt.

Mittlerweile gibt es auch eine Verfilmung mit Emma Thompson in der Rolle von Richterin Fiona Maye. Hier ein Trailer für einen Eindruck der Leinwandadaption:

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