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Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung

Mit seiner Novelle Der Frühling der Barbaren stellte sich Jonas Lüscher im Jahr 2013 kraftvoll auf dem Literaturmarkt vor und erzählte von den Entgleisungen des Kapitalismus und gesellschaftlicher Dekadenz. Sein nächster Wurf Kraft blieb nicht nur eine titelgebenden Behauptung, sondern zeigte ebenjene Kraft auch literarisch im Inneren des Buchs, in dem Lüscher enorm unterhaltsam das Taumeln und den Fall eines Mannes im akademischen Betrieb zeigte. Dafür wurde ihm neben viel Kritikerlob (mich eingeschlossen) im Jahr 2017 auch der Schweizer Buchpreis zugesprochen.

Umso erstaunlicher ist jetzt das, was Lüscher unter dem Titel Verzauberte Vorbestimmung als Einstand bei seinem neuen Verlag Hanser fabriziert hat.


Schlägt man das von einem Ausschnitt des Gemäldes The leader of the luddites geschmückte Buch von Jonas Lüscher auf, so stößt man auf ein Zitat des Autors und Sängers PeterLicht. Dieser behauptet darin , dass es die Technik wie die Liebe seien, die uns retten würden. Ein Maschinenstürmer auf dem Cover und das Vertrauen auf ebenjene von den Maschinenstürmern bekämpfte Technik, und das im Abstand von nur wenigen Seiten. Es ist ein Widerspruch, der dem Ganzen innewohnt und er auch alles Folgende in Verzauberte Vorbestimmung kennzeichnen wird.

Denn wer einen roten Faden in Lüschers Werk sucht, der wird nicht fündig werden. Stattdessen dominiert ein Vielerlei aus Themen und Motiven, die über 340 Seiten nicht zusammenfinden und den Eindruck eines nicht einmal in Ansätzen konsistenten und reichlich überladenen Erzählwerks hinterlassen. Schon die Nachzeichnung der groben erzählerischen Linien muss scheitern, da sie in diesem Roman allenfalls angedeutet vorkommen.

Von den Schlachtfeldern Yperns zu Peter Weiß und nach Kairo

Jonas Lüscher - Verzauberte Vorbestimmung (Cover)

Der Roman hebt mit der Schilderung eines aus Algerien stammenden Soldaten an, der sich dem Kampfgeschehen der Schlacht bei Ypern im Ersten Weltkrieg entzieht. Inmitten von Gasschwaden erhebt er sich aus den Gräben, um das Kampfgeschehen zu verlassen und stattdessen Briefträger in Lyon zu werden. Von diesem kurzen Schlaglicht geht es weiter zum Schriftsteller Peter Weiß, auf dessen Spuren sich der Erzähler begibt. Die Frage des Widerstandes, sie verbindet den Postboten im Krieg mit Weiß‘ berühmtesten Werk, das den Titel Ästhetik des Widerstands trägt und in dem sich der Schriftsteller mit antifaschistischem Widerstand und Faschismus auseinandersetzt.

Aber auch mit der Geschichte eines Briefträgers beschäftigte sich Peter Weiß. In seinem Werk Rapporte greift er die Lebensgeschichte eines Briefträgers auf, der zeit seines Lebens mit der Errichtung des sogenannten Palais idéal nach eigenem Vorbild beschäftigt war. Bis nach Südfrankreich führt diese Suche auf Spuren des Briefträgers und des gefeierten Autors Peter Weiß. Später wird der Schriftsteller bis Kairo reisen, dazu kommen an den unterschiedlichen Schauplätzen imaginierte Geschichten, die unter anderem im Stil einer Fabel von dem auf dem Cover abgebildeten Ludditen Ned Ludd und dessen Zerstörung von Webstühlen per Hammer erzählen. Mal geht es in Böhmen zurück in die Vergangenheit, mal geht es in Ägypten bis in die Zukunft.

Es ist ein wildes Durcheinander, dass das „Roman“ geheißene Werk Jonas Lüschers kennzeichnet. Eine Aufzählung von KZ-Gefangenen, die auf einem Todesmarsch umgekommen sind, steht neben einer Reiseerzählung nach Kairo, aus der sich dann die nächste erzählerische Dystopie ergibt, ohne dass eine Zusammenhang oder eine Motivierung der Themen klar ersichtlich würde.

Themen tauchen kurz auf, verschwinden dann wieder, dazwischen gibt es Passagen, die eine gewisse Kongruenz des reisenden Schriftstellers mit dem tatsächlichen Jonas Lüscher nahelegen, etwa wenn es in Passagen um das mehrwöchige Martyrium im Krankenhaus infolge einer Covid 19-Erkrankung geht, deren literarischer Verarbeitung man hier Zeuge wird.

Ein Roman wie schmelzende Wachsfiguren

Mit Verzauberte Vorbestimmung ist es wie mit den Wachsfiguren, die in einer in Kairo spielenden Erzählepisode zum Ende des Romans hin beschrieben werden.

Vor einigen Jahren ist die Klimaanlage ausgefallen, und Mahmoud, der die Galerie mit den Wachsfiguren schon immer gehasst hat, hat sich nie bemüht, sie wieder in Stand zu setzen, und bald fing irgendein Insekt an, große Löcher in die Samtvorhänge vor den Fenstern zu fressen, so dass die Sonne Strahlenbündel in den Raum zu werfen begann, die nach Jahreszeiten in unterschiedlichen Pfaden über die Figuren wanderten.

Das war den prominenten Ägyptern nicht gut bekommen.

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung, S. 298

Ein Boutros Boutros-Ghali, der wie in einem Dalí-Gemälde zerfließt, eine Königin Hatschepsut oder König Tutanchamun, der zerflossene Gesichter an einen Schlaganfall erinnern oder schon fast vollständig zerfallene Figuren – das Panoptikum des Verfalls und der auflösenden Formen, es gilt leider auch für Verzauberte Vorbestimmung selbst. Zwar kann man im Buch durchaus verheißungsvolle Ideen für einen Roman erkennen, de facto erweist sich das Buch als literarisches Äquivalent zu den geschmolzenen Wachsfiguren aus Kairo: wenig ansehnliches, mühsam zu dechiffrieren und auch nicht zu einer vertieften Beschäftigung mit Figuren und Themen einladend.

Viele Fragen, kaum Antworten

Am Ende bleiben viele Fragen. Wäre das Buch als Erzählungsband vielleicht die bessere Wahl gewesen? Wo sind die roten Fäden, wo ist der Wille zu einer nachvollziehbaren Geschichte hin, warum die immensen Sprünge durch Zeit und Raum, wenn daraus nur eine Überfrachtung des Buchs mit Themen resultiert? Wollte er womöglich einfach zu viel für ein Buch? Technik, Sterben, Widerstand, Aufbruch, Peter Weiß, Abhängigkeit von Maschinen – was ist das eigentliche Anliegen und warum hat das Verbindende und Erklärende so fast gar keinen Platz? Und warum ist die Gestaltung der Figuren so in den Hintergrund geraten?

Zumindest für mich läuft alles auf die zentrale Frage hinaus, auf die ich auch nach der Lektüre und der schriftlichen Beschäftigung in Form dieser Rezension noch keine Antwort gefunden habe: was wollte uns der Künstler damit bloß sagen?

Fazit

Auch wenn Jonas Lüscher hier wieder mit Satzgirlanden, einer registerreichen Sprache sein Talent fürs Erzählen unter Beweis stellt, leider scheint es auch, als habe den Schriftsteller die Lust zu einer wenigsten einigermaßen übersichtlichen und nachvollziehbaren Gestaltung dieses überfrachteten Gebirges verlassen. Der Roman wirkt an vielen Stellen wie die Ideensammlung für ein im Entstehen befindliches Bühnenstück, dessen Regisseur schon nach der ersten Leseprobe hingeworfen hat und das Ganze dann in dem unbearbeiteten Zustand heillos überfrachtet auf die große Bühne gebracht hat.

Nahezu unlesbar stand ich bei der Lektüre von Verzauberte Vorbestimmung mehrfach vor einem Abbruch, den ich mir aufgrund von Lesedisziplin und die Wertschätzung des bisherigen Werks des Autors aber nicht erlaubte.

Gebracht hat es nichts, am Ende steht trotz aller Bereitschaft für eine Auseinandersetzung mit den Themen und den erzählerischen Ansätzen ein klares Urteil: Verzauberte Vorbestimmung ist leider weder ver- noch bezaubernd, sondern leider nur eines: verwirrend, unkonturiert, disparat, herausfordernd und überfordernd zugleich. Auf dieses Buch muss man sich wirklich einlassen wollen.

Weitere Meinungen

Nuancierter als in dieser Rezension beschäftigt sich der Schweizer Buchclub mit Lüschers Buch. Für Carsten Otte im SWR ist der Roman eine Romanruine, für Wiebke Porombka bei Deutschlandfunk Kultur ist das Buch hingegen eine präzise und zugleich philosophische Reflexion unserer Gegenwart, noch dazu literarisch brillant.


  • Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung
  • ISBN 978-3-446-28304-6 (Hanser)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält

Vom Schlachthaus des Ersten Weltkrieges bis hinein in die Wirren des Japanisch-Chinesischen Kriegs, von Sarajevo bis nach Manila. In seinem Roman Die Welt und alles, was sie enthält wagt Aleksandar Hemon den ganz großen Wurf und schickt einen jüdischen Apotheker auf eine weltumspannende Schmerzensreise. Erträglich wird all das erfahrene Leid nur durch die Liebe zu einem Mann.


Es ist nur ein kleiner Moment, der den Apotheker Rafael Pinto hineinkatapultiert in einen der entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts. Eigentlich müsst er in der familieneigenen Apotheke in Sarajevo hinter dem Tresen stehen, Pulver mischen und Kunden beraten. Doch wir schreiben den 28. Juni 1914 und die ganze Stadt ist auf den Beinen und vibriert vor Erregung. Der Grund dafür ist der bevorstehende Besuch des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand.

Rafael Pinto interessiert das allerdings überhaupt nicht. Vielmehr ist es ein Rittmeister, der sein Interesse auf sich zieht. Der im militärischen Dienst der Monarchie stehende Mann sucht den sephardischen Juden Pinto in dessen Apotheke auf, um von ihm ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen zu erhalten.

Doch es ist nicht nur ein Mittel gegen die Kopfschmerzen, das der Rittmeister vom Apotheker erhält. Es kommt zu einem Kuss zwischen Pinto und dem Rittmeister. Ein kleiner Moment, der sich fast anfühlt, als würde die Welt kurz stillstehen.

Ein Kuss, ein Schuss und der Krieg

Ganz betört vom gerade Erlebten folgt Pinto dem Rittmeister hinaus auf die Straßen der bosnischen Hauptstadt, als sich die gerade noch stillzustehende Welt geradezu explosiv beschleunigt. Denn Pinto wird unmittelbar Zeuge des Attentats auf den zu Besuch weilenden Thronfolger, das zugleich den Beginn des Ersten Weltkriegs markiert. Vom Kuss zum verheerenden Schuss in nur wenigen Momenten – und kurz darauf hinein in das, was später als Großer Krieg und noch etwas später als Erster Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Schnell geht es in Hemons Romans zur Sache – ein Merkmal, das auch die weiteren Lebensstationen Pintos kennzeichnen wird.

Aleksandar Hemon - Die Welt und alles, was sie enthält (Cover)

Als Soldat findet Pinto sich auf den Schlachtfeldern des Krieges wieder, als er in Galizien als eingezogener Soldat Dienst tut. Die Schrecken, die inkommensurable Gewalt, die Hoffnungslosigkeit in den Schützengräben erfährt er am eigenen Leib. Doch wo die Gefahr ist, da wächst auch das Rettende. Im Falle von Pinto hört jenes Rettende auf den Namen Osman Karišik . Er ein Muslim, Rafael Pinto ein sephardischer Jude, und zusammen ein Liebespaar, das in der gegenseitigen Liebe ein Mittel gegen la gran eskuridad – die große Leere – findet.

Zusammen überleben sie auf den Schlachtfeldern und schlagen sich von Galizien und der Bukowina bis nach Taschkent durch. Es ist nur eine Station auf einer wahren Schmerzensreise, die Pinto und Karišik immer weiter weg führt von Zuhause. Sie begegnen Bolschewiken, blutrünstige Banden, trennen sich in den Bergen Turkestans, Pinto schlägt sich schließlich durch die Wüste Taklamakan bis nach Schanghai durch, wo er aber, wie immer wieder auf seiner Reise, mit Krieg und Gewalt konfrontiert ist.

Die Schmerzen des 20. Jahrhunderts

Aleksandar Hemon erzählt vom allgegenwärtigen Leid des 20. Jahrhunderts, das Pinto bei so gut wie allen Lebensstationen, egal wo auf dem Erdball begegnet. Zwar kommt es immer wieder zu Umbrüchen, folgen neue Schauplätze oder neue Figuren, gleich aber bleiben stets die zugrundeliegenden Themen der Flucht, Vertreibung und des Gefühls, nie wirklich anzukommen.

Themen, die nur diesen Roman bestimmen, sondern auch in der Biografie ihres Autors eingeschrieben sind. So gab dieser nach der Belagerung Sarajevos 1992 ähnlich wie sein Held Rafael Pinto gezwungenermaßen die Heimat auf, um fortan in den USA zu leben und auf Englisch zu schreiben.

Diese Erfahrung des fremdbestimmt Getriebenen merkt man Die Welt und alles, was sie enthält unmittelbar an. Genauso ist sein Roman aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die alles erträgt, alles hoffet und die alles duldet, selbst als Osman Pinto verlassen muss und ihm die Verantwortung für sein Kind überträgt.

Schmerzen und Liebe, es ist nur eines von vielen Komplementärbeziehungen in diesem Roman, der mit seiner queeren Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwas an Alice Wills Durch das große Feuer erinnert. Dort wo sich Will allerdings auf den Großen Krieg konzentriert, geht Hemon noch deutlich weiter, indem er die Gewalterfahrungen und Vertreibung seines Helden bis ins Jahr 1949 dehnt und so das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Brutalität eindrücklich schildert.

Fazit

Die Welt und alles, was sie enthält ist die herausfordernde, wirklich globale Reise eines Helden, der über alle Grenzen hinausgeht, der Stürme überlebt und der angetrieben von seiner Liebe zu Osman und zu seinem Kind immer weiter geht. Nicht immer einfach zu lesen, mit vielen fremdsprachigen Wortfetzen, harten Schnitten und Umbrüchen gestaltet bereist dieser Roman eine Vielzahl an Schauplätzen, thematisiert die Gewalt im Chinesisch-Japanischen Krieg 1937 ebenso wie die Entbehrungen während der Durchquerung der Taklamakan-Wüste oder die Verzweiflung in den nassen und kalten Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Mag Hemons Roman auch nicht die ganze Welt enthalten, so steckt doch ein ganzes Stück der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman. Eine herausfordernde Lektüre, gewiss nichts für Nebenbei, aber voller Intensität, Vielsprachigkeit und queerer Liebe (übersetzt von Henning Ahrens).


  • Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-546-10047-2 (Claassen)
  • 400 Seiten. 26,00 €
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Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Wie Schlafwandler schienen dem australischen Geschichtsprofessor Sir Christopher Clark die Figuren, die mit ihrem Handeln den Ersten Weltkrieg auslösten. Folgerichtig gaben sie seinem großen Werk über die Hintergründe jenes Ersten Weltkriegs den Titel. Und auch Raphaela Edelbauer scheint sich für ihren neuen Roman Die Inkommensurablen Inspiration bei Christopher Clark geholt zu haben. Denn ihr Roman, der das vielgestaltige Wien am Vorabend des Großen Krieges porträtiert, hat ebenfalls das Schlafwandeln als Motiv gewählt, obschon es hier nicht nur die Protagonist*innen ergreift, sondern bei der Lektüre das ein ums andere Mal auf den Leser oder die Leserin überzuspringen scheint.


Dabei beginnt alles wie eine Art Pastiche des mittlerweile schon zum modernen österreichischen Klassiker gereiften Roman Der Trafikant von Robert Seethaler. Ein junger vaterloser Mann kommt aus der österreichischen Provinz (hier Tirol) per Bahn in das überbordende Wien, das kurz vor dem Ausbruch eines Weltkriegs steht. Er macht in der überfordernden Stadt Bekanntschaft mit neuen Freund*innen und sucht – im Gegensatz zu Franz Huchel, dem Helden von Seethalers Buch – aktiv die Berührung mit dem Fach der Psychoanalyse.

Angekommen im Wien, der Stadt der Psychoanalyse

Doch so überschaubar wie die Schauplätze und die Handlung des Seethaler’schen Trafikanten bleibt Raphaela Edelbauers Buch mitnichten. Vielmehr sind es vier ganz unterschiedliche Figuren, die im Mittelpunkt des Romans stehen, darunter eben jener Bauernbub namens Hans Ranftler, den die Österreicherin mit einem großartigen ersten Satz einführt, der gekonnt Ton und Thema des Folgenden setzt und dem der Schlaf schon eingeschrieben ist.

Es war sechs Uhr zweiundreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k.u.k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 9

Vaterlos geworden und auf dem Land an der intellektuellen Dumpfheit des Landlebens leidend zieht es Hans ins brodelnde Wien, wo er unbedingt die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufsuchen möchte. Denn Hans ist überzeugt, eine Gabe zu besitzen, die ihn seit fünf Jahren begleitet. Ständig sprechen die Menschen um ihn herum Gedanken aus, die er kurz zuvor noch in seinem Kopf hatte. Mithilfe der Psychoanalyse erhofft er sich Aufschluss über diesen Zustand.

Raphaela Edelbauer - Die Inkommensurablen (Cover)

Dort in der Praxis der Psychoanalytikerin macht er die Bekanntschaft der gegensätzlichen Freunde Adam und Klara, die ihn kurzerhand unter ihre Fittiche nehmen.

Adam entstammt hohem österreichischen Adel und wohnt privilegiert im familieneigenen Palais Jesenky, Gasbadeofen und George-Gedichtbände in der Hausbibliothek inklusive. Mit anderen Gleichgesinnten hat er den Jungen Wiener Kunstverein begründet, geigt in einem Streichquartett experimentelle Werke von Schönberg, op. 10, und ist bei Helene Cheresch in Behandlung, weil er immer wieder Dinge aus der Vergangenheit oder anderen Ländern vor sich sieht, von denen er eigentlich keine Ahnung haben dürfte.

Klara hingegen entstammt dem Proletariat und hat sich mit ihrer Begeisterung für die Psychoanalyse von Helene Cheresch und den anderen bedeutenden Wiener Kapazitäten auf diesem Gebiet bis zum Rigorosum emporgearbeitet, das am nächsten Tag ansteht.

Verbunden durch den gemeinsamen Ankerpunkt der Psychoanalytikerin lassen sich die drei jungen Menschen im Folgenden durch ein Wien treiben, das einem Tollhaus gleicht.

Ein Tollhaus namens Wien

Egal ob bei der Probe in der Musikakademie, Beratungen des militärischen Stabs im Palais Jesenky, im Bordell, bei einer heroininduzierten Seance inklusive Medium in der Kanalisation unter Simmering oder auf den Straßen der Hauptstadt. Überall manifestiert sich ein luzides Gefühl von Anspannung, das mal in Euphorie, mal in Taumel, mal in Gewalt umschlägt und angesichts dessen an so etwas wie Schlaf eigentlich überhaupt nicht zu denken ist.

So prügelt sich Adam durch gezielte Reizungen seiner Mitspieler während der Proben des Streiquartetts. Die Mobilmachung steht kurz bevor, das Militär ruft nach jungen Männern. Burschenschafter trommeln und die Presse überschlägt sich mit Eilmeldungen und Kriegseintrittserklärungen am Vorabend des Kriegsbeginns. Alles gleicht hier einem Tollhaus.

Und als ob dieses Brummen, Blitzen und Vibrieren noch nicht genügen würde, ist da auch noch zusätzlich die Geschichte des sogenannten Säkulumclusters, der Helene, Klara und Adam beschäftigt und mit dem ein deutlicher Anklang an die Serie Sense 8 der Wachowskis in die Handlung einzieht.

Denn zugleich scheinen tausende Menschen in ganz Europa die selbe Szene eines verlassenen Dorfs zu träumen. Jeder dieser Träumenden sieht allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Traumrealität, während Klara als Einzige durch die ganze somnambule Szene wandern kann. Das macht sie zu einem Ziel der sogenannten „Traumjäger“, die dem Geheimnis des träumenden Clusters auf die Spur kommen möchten.

Eine herausforderne Mischung in expressiver Tradition

Was hier in seiner Verquickung aus Studie des Wiens am Vorabend des Weltkriegs, einer Studie Wiens als Hort der Psychoanalyse und als literarischer Stadtkarte sowie der Geschichte des Traumclusters schon wild klingt, wird in der Praxis dann tatsächlich noch wilder. Denn Raphaela Edelbauer schickt ihre Figuren nicht nur quer durch die Bezirke Wiens, vom proletarischen Florisdorf bis in die Salons der Oberschicht bis hinab in die Kanäle der Unterwelt. Vielmehr bringt sie in das Geschehen in Die Inkommensurablen auch verschiedene Spielformen des Erzählens ein.

Neben der ganzen Stadt- und Milieuerkundung in Echtzeit (die Handlung erstreckt sich über etwas mehr als einen Tag) ist dieses Buch auch eines, in dem wahnsinnig viel gesprochen wird. Alle diskutieren, debattieren, streiten, verteidigen, dozieren, fordern, locken oder schreien. Das führt neben vielen ausführlichen Gesprächsszenen und sachbuchartigen Exkursen über Momente der Wiener Bau- und Stadtgeschichte sogar dazu, dass Edelbauer nicht davor zurückschreckt, seitenweise die Rigorosum-Vorlesung Klaras in ihrer ganzen höchst anspruchsvollen Verschränkung von Philosphie und Mathematik über die Natur der inkommensurablen Zahlen aufzubieten, was mich als einfachen Romanleser zugegeben etwas überfordert hat.

Hervorragend gelingt es Edelbauer aber, die ganze Vielgestaltigkeit von Kriegsrhetorik, gesellschaftlicher Erregung, expressionistischem Überschwang, Kunst, Psychoanalyse und schlussendlich Wien selbst in einen überbordenden und herausfordernden Roman zu packen, bei dem man sich manchmal fühlt, als würde man durch eine Traumlandschaft wandeln.

Ein Roman, den sie sie am Ende sogar noch zu einer Betrachtung über den Charakter der Massensuggestion ausbaut und damit die Frage in den Raum stellt, inwieweit das von Christopher Clark als Schlafwandeln getaufte Verhalten im Vorfeld des Kriegs vielleicht sogar ein bewusste herbeigeführtes Ereignis per Massensuggestion war, das Österreich-Ungarn, ganz Europa und schlussendlich die halbe Welt in einen blutigen und verlustreichen Krieg stürzte.

Schlafwandler waren sie.

Die Lichter im Raum waren alle zur selben Zeit angegangen, und der Spuk hatte sich schlagartig verflüchtigt wie eine auseinanderfallende Dunstwolke. Für einen Augenblick konnten sie alle dieses Nebeneinander nicht fassen. Sie fanden keine Worte, und die Worte fanden nicht sie.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 263 f.

Fazit

Es gelingt Raphalea Edelbauer in ihrem neuen Roman Die Inkommensurablen von der Mobilmachung bis zur Psychoanalyse eine Vielzahl an Themen miteinander zu verquicken, die sie sprachlich herausragend ausgestaltet. Indem sie den (scheinbar) historischen Stoff mit modernen Erzählmitteln aufbereitet, wie man auch aus zeitgenössischen Produktionen wie dem schnittlosen Echtzeitfilm Victoria oder eben der schon genannten Serien Sense 8 kennt, gerät das Ganze zur atemlosen, überbordenden und so manches Mal auch verwirrenden Angelegenheit.

Was ist Traum, was ist Realität? Sind wir am Ende doch nur alle Schlafwandler, die als Teil des Säculumclusters von Raphaela Edelbauer durch ein elektrisiertendes und vibrierendes Wien gejagt werden, hinter dessen Ecken jede Menge Anspielungen von Hugo von Hoffmannsthal bis bis zu Graham Greenes Der dritte Mann lauern? So oder so bleibt festzuhalten, dass sich Raphaela Edelbauer auch mit ihrem dritten Buch als unberechenbare Erzählerin erweist, deren Talent auf keinen Fall auf Einbildung beruht. Ein wirklich inkommensurables Buch!


  • Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen
  • ISBN 978-3-608-98647-1 (Klett-Cotta)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata

Alles kehrt irgendwann wieder. So tauchen vererbte Merkmale in verschiedenen Generationen immer wieder auf – und auch literarische Themen und Trends folgen den Gesetzen der Vererbungslehre, gerade wenn es um das Erzählmuster von Familiensagas geht. So sollte Leser*innen folgende Grundkonstellation bekannt vorkommen:

Ein abgeschiedenes Dorf in der Weite der Natur, verschiedene Generationen von Dorfeinwohner*innen, magische und übersinnliche Ereignisse, die in verschiedenen Generationen immer wieder auftauchen. Das sind nicht nur die Zutaten, die Gabriel García Márquez‚ für seinen Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit dienten. Auch in der italienischen Po-Ebene funktioniert das Erzählen mit diesen Ingredienzen, wie Daniela Raimondi in ihrem gute fünfzig Jahre nach Marquez‘ Welterfolg erschienenem Familien- und Generationenroman An den Ufern von Stellata zeigt.


Obschon wir uns bei Raimondi nicht im fiktiven Dörchen Macondo im unwegsamen Dschungel Lateinamerikas befinden – auch in der Region der Po-Ebene gibt es Dörfer, die der blühenden Fantasie von Gabriel García Márquez entsprungen sein könnten.

Es war ein Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern, das zwischen der Straße und dem Fluss lag; ein armes Dorf, das allerdings einen so schönen Namen hatte, dass man glaubte, er sei erfunden. Denn abgesehen von seinem sternenfunkelnden Namen war an Stellata nur wenig Poetisches: eine Piazza mit Bogegengängen, ein bescheidenes Kirchlein aus dem vierzehnten Jahrhundert, zwei Trinkbrunnen sowie die Ruinen einer alten Festung gleich am Fluss.

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata, S. 19

Dort, in der Po-Ebene, wo das Veneto, die Lombardei und die Emilia-Romagna aufeinandertreffen, liegt jenes Stellata, dessen Geschichte eng mit der der Familie Casadio verknüpft ist. Außerhalb des Ortes an einem kleinen Kanal befindet sich das Haus dieser Familie, die durch die Ankunft von fahrendem Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinandergewirbelt wird, wie der Prolog des Buchs erzählt.

Generationen von Casadios

Daniela Raimondi - An den Ufern von Stellata (Cover)

Der Sohn Giacomo, ein träumerischer und zugleich schwermütiger Mann, nimmt sich eine zingara namens Viocalla zur Ehefrau. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die bislang das Geschick der Familie bestimmten, und bringt das eingefahrene und tradierte Weltbild der Familie Casadio gehörig ins Wanken. Neben ihrer ganz eigenen Weltsicht und ihren Gebräuchen ist auch das Tarot eine von den Casadios kritisch beäugte Methode, mit der Viocalla das Familienleben bereichert. Es dient ihr zur Vorhersage des Schicksals und um den Verlauf des eigenen und fremder Lebens zu deuten.

Dabei sieht Viocalla für die kommenden Generationen Unglück, ebenso wie Freuden und gedeihliches Auskommen voraus. Propehzeiungen, die sich tatsächlich bewahrheiten werden – und stets wird auch das Übersinnliche Begleiter von Generationen der Casadios sein. Mal ist es ein Schwein, das eine überlebenswichtige Rolle spielen wird. Mal können Abkommen der von Giacomo und Viocalla begründeten Dynastie mit den Toten reden. Mal folgen ihnen nach Heilungswundern Bienen.

Das erinnert an den magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez‘, drängt sich aber nicht in den Vordergrund von Daniela Raimondis Erzählung. Das Esoterische ist hier allenfalls schmückendes Beiwerk und sollte niemanden von der Lektüre abschrecken, allzu stimmig binden sich diese Elemente in das Gesamtwerk ein und passen ganz wunderbar zu Milieu und Ton dieses Romans.

Generationen wie Wellen

Mit den Ufern von Stellata hat die Autorin ein schönes titelgebendes Bild gefunden, denn hier sind die verschiedenen Generationen Casadios die Wellen, die ans Ufer von Stellata schlagen. Mögen sie sich auch von der Heimat entfernen, in Kriege ziehen oder auf brasilianischen Plantagen ihr Glück suchen, irgendwann kommen sie alle wieder nach Stellata zurück und finden dort ihr Glück – oder auch nicht.

Fünf Generationen sind es, die den erzählerischen Bogen vom Jahr 1800 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen. Generationen voller unterschiedlicher Menschen, die mal von ihrem Charakter und Wesen nach der Patriarchin Viocalla kommen, mal sind es die Gene des schwermütigen Giacomo, die sich in einem Familienzweig durchsetzen. Raimondi gelingt es, das alles abwechslungsreich und mitreißend zu schildern. Und auch wenn man bei einer Länge von über 500 Seiten befürchten könnte, dass der Spannungsbogen irgendwann bricht oder sich mit einer weiteren Generation Casadios so etwas wie Langeweile oder Ermattung einstellen könnte – allein: es passiert nicht.

Geschickt variiert Raimondi ihre Generationenporträts, die sich immer wieder überlappen und in den jede Menge Zeitgeschichte steckt. Die einschneidenden Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Freiheitskampf Garibaldis oder die Auswanderungsbewegungen, etwa wenn Teile der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz abwandern, weil auf dem flachen Land kaum mehr ein Auskommen ist. All das vermittelt fügt sich organisch in den erzählerischen Bogen ein und ergibt ein – wenngleich ich das Wort eigentlich nicht mag – absolut süffiges Leseerlebnis.

Fazit

Daniela Raimondi erschafft hier einen ganz großen Bilderbogen, der in der Tradition des Magischen Realismus von Gabriel Garcia MarquezHundert Jahre Einsamkeit steht. Sie erzählt über fünf Generationen hinweg von 170 Jahren Krieg und Frieden, Not und Leid, Glück und Erfüllung. Ihr gelingt eine abwechslungsreiche Familiensaga, die über die gesamte Länge von 500 Seiten trägt und die ebenso stimmig von Zeitgeschichte, wie von Übersinnlichem, von Liebe und familiären Zusammenhalt erzählt. Ein großer Schmöker aus Italien, der hier zu entdecken ist.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20176-9 (Ullstein)
  • 512 Seiten. Preis: 23,99 €
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Robertson Davies – Der Fünfte im Spiel

Welche lebenslangen Konsequenzen ein einfacher Schneeballwurf haben kann, das illustriert der Autor Robertson Davies in seinem 1970 erschienenen Roman Fifth Business, zu Deutsch Der Fünfte im Spiel. Eine Wiederentdeckung.


Robertson Davies (1913-1995) gilt als einer der bekanntesten kanadischen Schriftsteller, dessen Bücher vielfache Ehrungen erhielten, unter anderem Nominierungen für den Booker Prize. Das Schreiben war für Davies lange eine Nebentätigkeit, bis 1981 arbeitete er nämlich eigentlich am Trinity College an der Universität von Toronto. Dort lehrte er bis zu seinem Ruhestand Literatur und Kreatives Schreiben. Zeitlebens interessierte er sich auch stark für Psychologie und die Lehren der großen Psychiater jener Zeit, darunter etwa Sigmund Freud oder C. G. Jung. All diese Themen, mit denen Davies zeitlebens in Berührung kam, finden sich auch in Der Fünfte im Spiel, das vielen als Davies‘ bestes Buch gilt.

Der Erzähler ist Dunstable Ramsay, genannt Dunstan. In einer Rückschau berichtet er dem Direktor seiner Schule, an der er jahrzehntelang lehrte, von seinem Leben. Ausgangspunkt ist dabei jener eingangs erwähnte Schneeballwurf. Aus jugendlichem Leichtsinn wirft sein Freund/Feind Percy Boyd Staunton einen Schneeball nach Dunstan. Doch dieser duckt sich weg, sodass der Schneeball die schwangere Frau des lokalen Pfarrers trifft. Jene Mrs. Dempster, so ihr Name, stürzt hochschwanger – und löst so die Geburtswehen aus. Ihr Kind kommt deutlich vor dem erechneten Termin zur Welt – und Dunstan wird von großen Schuldgefühlen geplagt. In der Folge entspinnt sich zwischen ihm und Mrs. Dempster eine komplizierte Freundschaft, die das ganze Leben lang andauern soll.

Aus einem Schneeball wird eine Lawine

Chronologisch entfaltet Dunstable vor uns sein Leben, ausgehend von jenem schicksalhaften Schneeball, aus dem eine ganze Lawine an Schicksalen und Ereignissen werden soll. Dabei ist der Ton, in dem die Geschichte erzählt wird, kaum veraltet, trotz des nun baldigen 50-jährigen Jubliäums des Romans. Einen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Maria Seifert.

Man folgt Dunstans Erlebnissen sehr gerne, egal ob dieser von seinem Schicksal im Ersten Weltkrieg, seiner Kindheit in der kanadischen Provinz oder seinen Abenteuern bei einem Zirkus erzählt. Das Buch hat einen ruhigen Fluss, weiß an manchen Stellen mit trockener Komik zu überraschen, bietet eine interpretatorische Vielfalt und ist einfach das, was ich landläufig als guten Schmöker bezeichnen würde. Mir war es an manchen Stellen etwas zu viel Metaphysik und Religion (gerade die von Davies ausführlich skizzierten religiösen Befindlichkeiten und Rivalitäten der verschiedenen Kirchen sind doch etwas aus der Zeit gefallen). Aber das gleicht sich auf die Länge des Romans gut aus. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die in Kanada zu Recht auf den Lektürelisten von Schulen steht.


Bildrechte Porträt Davies: By Source (WP:NFCC#4), Fair use, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=5500688

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