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Alem Grabovac – Das achte Kind

Die Erforschung der eigenen Herkunft liegt im Trend. Literatur, die sich mit Identität, Familie, Klasse und Herkunft beschäftigt, feiert große Erfolge, und das nicht erst seit Saša Stanišićs Roman Herkunft, für den er den Deutschen Buchpreis erhielt, Auch die Bücher etwa von Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse) oder Deniz Ohde (Streulicht) belegen den Boom dieser Art von Literatur.

Alem Grabovacs Roman Das achte Kind reiht sich in diese Reihe von Romanen nahtlos ein. Er schildert seine eigene wechselvolle Geschichte von der Geburt an bis in die Jugendzeit. Ein Buch, das den Augenmerk ganz auf das Erzählen richtet.


Mehrere Versuche habe er benötigt, um den Sound für seinen Debütroman zu finden, so erzählte Grabovac im Gespräch zu seinem Buch. Mehrere Ansätze habe es gegeben, die immer wieder verworfen worden seien. So habe er unter anderem einen Sound versucht, der an Thomas Bernhard erinnert habe. Aber alles nicht das Richtige für Das achte Kind, wie Grabovac zu Protokoll gab. Stattdessen wurde es nun ein klarer, reduzierter Ton, der in wenig prosaischer Sprache das Leben des Ich-Erzählers zum klingen bringt.

Alem Grabovac‘ außergewöhnliche Lebensgeschichte

Und tatsächlich war es eine kluge Entscheidung, den Fokus eher auf das Erzählte, denn auf das Erzählen zu legen. Denn Grabovacs Lebensgeschichte ist wirklich außergewöhnlich. So wächst er als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin in Würzburg auf. Der Vater ein Hallodri, der sogar die Mutter unmittelbar nach der Geburt bestiehlt, um sich mit Freunden dem Rausch hinzugeben. Auch in der Folge will sich kein rechtes Familienleben einstellen. Die Mutter schuftet in einer Schokoladenfabrik, der Vater ist absent.

Der Spagat zwischen der Versorgung des Kindes und der Rolle als Familienernährerin gelingt der Mutter – wer will es ihr verdenken – nur mäßig. Und so gibt sie Alem zu einer Tagesmutter, die diesen unter der Woche betreut. Marianne hat selbst bereits sieben Kinder, die größtenteils flügge sind. Alem wird so ihr achtes Kind. Schon bald sind Marianne und Robert für den Jungen die eigentlichen Eltern.

Seine Mutter zieht der Arbeit wegen nach Frankfurt weiter und findet einen neuen Mann an ihrer Seite. Alem bleibt bei seiner Ziehfamilie zurück und wächst in der schwäbischen Provinz auf.

Drei prägende Vaterfiguren

Alem Grabovac - Das achte Kind (Cover)

Drei prägende Vaterfiguren sind es, die Alem Grabovac in seinem Buch versammelt. Da ist zunächst der Hallodri und untaugliche Kindsvater Emir. Auch der Dusan, der zweite Mann an der Seite seiner Mutter, ist keine wirkliche Verbesserung. Gewalt, Überforderung, Alkoholmissbrauch sind auch hier Themen. Ein anderer Fall hingegen ist Robert, der im Privaten aus seiner Sympathie für Hitler und der Verbitterung über den Kriegsausgang keinen Hehl macht. Alle drei Figuren wecken in Alem Widerspruch, mit zunehmendem Alter emanzipiert er sich von den drei Männern.

Ganz anders hingegen seine Mutter, die er in Das achte Kind porträtiert. Ihre Herkunft aus einem kroatischen Dorf, ihr Bemühen um ein gutes Leben für ihr Kind und sich schildert Grabovac klar und empathieerweckend. Ihr Faible für die falschen Männer, die Heimatverbundenheit, all das zeigt der Autor auf nachvollziehbare Art und Weise.

Grabovacs Aufwachsen zwischen den Kulturen und Familien ist eine starke Geschichte, die auf das Wesentliche reduziert ist. Gerade durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt sie.

Fazit

Eine sprachliche oder inszenatorische Überformung findet hier nicht statt. Damit ist Das achte Kind näher an Deniz Ohdes Streulicht denn an Saša Stanišićs Bestseller Herkunft. Durch den Verzicht auf eine eindeutige Wertung oder Beeinflussung des Lesenden gewinnt dieses Buch. Eine starke Geschichte, die durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt und die neben den oben genannten Titel gerne empfohlen werden kann.


  • Alem Grabovac – Das achte Kind
  • ISBN 978-3-446-26796-1 (Hanser blau)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Taylor Brown – Maybelline

Ins Hinterland von North Carolina entführt Taylor Brown in seinem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman Maybelline. Angesiedelt in den 50er Jahren erzählt er von Alkoholschmuggel, Kriegstraumata und von der Liebe. Ein gelungenes Buch, das trotz seines vermeintlichen historischem Kontextes erstaunlich viel über das heutige Amerika erzählt.


Im Kern dreht sich dabei alles um den Kriegsheimkehrer Rory Docherty. Dieser hat im Koreakrieg gedient und dort ein Bein verloren. Immer wieder überfallen ihn Flashbacks und Erinnerungen an das grausame Gemetzel dort, bei dem Millionen von Menschen ihr Leben verloren.

Gehandicapt verdingt sich Rory nun als Alkoholschmuggler. Für den mächtigen Schwarzbrenner Eustace Uptree liefert er in seinem hochgetunten Coupé namens Maybelline illegal Alkohol aus. Unter den wachsamen Augen des korrupten Sheriffs und den Steuerfahndern befährt Rory sämtliche Schleichwege des Hinterlandes, um die ländliche Bevölkerung mit Hochprozentigem zu versorgen.

Ganz anders da Rorys Großmutter, die die zweite Hauptfigur in Browns Roman ist. Sie wird von der lokalen Bevölkerung geschnitten, da sie sich früher prostituieren musste. Ihr Wissen um Heilkräuter und Verhütung nehmen die Hinterwäldler allerdings dann doch gerne in Kauf. Mit Furcht und Sorge beobachtet sie Rorys Rückkehr, der sich aufgrund seiner kompromisslosen Art schon binnen Kurzem diverse Feinde macht hat. Immer enger legt sich die Schlinge um Rorys Hals, während dieser in seinem Auto durch das Hinterland North Carolinas braust.

Starke und glaubwürdige Figuren

Mit Maybelline Docherty hat Taylor Brown eine starke Frauenfigur erschaffen. Dass sie dem Buch in Deutschen den Titel leiht, ist mehr als angemessen. Ihre Kämpfe um Unabhängigkeit und weibliche Selbstbestimmung, ihr Wissen um die Heilkraft der Natur, ihr Hintersinn und ihre Souveränität machen sie zu einer Figur, die man nicht so schnell wieder vergisst. Aber auch ihr Sohn steht in seiner ganzen Zerrissenheit seiner Großmutter nur um wenig nach.

Generell fällt bei Maybelline auf, welches Geschick Taylor Brown bei der Kreation seiner Figuren an den Tag legt. Schwarz-weiße Figurenzeichnungen sind das Ding des jungen Amerikaners nicht. Selten sind die Figuren einfach nur gut oder schlecht, vielmehr sind sie die Figuren in Maybelline erfreulich glaubhaft geraten, sind selten einfach nur gut oder schlecht.

Taylor Brown - Maybelline (Cover)

Neben der Komplexität der Figuren überzeugt aber auch die Themenfülle, die trotz des vermeintlich Jahrzehnte zurückliegenden Handlung erstaunlich aktuell ist. So spielen religiöser Eifer und Bigotterie eine Rolle, die Frage von Machtmissbrauch und Korruption wird verhandelt, die Probleme einer falschen Drogenpolitik sind Thema genauso wie nicht behandelte Kriegstraumata und gesellschaftliche Spaltung.

Ohne die Balance des Plots aus den Augen zu verlieren widmet sich Brown diesen vielen Themen. Er erzählt in einem klaren Ton, schafft Bilder und Sequenzen, die sich nachhaltig im Kopf verankern, etwa wenn er die Kriegsgräuel in Nordkorea beschreibt oder von Autorennen auf den engene Straßen des Hinterlands in den Appalachen erzählt. Auch die Naturbeschreibungen des von den Dochertys bewohnten Bergs, seiner Flora und Fauna wissen zu überzeugen. Wie das Leben dort die Menschen beeinflusst und den Takt des Lebens vorgibt, das schildert Brown nachvollziehbar und enorm eindrücklich (übersetzt von Susanna Mende)

Fazit

Maybelline besitzt gesellschaftliche Relevanz, richtet seinen Blick auf das Hinterland Amerikas und die vergessenen Probleme und Menschen dort. Ein Buch, das viele Klänge und Bilder wachruft. Eines, das seine Figuren ernst nimmt, spannend und hochtourig ist und das ich mit gutem Gewissen eine weitere Perle aus dem Polar-Verlag nennen kann. Gerne noch mehr davon!


  • Taylor Brown – Maybelline
  • Aus dem Englischen von Susanna Mende
  • Mit einem Nachwort von Kirsten Reimer
  • ISBN 978-3-948392-18-5 (Polar-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 14,00 €
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Benedict Wells – Hard Land

Einer der auffallendsten Trends in der Literatur der letzten Jahre ist der des Booms der Coming-of-Age-Erzählungen.

„Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“

Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.

Benedict Wells – Hard Land, S. 306

So lässt Benedict Wells in seinem Roman einen Lehrer dozieren, der den Schülern dieses Genre nahebringen will. Und schaut man auf die Bucherscheinungen der letzten Zeit bis hin zu den aktuellen Neuerscheinungen, dann muss man konstatieren: Coming of Age boomt wie selten zuvor. Egal ob Sebastian Stuertz, Ronya Othmann, Verena Guentner, Benjamin Myers, Matthias Brandt, Johann Scheerer oder ebenfalls in diesem Monat Callan Wink. Sie alle haben in jüngster Zeit Romane vorgelegt, die um ihre jugendlichen Protagonisten kreisen, deren Reifung in den Büchern nacherzählt wird, das Ganze angesiedelt meist während der Sommermonate. Und auch Benedict Wells fügt diesem langsam immer unübersichtlicher werdenden Berg an Büchern nun ein weiteres Werk hinzu. Es trägt den Namen Hard Land und spielt, wie auch schon Wells dritter Roman Fast genial, in den USA.

Willkommen in Grady

Aber im Gegensatz zu diesem Roadnovel siedelt Wells diesmal seine Erzählung in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Grady an. Dort lebt Wells Held und Ich-Erzähler Sam mit seinen Eltern. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter betreibt eine Buchhandlung in der lokalen Mall und ist schwer krank. Sams ältere Schwester Jean hat der Familie schon lang den Rücken gekehrt, um als Drehbuchautorin in Los Angeles zu leben.

Wir schreiben das Jahr 1985. VHS-Kassetten boomen, das Internet ist noch weit weg, die Simple Minds liefern mit Don’t you einen der größten Hits des Jahrzehnts ab und Marty McFly wird mit Zurück in die Zukunft zum Vorbild einer ganzen Generation. In diesem Jahr passiert das, was Sam schon im ersten Satz des Buchs beschreibt.

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells – Hard Land, S. 11

Damit ist die Rahmenhandlung des Buchs umrissen. Während Sam auf seinen 16. Geburtstag zusteuert und sich auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet, kommt das familiäre Gefüge daheim langsam ins Rutschen. Die Mutter ist von ihrer Erkrankung schwer gezeichnet und Sam flüchtet sich zu seinem Job im Kino Metropolis. Dort lernt er eine Clique von Freunden kennen und exerziert mit ihnen all das durch, was man in einem Coming of Age-Roman eben so erleben muss: erste Liebe, Hauspartys, Mutproben, Musik machen und Baden im See.

Die 49 Geheimnisse

Wells Roman zieht seine Struktur dabei aus der erdachten Kleinstadt Grady. Diese besitzt nämlich laut der urbanen Legende 49 Geheimnisse. Folglich teilt sich das Buch auch in 49 Kapitel, deren Rahmenhandlung ja tatsächlich schon mit dem ersten Satz abgedeckt wird.

Und ja, man nimmt Benedict Wells nach der Lektüre sofort die Faszination für die „geliebten Eighties-Filme“ (so der Autor im Nachwort) ab. Breakfast Club, Zurück in die Zukunft, Stand by me. All das sind Namen, die beim Lesen des Buchs unwillkürlich auftauchen. Denn Hard Land ist Paraphrase und Pastiche dieser Filme zugleich. Eine Kleinstadt, eine Gruppe Jugendlicher, Abhängen in Kinos und Diners, ds nervige Schulleben, erste Liebe, Pubertät und unverhoffte Abenteuer. Diese Zutatenmischung verwendet Wells auch in seinem Roman – und schafft damit einen gut konsumierbaren Unterhaltungsroman, der auch als Jugendroman durchgeht.

Wells huldigt einer längst vergangenen Welt. Sein Amerika endet an den Stadtgrenzen von Grady, von einer gesellschaftlichen Spaltung ist hier noch nichts zu sehen. Auch wenn Sams Freunde aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung in der Kleinstadt beäugt werden – irgendwie fügt sich in Grady alles und bleibt weitestgehend harmonisch. Und selbst wenn die Themen Tod und Trauer plötzlich für Sam aktuell werden – irgendwie findet sich dann doch wieder alles. Das ist manchmal dann doch etwas banal, genauso wie der ein oder andere Dialog im Buch.

Fazit

Ein melancholisch-kindliche Ton ist kennzeichnend für Hard Land. Benedict Wells gibt dem boomenden Coming of Age-Affen Zucker und beschwört einen doppelt nostalgischen Roman herauf. Eine längst vergangene (bzw. sehr verklärte) Epoche der amerikanischen Geschichte trifft auf einen Erzähler, der seine Jugend noch einmal durchlebt. Das ist solide erzählt, weiß als Roman zu unterhalten, fügt dieser ohnehin schon übersättigen Romangattung aber keine wesentlich neuen Facetten hinzu.


  • Benedict Wells – Hard Land
  • ISBN: 978-3-257-07148-1 (Diogenes)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Merle Kröger – Die Experten

From the needle to the rocket

So lautete der Slogan, den der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser in den 60er Jahren für sein Land ausgab. Von der Nähnadel bis hin zu Raketen sollte alles in Ägypten gefertigt werden. Man wollte sich frei machen von Abhängigkeiten und strebte nach eigener Stärke. Doch besonders für den komplizierten Bereich der Raketenfertigung war es nicht leicht, im Land selbst genug Kompetenz zu versammeln. Die Lösung hierfür: Experten von außerhalb, genauer gesagt aus Deutschland. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die Forscher in Peenemünde und anderswo für die Nazis bereits Raketen konstruiert. Und diese Kompetenz war ja immer noch vorhanden, wenngleich durch die Entmilitarisierung nach dem Krieg für die Forscher in Deutschland mehr oder minder ein Beschäftigungsverbot galt.

Raketenpräsentation in Ägypten (Quelle: Wikimedia)

So warb Ägypten zahlreiche deutsche Ingenieure und Wissenschaftler an, die darauf drängten, ihre Rüstungsprojekte fortzusetzen. In und um Kairo entstand so eine Community von Deutschen, die sich der Raketenforschung und des Bau dieser Waffen verschrieben. Die Deutschen konnten ihre Arbeit fortsetzen, Nasser bekam seine Raketen, die er nach dem Austritt Syriens aus seiner Vereinigten Arabischen Republik (kurz VAR) dringend als Zeichen seiner außenpolitischen Stärke brauchte. Eine Win-Win-Situation also für den Präsidenten und seine deutschen Experten, die Ägypten auf die (rüstungspolitische) Weltbühne zurückbringen sollten.

Deutsche Experten in Ägypten

Rita Hellberg, die Heldin von Merle Krögers Roman ist die Tochter eines solchen Experten. Friedrich Hellberg konstruierte einst mit der Hilfe von Zwangsarbeitern im Dritten Reich Überschallflugzeuge. Und auch wenn den Deutschen ab 1958 wieder die Arbeit in der Luftfahrtindustrie erlaubt wurde – „richtige Arbeit“ war und ist das für Friedrich Hellberg nicht. Er hat seinen Traum vom Bau militärischer Überschallflugzeuge noch nicht aufgegeben.

Düsentriebwerke, Raketen, Kampfflugzeuge – das ist das Ideal, das Hellberg mit vielen anderen Deutschen trotz der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg teilt. So folgt er mit seiner Familie dem Ruf Nassers nach Ägypten. Nach einem Besuch seiner minderjährigen Tochter Rita behält er diese kurzerhand in Kairo vor Ort. Er hat ihr einen Job als Sekretärin beim Raketenwissenschaftler Wolfgang Pilz besorgt. Durch diesen bekommt Rita langsam einen Einblick in die ägyptische Expat-Gemeinde und das Tun und Treiben der deutschen Experten vor Ort.

Merle Krögers großer erzählerischer Bogen

Merle Kröger hat einen halb dokumentarisch, halb fiktionalen Roman vorgelegt, der sich eines hochspannenden Themas annimmt. Eines, das in der der deutschen Literatur bislang sträflich vernachlässigt wurde. Ein Fehler, wie das Buch von Merle Kröger zeigt. Denn die Verflechtungen, denen sie in Die Experten nachspürt, sind hochinteressant und lassen so manches Mal die Haare zu Berge stehen.

Merle Kröger - Die Experten (Cover)

So spannt die Autorin ihren Bogen von der Zeit der sechziger Jahren bis hinein in die Zeit der Studentenunruhen. Sie erzählt von der deutschen Expat-Gemeinde, die aus Forschern, Ordensschwestern, aber auch untergetauchten Kriegsverbrechern wie etwa dem KZ-Arzt Hans Eisele besteht. Neben der Aufrüstungsstrategie von Gamal Abdel Nasser sind die Verflechtungen der jungen BRD und Ägyptens Thema. Das Antichambrieren Franz Josef Strauß‘, die innen- und außenpolitischen Winkelzüge der Mächtigen erörtert Merle Kröger nachvollziehbar und höchst spannend. Gerade als dann der Mossad im Ränkespiel um die deutschen Experten mitzumischen beginnt, bekommt dann das Buch die Spannung, die zuvor noch etwas auf sich warten ließ.

Rita wird in ihrer Funktion als Sekretärin zur Geheimnisträgerin. Sie beginnt, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, hin und hergerissen in ihren Sympathien. Dass ihr dabei das Elternhaus mit den beiden Antipoden des horoskopbegeistern Vaters und der bigotten Mutter keinerlei Hilfe ist, beschreibt Merle Kröger eindrucksvoll.

Literarisch höchst souverän

Überhaupt – die literarische Souveränität, mit der Merle Kröger erzählt, ist unbedingt preiswürdig. So schafft sie es beispielsweise in einem Kapitel eine tiefgründige Charakterisierung der Familie Hellberg, indem jedes der vier Familienmitglieder einfach einen Brief verfasst. Alleine über diese vier Briefe zeigen sich so unterschiedliche Figuren, wie sie andere Autor*innen nicht einmal in einem ganzen Roman beschreiben könnten. Ihr gelingt eine glänzende Psychologisierung ihrer Figuren.

Allerdings sind Absätze das Ding der 1967 geborenen Autorin nicht. Sie wechselt die Perspektive innerhalb von drei Zeilen, treibt das Geschehen voran, rhythmisiert ihre Erzählung und erschafft so einen manchmal schon fast an Spoken-Word-Lyrik erinnernden Erzählfluss.

Neben den raschen Perspektivwechsel, Seitenblicken oder Rückblenden sind es auch die zahlreichen Dokumente, die die Prosa von Die Experten kennzeichnen. Immer wieder verwendet Merle Kröger Original-Zeitdokumente. Fetzen aus Spiegel-Stories, Geheimdienstberichte oder Dokumentation über die Zeit des Dritten Reichs, die sie in den Roman hineinmontiert. So entsteht eine reizvolle Mischung aus Fiktion und Dokumentarischen. Der Anhang gibt Auskunft über die zahlreichen Quellen, die in den Roman eingeflossen sind.

Fazit

Es wäre Merle Kröger zu wünsche, dass ihr nun mit Die Experten der große Durchbruch gelänge. Das Buch hat die Adelung durch einen Platz im Suhrkamp-Programm (ohne den famosen Ariadne-Verlag an einer Stelle kleinreden zu wollen) absolut verdient. Ihre Prosa besitzt einen eigenen Sound, die Themen sind großartig gewählt und haben allesamt gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Relevanz. Ihre Figuren sind glaubhaft entworfen, die Wiederauferstehung des Ägyptens der 60er Jahre ist geglückt. Zwar sträube ich mich etwas gegen das aufgedruckte Label Thriller, dennoch ist das Buch neben all den bereits genannten Vorzügen natürlich auch spannend und zeigt die geheimdienstlichen und politischen Fehden, die in den 60er Jahren dominierten. Für mich ist dieses Buch absolut preiswürdig. Es sollte Merle Kröger hoffentlich in die vordere Reihe deutscher Autorinnen katapultieren.

Zudem wäre es schön, wenn durch einen Erfolg dieses Buchs auch die Ariadne-Backlist dieser deutschen Autorin wieder entdeckt wird, die nur alle paar Jahre ein Werk vorliegt, das dann aber den Rest der zeitgenössischen Krimiproduktion im Staub zurücklässt. Das ist ganz große deutsche Literatur!


  • Merle Kröger – Die Experten
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-46997-2 (Suhrkamp)
  • 688 Seiten. Preis: 20,00 €
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Johann Scheerer – Unheimlich nah

Wie wird man erwachsen, wenn man rund um die Uhr von Bewachern umgeben ist? Wie es sich anfühlt, zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem Bedürfnis nach Sicherheit aufzuwachsen, davon erzählt Johann Scheerer. Sein zweiter Roman Unheimlich nah setzt nach der Rückkehr seines entführten Vaters Jan Philipp Reemtsma ein.

Die Geschehnisse rund um die Entführung des berühmten Hamburgers beschrieb Scheerer vor drei Jahren in seinem Buch Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Entführung, die damals die Bundesrepublik in Atem hielt, schilderte Scheerer damals aus seiner kindlichen Sicht. Die Unsicherheit, die Verhandlungen mit den Entführern und seinen Wunsch nach etwas Normalität. Das waren Themen, von denen der Musikproduzent in seinem Debüt erzählte. Diese Themen haben sich im zweiten Buch nur wenig geändert.

Zwar ist nun die Unsicherheit durch die Entführung des Vaters verschwunden. Doch so etwas wie Normalität im Leben der Familie Reemtsma ist weiterhin Fehlanzeige. Scheerer beschreibt, wie nun durch Sicherheitsunternehmen die Familie abgeschirmt wird. Stets befindet sich ein Bewacher in Rufnähe Johanns. Das Hamburger Heim wird hochgerüstet, Überwachungskameras, Sicherheitszaun und Patrouillengänge gehören nun zum Leben der Reemtsmas dazu. Scheerer beschreibt besondere Urlaube unter Polizeischutz, die Monotonie der Tage, zu deren Routine nun auch immer das Abmelden und das Bescheidgeben gehört. Er erzählt von Schießübungen im Wald, Fahrsicherheitstraining und der Schwierigkeit von Partys und Dates mit dem Wissen um die Bewachung im Hinterkopf.

Einblicke ins Innere der Familie Reemtsma

Wie schon im ersten Teil gibt Scheerer auch hier Einblicke in das Familienleben, das durch die Entführung eine so unterwartete Zäsur erhielt. Die Entführung Reemtsmas beschäftigte damals ja die ganze Öffentlichkeit. Der Blick auf die Familie und die Nachwehen der Tat waren für die Boulevardberichterstattung damals aber nachrangig. Schon mit seinem ersten Band setzte Scheerer dem öffentlichen Narrativ seine Sicht entgegen. Diesen Weg geht er mit Unheimlich nah konsequent weiter.

Johann Scheerer - Unheimlich nah (Cover)

Der literarische Gehalt dieses Buchs ist in meinen Augen dabei eher zu vernachlässigen. Scheerer erzählt ohne klar erkennbaren Höhepunkt oder eine besondere kunstvolle Gestaltung. Auch bleibt die Introspektion der Figur etwas auf der Strecke, Scheerer konzentriert sich eher auf das Erzählen von episodisch Erlebtem. So liegen die Qualitäten eher in seinen einsichtsreichen Schilderungen und seinem Schlüssellochblick auf die Familie Reemtsma.

Was dann aber bei einem solchen Spitzentitel doch sehr überrascht, ist das schlampige Lektorat des Buch.

Anschlüsse stimmen nicht und in einem Absatz gelingt sogar das Kunststück, den Namen des Schauspielers Brad Pitt auf zwei verschiedene Arten falsch zu schreiben. Das muss man auch erst einmal schaffen, markiert doch schon jedes handelsübliche Rechtschreibprogramm solche Schnitzer.

Dass Jasmin den Jungsfilm so mochte, fand ich wahnsinnig aufregend. Ob es an Brat Pitts Oberkörper lag? Ich zog meinen Bauch ein, schob den Gedanken zur Seite und lehnte mich mich vorsichtig zu ihr hinüber. Unsere Knie berührten sich schon. Irgendwann auch unsere Schultern und Hände, und als sich im Film einen Moment lang nicht geprügelt wurde und Bratt Pitt mal ein Hemd trug, beugte sie sich zu mir rüber und küsste mich.

Johann Scheerer – Unheimlich nah, S. 250

Bei einem ordentlichen Lektorat hätten solche groben Schnitzer auffallen müssen. Für einen so beworbenen und als Spitzentitel kalkulierten Roman überrascht das schon. Hier wäre mehr Sorgfalt angeraten gewesen.

Fazit

Von solchen Ärgernissen abgesehen ist Unheimlich nah ein interessanter Blick durchs Schlüsselloch der Familie Reemtsma. Zudem steckt im Buch auch eine Coming of Age-Erzählung, deren Protagonist sich zwischen den Polen des Freiheitsdrangs und des Sicherheitsbedürfnisses bewegt. Literarisch nicht weltbewegend und von begrenzter Introspektion, aber eben doch auch einsichtsreich, was das Gefüge der Familie belangt. Und auch wenn die zeitgeschichtlichen Bezüge für jüngere Leser eher abstrakt bleiben dürften: Unheimlich nah ist auch für ein jüngeres Lesepublikum geeignet, ist doch das im Buch verhandelte Thema der Selbstfindung eines, das besonders auch ein solches Publikum ansprechen dürften.


  • Johann Scheerer – Unheimlich nah
  • ISBN 978-3-492-05915-2 (Piper)
  • 331 Seiten. Preis: 22,00 €
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