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Maddalena Fingerle – Muttersprache

Nein, ein Sympathieträger ist dieser Paolo Prescher nicht, der uns in Maddalena Fingerles Debüt Muttersprache begegnet. Beständig kreist er um sich, arbeitet sich an seiner Familie, seiner Heimatstadt Bozen und deren Zweisprachigkeit ab und kämpft mit Wörtern, die ihm von anderen beständig dreckig gemacht werden. Doch leider vermag die Grundidee den Roman nicht ganz zu tragen.


Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgend welcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Hugo von Hoffmannsthal – Der Brief des Lord Chandos, S. 12

Da ist er, der Pilz, der auch das Cover von Maddalena Fingerles Debütroman ziert. Aber es ist nicht nur der modrige Pilz, der Hugo von Hoffmannsthals Chandos-Brief mit Muttersprache verbindet, es ist auch das Grundproblem der unzureichenden Sprache, das die Erzähler in beiden Werken umtreibt. Denn während Lord Chandos die Worte im Mund wie modrige Pilze zerfallen, sind es bei Paolo Prescher die Worte, die ihm beständig dreckig gemacht werden.

Vom Aufwachsen in der „Scheißstadt“ Bozen

Paolo wächst zusammen mit seiner älteren Schwester Luisa in Bozen auf. Sein Vater leidet unter Aphasie beziehungsweise Mutismus und redet nicht mehr. Stattdessen klebt er auf alle Gegenstände in der heimischen Wohnung Zettel mit deren Bezeichnung. Seine Mutter hingegen rettet sich in die Kunst, beständig produziert sie neue Werke, was Paolo anwidert. Für ihn ist sie eine blöde Kuh, die er verachtet.

Überhaupt ist es viel, dass den jungen Erzähler anwidert. Seine Heimatstadt Bozen ist ihm in ihrer (vorgetäuschten) Mehrsprachigkeit ein Graus, er arbeitet sich an den zweisprachigen Bezeichnungen von Bolzano/Bozen ab, hat für die Bewohner und das praktizierte Miteinander von Deutsch und Italienisch (plus Ladinisch) nur Verachtung übrig. Für ihn ist Bozen eine „Scheißstadt“ (S. 171), die ihn quält und martert.

Bozner interessieren sich nur für ihre Wurzeln und ihre eigene Region, und für die Streitereien, was Denkmäler und Straßennamen angeht, und sie haben Angst vor Mischkultur und davor, ihre Wurzeln zu verlieren, die Identität, die Kultur, und wenn sie zufällig doch hingehen, um denen, die von außerhalb gekommen sind, zuzuhören, dann verlieren sie keine Zeit und sie fangen an, ihre Geschichte zu erzählen, von den Wurzeln und der eigenen Region und der Streiterei um die Denkmäler und Straßennamen, und sie sagen, dass sie alle zweisprachig sind, dreisprachig, viersprachig, auch wenn es überhaupt nicht stimmt. Eigentlich müssten wir es ja sein, aber wir beherrschen nur ein paar simple, banale Wörter, die wir ausspucken bei der Zweisprachigkeitsprüfung, die belegt, dass wir zweisprachig sind, weil wir ein paar mickrige Wörter beherrschen.

Maddalena Fingerle – Muttersprache, S. 54

Zudem ist er von einem Tick besessen, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Denn durch die zweisprachige Benennung von Gegenständen werden ihm diese Worte beständig dreckig gemacht (selbst sein Name Paolo Prescher ist nur ein Anagramm der dreckigen Worte, nämlich parole sproche). Das Italienische, es ist ihm ein Graus, auch der lokale Dialekt bringt den jungen Erzähler zum Verzweifeln.

Sprache wird gewaschen

Maddalena Fingerle - Muttersprache (Cover)

Die deutsche Sprache, sie ist für ihn die einzig Wahre, sie wirkt auf ihn sauber. Und so entflieht er nach dem Suizid seines Vaters der drückenden Enge seiner Familie und Heimatstadt nach: Berlin, was durchaus eine gewisse Ironie besitzt, ist es doch gefühlt die internationalste Stadt Deutschlands (was einen sich einst profilieren wollenden Staatssekretär namens Jens Spahn zu einem Aufschrei veranlasste, da in manchen Cafés der deutschen Hauptstadt nur noch Englisch gesprochen werde).

Für Paolo ist Berlin allerdings das Paradies. Zunächst übernachtet er auf Parkbänken, ehe er in einer Bibliothek eine Anstellung und durch einen Kollegen auch einen Schlafplatz findet. Dort in Berlin macht er die Bekanntschaft mit Mira, die ironischerweise Italienerin ist, was in Paolo die Liebe zu dieser Sprache entflammen lässt, die nun so gar nichts mehr dreckiges an sich hat. Mira (ihr Name ist ein Anagramm von sapone di Marsiglia, also Kernseife) hilft ihm, die einst verdammten Wörter wieder zu waschen und zu säubern. Dies reicht sogar soweit, dass Paolo mit ihr im dritten Teil des Romans dann wieder von Berlin nach Bozen zurückkehrt.

Ein unsympathischer Erzähler

Einen Roman über solch ein abstraktes Thema wie das Polyglotte in Südtirol zu schreiben, das ist wahrlich ein Unterfangen. Maddalena Fingerle hat sich daran versucht – schafft es in meinen Augen aber leider nicht, mit ihrem Roman zu überzeugen.

Das liegt ganz subjektiv gesprochen schon an ihrem Erzähler Paolo. Wie ein junger Thomas Bernhard wirkt er, der in seinem beständigen Kreisen um sich selbst nur Verachtung für seine Umwelt übrighat und so gut wie alles beschimpft. Mit leicht synästhetischen und manischen Anklängen in seinem Charakter stampft er durch die Welt, schimpft über die dreckigen Wörter, möchte seine Schwester und Mutter am liebsten schlagen und ist in meinen Augen ein wirklicher Unsympath, den man überhaupt nicht näher kennenlernen möchte. Dieser wütende und anklagende Sound, das Rotzige in Sprache und Figur ist durchaus gelungen. Persönlich hat es mir den Zugang zu Paolos Lebenswelt und seinen Themen und Sorgen allerdings deutlich erschwert.

Zudem trägt die theoretische Idee den Roman nicht in dem Sinne, dass sie die Erzählung unterfüttert oder viel Material für gut auserzählte Konflikte oder Entwicklungen liefert. Zwar gibt es die drei Kapitel, die Paolo von Bozen nach Berlin und zurück schicken, auch erfährt er eine Wandlung und wird (Achtung, Spoiler!) sogar Vater, aber diese ganze Handlung wird vom beständigen Kreisen um die sauberen und dreckigen Wörtern und den polyglotten Betrachtungen doch sehr an die Wand gedrückt.

Zwar gibt es jede Menge mal offener oder mal versteckterer Theorie und Anklänge (seine Schwester Luisa ist ein Anagramm des Begriffs capire Husserl, also Husserl verstehen, wobei man dann gleich bei dessen berühmter Sprachphilosophie Phänomenologie der Sprache landet, was Husserl mit Paolos Vater und dessen Versuch der Benennung von Dingen vereint. Und ja auch Lord Chandos könnte man hier noch in Verbindung setzen. Überhaupt verstecken sich viele weitere Bezüge und Anspielungen im Text (ganze fünf Seiten Anmerkungen für die Bezüge, Erklärungen Quellen gibt es – bei einem Text von gerade einmal 180 Seiten durchaus bemerkenswert).

Und auch die Arbeit der Übersetzerin Maria Elisabeth Brunner muss man herausgeben, die diesen in seinem Furor und seinen polyglotten Ansätzen sicherlich nicht einfach zu übersetzenden Text ins Deutsche übertragen hat. Sonderlich zugänglich oder mitreißend blieb das alles – zumindest für mich – aber trotzdem nicht.

Fazit

Steht man fester in wissenschaftlichen Diskursen, kennt sich mit Husserls Phänomenologie und den sprachtypischen Befindlichkeiten vor Ort aus, dann könnte einem Muttersprache vielleicht einen ganz neuen Zugang zum Thema und Buch eröffnen. Als Nicht-Südtiroler blieb mir all das verschlossen – wobei ich an einen gelungenen Roman den Anspruch hätte, dass er mir all das auch als Nicht-Kundiger eröffnen und begreifbar machen würde.

Bei Muttersprache hatte ich allerdings dieses Gefühl nicht und blieb von dem Text und der Gefühlswelt seines Helden doch recht ausgeschlossen. Die Auszeichnung als erfolgreichstes Romandebüt des Jahres in Italien und die Zuerkennung des Premio Italo Calvino kann ich aus literarischer Sicht nicht so ganz nachvollziehen. Ein rotziger Erzähler und dessen Suada gegen Bozen und die Mehrsprachigkeit reicht mir da nicht aus. Aber vielleicht gebricht es mir hier einfach an Hintergrundwissen und Einblicken in die italienisch-südtirolerischen Seele, um die Wahl und die Qualität des Romans zu verstehen.

So bleibt Maddalena Fingerles Buch für mich ein interessanter Text, der sich aber an seiner Theorie verhebt und damit das Buch überfrachtet, das zudem mit seinem unsympathischen Erzähler zumindest mich nicht wirklich überzeugen konnte.


  • Maddalena Fingerle – Muttersprache
  • Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner
  • ISBN 978-3-85256-849-2 (Folio Verlag)
  • 180 Seiten. Preis: 22,00 €
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Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
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Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Dass die Literatur sich wandelt und sich immer wieder neuen Themen zuwendet, das ist ja zugegeben eine Binsenweisheit. Trends kommen und gehen, gerade auf dem schnelllebigen Literaturmarkt der Gegenwart versuchen viele Verlage gleichzeitig, Themen, die en vogue sind zu bedienen. Das ist mal verzichtbar, wie etwa vor wenigen Jahren die vielfachen Vatikan-Thriller oder nun das Segment der True-Crime-Literatur oder das der austauschbaren historischen Sagas rund um Kinos, Kaufhäuser oder Fabriken. In anderen Fällen ist das mehr als begrüßenswert. Insbesondere dann, wenn sich Literatur vermehrt tabuisierten Themen zuwendet und damit Diskurse anstößt, bereichert und Bewusstsein schafft.

Jüngst ist das beim Thema Vergewaltigung und des damit verbundenen Komplexes aus Scham, Schuldfragen, Verarbeitung und Traumatisierung zu erleben. Bettina Wilpert etwas erzählte in nichts, was uns passiert von einer Vergewaltigung in einer Leipziger Sommernacht – und dem, wie die beiden Beteiligten und ihr Umfeld auf jene Nacht blickten.

Auch Karine Tuil behandelte in Menschliche Dinge das Thema des Missbrauchs eingebettet in die Frage nach Machtmissbrauch und Öffentlichem Diskurs in Frankreich. Auf einen solchen Überbau verzichtete Sophie Hardcastle in ihrem Debütroman und erzählte ganz nah an ihrer Protagonistin von einer Vergewaltigung Unter Deck, die sich auf einer Schiffsüberfahrt ereignete. Damit schuf sie ein wirklich gelungenes Buch, das die Erfahrung einer Verarbeitung genauso wie die schwierige Verarbeitung eines solch einschneidenden Erlebnisses erfahrbar macht.

Auch Antje Rávik Strubel stellt nun das Thema der Vergewaltigung in den Mittelpunkt ihres neuen Romans Blaue Frau. Sie erzählt darum herum vom Wunsch nach Gerechtigkeit, politischer Arbeit und der EU-Osterweiterung. Themen, die zunächst vielleicht disparat klingen, im Laufe des Buchs aber doch ganz gut zueinander finden.

Der letzte Mohikaner von Harrachov

Antje Rávik Strubel - Blaue Frau (Cover)

Alles beginnt mit einer Flucht, und zwar der von Adina. Diese hat in einem Hotel in Helsinki Zuflucht gefunden. Dort im Hotel haust sie als Zimmermädchen in einer kleinen Abstellkammer und kämpft mit sich selbst, um einen Vorfall zur Anklage zu bringen. Als sie den EU-Parlamentarier Leonides aus Estland kennenlernt, öffnet sich Adina Stück für Stück. Damit erschließt sich auch für uns Leser*innen langsam die Lebensgeschichte der jungen Frau.

So wächst Adina in Harrachov bei ihrer Mutter auf. Das kleine tschechische Städtchen an der Grenze zu Polen wird in der Wintersaison von Skifahrer*innen überrannt, ansonsten bietet das Leben dort im Schatten des Čertova hora wenig Anreiz für eine junge Frau. Übergriffige Skifahrer, wenig Gleichaltrige und viel freie Zeit, das sind Erfahrungen, die Adina dort macht. Nur im Internet findet sie in Form des Chatforums Rio Ablenkung und kann dort ihre Gefühle artikulieren. Bezeichnend der Name, den sie sich dort selbst gibt, nämlich den des Mohikaners.

Adina entflieht der Einsamkeit dort im Riesengebirge nach Berlin. Die deutsche Großstadt ist der Sehnsuchtsort der jungen Frau. Dort lernt sie Rickie kennen, eine unkonventionelle Fotografin, die Adina fasziniert. Ihr gelingt es mit ihrem Porträt von Adina, die Seele der jungen Frau freizulegen, was diese nachhaltig beeindruckt. Doch wie urban, aufregend und so ganz anders als im tschechischen Riesengebirge das Leben auch sein mag – Adina ist trotzdem auf einen Job angewiesen, um sie über Wasser halten zu können

Ein Übergriff in der Uckermark

Diesen Job vermittelt ihr Rickie in der Uckermark. Dort an der Grenze zu Polen soll eine Art kulturelles Begegnungszentrum entstehen, das den europäischen Osten mit dem Westen in Austausch bringen soll, so die hochtrabenden Pläne des Hausherren Stein. Der ebenso charismatische wie jähzornige und mit durchaus borderlinehaften Zügen ausgestattete Mann stellt Adina für sein Haus ein, wo sie für einen Hungerlohn schuften darf. Während Stein bei Investoren und Delegationen um Unterstützung wirbt, dient ihm Adina als offizielles Gesicht des Projekts, das er gezielt als Instrument zur Überzeugung der Besucher einsetzt. Die junge Frau aus dem Osten Europa ist das Aushängeschild für die künftigen Vorhaben dort in der uckermärkischen Provinz. Mit ihrer Vita soll sie dem Projekt die nötige Glaubwürdigkeit geben, auch wenn sie Stein mit dem Namen „Nina“ dafür noch etwas weiter „ostisiert“.

Doch die Ausnutzung der jungen Frau geht schief, als ein gut vernetzter Politiker das im Entstehen begriffene Projekt besucht. Die bereits zuvor irgendwo zwischen seriösen Verhandlungen und Bunga-Bunga changierenden Gespräche dort im Haus kippen in jener Nacht vollends. Es kommt zu einem Übergriff, der Adina verstummen lässt. Vor Ort glaubt man ihr nicht, schließlich „seien diese Art von Anschuldigungen ja gerade wirklich en vogue“. Unbehelligt verlässt ihr Peiniger den Hof und Adina verstummt. Sie tritt über verschiedene Länder die Flucht in den Norden an, wo sie sich schließlich in einem Plattenbau wiederfindet und wo die Geschichte beginnt.

Ungewöhnliche Erzählweise und vielschichte Gestaltung

Dass die Erfahrung einer Vergewaltigung die Wahrnehmung und das Erinnern durcheinanderwirbelt, das bildet Antje Rávik Strubel in ihrem Buch literarisch geschickt nach. So legt sie den Kern ihrer Erzählung erst langsam frei. Bevor es so weit ist, streift immer wieder die Blaue Frau durch das Buch, die in kleinen Szenen und Einschüben der Ich-Erzählerin begegnet. Ist es Adina, existiert diese Frau überhaupt? Hier verschwimmt alles und ist interpretationsbedürftig.

Auch widersetzt sich Rávik Strubel den Erwartungen und beginnt ihre Geschichte nicht linear. Verschiedene Einsprengsel der Geschichte blitzen immer wieder an verschiedenen Stellen auf, vom Anfang in Helsinki geht es dann erst ins Riesengebirge, bevor die Erfahrungen im Kulturhaus in der Uckermark langsam präziser werden. Mal verschwindet die Blaue Frau aus der Erzählung, dann taucht sie später in hoher Frequenz wieder auf. Erinnerungen werden durcheinanderwirbelt, Gewissheiten verschieben sich, man muss sich erst in die erzählte Welt hineintasten.

Das ist beeindruckend gemacht und zeigt die Unsicherheiten, die Adina aufgrund ihrer Erfahrungen nun zu eigen sind. Ambivalent und nachvollziehbar zeigt die Autorin, wie die Erfahrung und Verarbeitung eines Missbrauchs wirken – und wie sie Menschen verändern können.

Auch mit einer politischen Ebene ausgestattet

Neben der emotionalen Ebene hat das Buch aber auch eine große politische Dimension. Antje Rávik Strubel blickt auf die Sollbruchstelle von Ost- und Westeuropa. Leonides als Parlamentarier bringt diese Ebene mit ins Buch. Adina und ihn verbindet der Blick aus der osteuropäischen Perspektive, die doch so oft gegen den westlich zentrierten Blick und Machtanspruch verliert. Er aus Estland, sie aus Polen, gemeinsam verbunden in der Fremde.

Der schwierige Prozess einer juristischen Aufarbeitung einer Vergewaltigung wird von Antje Rávik Strubel genauso thematisiert wie die Janusköpfigkeit von politischen Gremien, deren Worte und Taten oftmals eklatant auseinanderklaffen. So soll dem Vergewaltiger von Adina am Ende des Buchs der Eeva-Liisa Manner-Preis zuerkannt werden. In der Folge der Vorbereitung kommt es zu einer Debatte, bei der politische und vor allem gesellschaftliche Ressentiments aufeinanderprallen.

Sexuelle Fehltritte unterliefen den Besten, darüber herrschte weitgehend Einigkeit. Würde man anfangen, sich an persönlichen Mängeln zu stoßen, hätte man für den Preis bald keine Kandidaten mehr.

„Der Mann wird für seine Arbeit ausgezeichnet, nicht für sein Gefühlsleben!“, wandte jemand entnervt ein (…). „Solange gerichtlich nichts vorliegt, tangiert uns das doch überhaupt nicht. Sonst könnte in Zukunft jeder kommen, der irgendwas an unseren Preisträgern nicht passt“

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau, S. 414 f.

Das ist vielleicht etwas überdeutlich, transportiert das Anliegen von Antje Rávik Strubel aber auch auf dieser Ebene ganz klar.

Verständlich wird es vollends, wenn die Autorin selbst im Gespräch erklärt, acht Jahre an diesem Buch gearbeitet zu haben und immer wieder auf die Fälle von vergewaltigten Frauen stieß, das sie schließlich so aufgebracht und emotionalisiert habe, dass sie die Arbeit in Blaue Frau eineinhalb Jahr lang ruhen ließ.

Fazit

Das Buch hat einen gesellschaftlichen Anspruch, weiß durch eine genaue sprachliche Gestaltung mit viel Raum für Interpretation zu überzeugen und steht in meinen Augen völlig folgerichtig auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2021. Ein Buch mit persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene, ambivalent, relevant, sich ganz klaren Ausdeutung entziehend und diskursbereichernd. Nicht unwahrscheinlich, dass dieses Buch den Sieg in Frankfurt erringen könnte.

Weitere Stimmen zu Antje Rávik Strubels Buch gibt es unter anderem bei Letteratura, Literatur leuchtet und Aufklappen.


  • Antje Rávik Strubel – Blaue Frau
  • ISBN 978-3-10-397101-9 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 24,00 €
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Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel

Keine Hoffnung, nirgends. Donald Ray Pollock entführt in seinem dritten auf Deutsch vorliegenden Roman Die himmlische Tafel in eine Welt, in der Not, Elend und Gewalt dominieren. Eine triste Reise, mitreißend geschildert.


Alles beginnt mit dem Farmer Pear Jewett. Dieser legt mit seinen Söhnen einen protestantischen Arbeitseifer an den Tag. Bettelarm schuftet er mit ihnen Tag für Tag und hat sein großes Ziel vor Augen: einen Platz an der himmlischen Tafel, den er sich verhofft. In Kontakt mit dem Jenseits gerät er allerdings schneller als gedacht. Schon zu Beginn des Buchs verstirbt er und hinterlässt seinen drei Jungen keinerlei irdischen Besitz. Im ärmlichen Georgia beschließen die drei, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Orientierung verheißt ihnen dabei der Groschenroman Bloody Bill Bucket, der das Leben eines Outlaws beschreibt.

Die drei Brüder eifern ihrem Vorbild nach und beschließen, eine Bank zu überfallen. Doch bei einem Überfall soll es nicht bleiben. Und schon bald zieht sich eine Schneise der Gewalt und Brutalität durch ganz Georgia. Allerdings machen auch eine ganze Reihe von Bürgern Jagd auf die drei. Vom Playboy bis zum ausgeraubten Händler jagen alle möglichen Verfolger den Outlaws hinterher. Da wird es schwierig mit einem Platz an der himmlischen Tafel.

Eine Hymne auf den Dilettantismus

Die himmlische Tafel ist ein Buch, das den Diletantismus feiert und in allen Facetten inszeniert. Denn wenngleich man mit den Stichworten Outlaws, Banküberfälle und Fluch viel Hollywoodglanz á la Butch Cassidy and the Sundance Kid verbindet, besitzt Donald Ray Pollocks Buch nichts davon. Die Überfälle sind dilettantisch, die Verfolger stolpern oftmals eher über die eigenen Füße denn über die Gesuchten. Bis es zum (ebenfalls recht schlampig und fehlerhaft) durchgeführten Showdown kommt, vergehen viele hundert Seiten.

Diese Seiten sind randvoll mit Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Armut, die plastisch geschildert werden. So etwas wie Sympathieträger findet man in Roman eh kaum. Vielmehr zeigt Donald Ray Pollock Figuren, die denkbar weit weg sind vom amerikanischen Traum. Im Militär herrschen intellektuelle Ödnis, dumpf brodelndes Machotum und Homophobie, die Farmer schuften und arbeiten sich auf, ohne je einen Silberstreif am Horizont zu erahnen. Hochstapler, Huren und und Hallodris bevölkern das Pollock’sche Georgia 1917 en masse. So entsteht ein schmutziger Thriller, der das Tun und Treiben der drei Outlaws genau betrachtet, sich aber auch Zeit für etwas grimmigen Humor nimmt.

Fazit

Die himmlische Tafel ist ein Buch, das sehr explizit die Gewalt schildert, die die drei Brüder im Hinterland der USA hinterlassen. Dabei gelingt Donald Ray Pollock ein Buch, das eine Vielzahl von Figuren in den Blick nimmt. Eindringlich schildert er das Leben im amerikanischen Hinterland, das sich trotz des Jahres 1917 eher wie das 18. Jahrhundert anfühlt. Ein Buch mit hoher Plastizität, zurecht mit dem Deutschen Krimipreis 2017 ausgezeichnet und famos ins Deutsche übertragen von Peter Torberg. Eine echte Backlistperle aus dem Liebeskind-Verlag!


  • Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-95438-065-7 (Liebeskind)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Mirko Bonné – Seeland, Schneeland

Vor fünfzehn Jahren erschien der Roman Der eiskalte Himmel von Mirko Bonné. Er erzählte darin von der Expedition Ernest Shackletons, den diesen und seine Mannschaft ins ewige Eis und an den Rand des Todes führte. Mit an Bord der Endurance damals: ein blinder Passagier. Der Name des damals 17-Jährigen: Merce Blackboro. Wie ging es für ihn nach der Rückkehr aus dem Eis weiter? Davon erzählt Bonné nun in Seeland, Schneeland.

Es ist ein trauriges Leben, das Merce in seiner walisischen Heimat fristet. Sieben Jahre sind seit der Shackleton-Expedition vergangen. Seine Geschwister haben ihren Platz im Leben gefunden, Merce sucht ihn immer noch. Eigentlich wartet auf ihn die Fortführung des Familienbetriebs, die traditionelle Zimmerei, die seit Jahrhunderten Schiffe ausstattet. Doch es ist die Liebe zu Ennid Muldoon, die Merce wirklich umtreibt und ihn nicht loslässt. Nur eine kurze Zeit war ihm mit der jungen Frau vergönnt, sie hat sich ihm aber unauslöschlich eingebrannt.

Während Merce von seinen Erinnerungen wie gelähmt ist, will Ennid Muldoon derweil ein neues Leben beginnnen. Hinaus aus der walisischen Enge, die sie an den Tod ihres Mannes erinnert, hinaus ins Weite. Amerika ist ihr Ziel, weshalb sie eine Passage auf dem Auswandererschiff Orion gebucht hat. Ein weiterer Gast auf diesem Schiff: der Millionär, Erbe und Trinker Diver Robey, der in Wales Flugzeuge inspiziert hat und der sich nichts lieber als von seinem familiären Erbe emanzipieren möchte.

Eis auf dem Schiff, Eis auf der Seele

Mirko Bonné - Seeland, Schneeland (Cover)

Diese drei Figuren beobachtet Mirko Bonné in Seeland, Schneeland. Aufgrund des Klappentextes und der Beschreiung könnte man einen wuchtigen Abenteuerroman alter Schule erwarten. Ein im Schneesturm festsitzendes Schiff. Ein Mann auf Rettungsmission, getrieben von Liebe und Sehnsucht. Die Erinnerungen an die Shackleton-Expedition ins ewige Eis. Die Motive für eine solche Gattung von Literatur sind allesamt vorhanden. Und ja, Bonné bedient diese Erwartungen auch und findet große Bilder für die Actionszenen.

Allerdings handelt Seeland, Schneeland noch viel mehr vom Blick ins Innere der Menschen. Er zeigt Figuren, deren Seelenleben wie hinter dicken Schichten aus Eis verborge ist. Die sich nicht wohl in ihrem Leben fühlen, die nach Tiefe, Wahrhaftigkeit und dem Echten streben. Figuren, die das Trinken oder das selbstversunkene Grübeln als Bewältigungsstrategien für ihre Leben gewählt haben. Im Falle von Merce Blackboro müsste man in meinen Augen hier schon von einer ausgewachsenen Depression sprechen.

Im Schildern dieser Seelenzustände ist Mirko Bonné sehr stark. Eis auf dem Schiff vor der Küste Schottlands, Eis auf den Seelen seiner Figuren. Damit dürfte er reine Abenteuerpuristen ein Stück weit verschrecken. Immer wieder versinkt Merce im Trübsinn und taumelt durch die Straßen Newports, während sich der Regen auf die Gassen der Stadt am Severn erießt. Ebenso verzweifelt versucht sich Ennid Muldoon auf der Orion in die Lektüre von Tolstois Anna Karenina zu stürzen. Besonders das Schneekapitel hat es ihr angetan. Aber auch in der Lyrik Keats und Yeats sucht sie Ablenkung.

Es lohnt sich aber, mit Bonné in die Abgründe der Seelen seiner Figuren hinabzusteigen. Glaubhaft vermittelt der Hamburger Autor das Zaudern und die Flucht vor den eigenen Bedürfnissen. Seine Sprache ist fein beobachtend, zurückhaltend, von großer Kraft und Ausdrucksfähigkeit. Bonnés zweite Passion als Lyriker und Übersetzer kann diese genaue und variantenreiche Prosa nicht verhehlen – und sie will es zum Glück auch nicht.

Am Ende doch noch ein Abenteueroman

Eine etwas austariertere Balance zwischen der Introspektive und der Handlung hätte ich mir an manchen Stellen des Buchs gewünscht. Gerade zum Ende des Buchs hin löst Bonné dann aber auch viele Versprechen ein, die die Beschreibung des Buchs bei mir weckte. Das sich beschleunigende Geschehen auf dem Schiff und die Reise Merce Blackboros geben dem Roman sichtlich Schwung. Immer wieder wechselt Bonné die Perspektive und lässt seinen Blick durch die Gänge des Schiffs und die verschiedenen Kabinen gleiten. Irgendwo zwischen Titanic, Jack London und Herman Melville kommt Seeland, Schneeland zum Ende.

Abenteuerfans, die bis hierhin durchgehalten haben, werden auf den letzten Metern doch noch belohnt. Aber auch ohne solche Erwartungen lohnt dieses Buch, da Bonné der Spagat aus Abenteuerroman alter Schule und genauer Beschreibungen von Erwartungen, Depressionen und Ängsten überzeugt. Dass die Sprache zudem sehr stark ist, kommt Seeland, Schneeland sehr zupass.


  • Mirko Bonné – Seeland, Schneeland
  • ISBN 978-3-89561-410-1 (Schöffling)
  • 448Seiten. Preis: 24,00 €
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