Der kleine Garten am Rande der Welt. In seinem neuen Roman Oben in den Wäldern erzählt Daniel Mason literarisch clever verzahnt von der wechselvollen Geschichte eines Gartens im Hinterland von Massachusetts – und vom Werden und Vergehen im Lauf der Zeit. Literatur, die sich unterschiedlicher literarischer Erzählformen bedient und damit zu überzeugen weiß.
Zwei Romane sind von Daniel Mason bereits in deutscher Übersetzung erschienen. Auf Der Wintersoldat und Der Klavierstimmer Ihrer Majestät folgt nun das von Cornelius Hartz ins Deutsche übertragene Oben in den Wäldern. Von allen drei Büchern ist dies hier Masons bislang bester Roman, weil auch literarisch am überzeugendsten. Denn Daniel Mason gelingt hier ausgehend von einem Garten als erzählerischen Herzstück eine kunstvoll miteinander verbundene Geschichte, die durch ihre stilistische Collagentechnik und Formenvielfalt einen großen Reiz entfaltet.
Geschichte in Massachusetts
Ausgangspunkt des Ganzen ist ein junges Paar, das sich in den Tagen der ersten Siedler nach der Flucht vor ihren Häschern auf dem Grund des neu entdeckten Kontinents niederlässt. Er kam als Immigrant aus England nach Amerika, sie verliebte sich in Neuengland in ihn, beide schwören sich in einem fast heidnischen Ritual den Bund fürs Leben und leben fortan in den Wäldern Neuenglands, um sich dort die Erde untertan zu machen.
Schon nach wenigen Seiten bricht diese Erzählung zugunsten eines „Todesengel-Briefs“ ab, in dem eine Frau in einem altertümlichen, elliptischen Ton erzählt, wie sie mit ihrem jungen Kind vor Mord und Totschlag floh, bei einer Frau in deren Hütte Unterschlupf fand und wenig später selbst zu Axt und Muskete griff, um mehrere Soldaten zu töten, die ihrer habhaft werden wollten.
Diese beiden kurzen Geschichte in einem jeweils ganz eigenen Erzählton bilden die Anfangskapitel eines Reigens, dem viele weitere Episoden folgen werden, die von der Zeit der Gründungstage der USA bis in die Gegenwart hineinschreiten (für die Cornelius Hartz ein ebenso variantenreiches und spielerisches Deutsch findet).
Ein Netz an Themen und Figuren – mit einem Garten im Zentrum
Viele Motive und Figuren schälen sich aus den nun folgenden gut vierhundert Seiten allmählich heraus. Die größte Bedeutung als einer Art Ureltern-Generation aller folgenden Ereignisse kommt dabei den Osgood-Schwestern zu.
Diese übernahmen einst von ihrem Vater die Apfelplantage, die dieser nach seiner Zeit als Soldat begründet hatte. Dieser hatte in einer ruhelosen Suche, die ihm von seinem Umfeld schon als Wahn ausgelegt wurde, nach dem perfekten Apfel gesucht. Fündig wurde er durch Zufall im Hinterland von Massachusetts, wo er ein altes Haus vorfand, das ihm Heimstatt wurde und von dem aus er an seinem Plan der Zucht des perfekten Apfels arbeitete.
Die Schwestern widmeten ihr ganzes Leben nun der Hege und Pflege des von ihrem Vater hinterlassenen Erbes. Sie lassen in einer geradezu bukolischen Idylle Schafe zwischen den Bäumen weiden, kultivieren den angrenzenden Garten – und doch ist auch diesem Erzählstrang schon das eingeschrieben, was im Folgenden eines der großen Vorzeichen ist, unter dem die mühsam aufgebaute Idylle steht, nämlich der Verfall.
Denn was damit beginnt, als eine der Schwestern nicht nur sprichwörtlich die Axt an einige der Apfelbäume legt, wird sich im Folgenden fortführen. Hotelbesitzer, Liebespaare, Insekten und Pilzsporen, sie alle tun ihr Übriges, um die einstige Pracht der Plantage zu Fall zu bringen.
Hundert Jahre sind vergangen, seit der Berglöwe alle Schafe der Osgoods gerissen und Veränderungen in Gang gesetzt hat, die die Landschaft rund um das Haus stark geprägt haben. Das Weideland ist Brombeergestrüpp gewichen, das Brombeergestrüpp Unterholz und das Unterholz Birken und Kiefern, Aus den Vorräten, die das Eichhörnchen angelegt hatte, das eines winterlichen Morgens von einer Eule erbeutet worden ist, sind Eichen, Buchen und Kastanien gewachsen. Im Lauf der Jahre sind in dieses zweite Stück Wald mehrere kleinere Lichtungen geschlagen worden: ein Gemüsegarten, ein Krocket-Rasen für Hotelgäste, die niemals kamen. Am Rande ebenjenes Rasens steht eine Buche, die geschwächt ist durch einen Riss, den ein morgendlicher Frostanfall verursacht hat, sowie durch die Übergriffe von Spechten und Miniermotten, die kryptische Runen in die Blätter geritzt haben.
Daniel Mason – Oben in den Wäldern, S. 239
Das Werden und Vergehen als große erzählerische Motive
Ähnlich wie Annie Proulx interessiert sich auch Daniel Mason hier für die langen Zeitläufe, das Auf und Ab im ökologischen Gleichgewicht und die Mitwirkung des Faktor Mensch über die Jahrhunderte hinweg.
Ein Maler, dem das Haus und der angrenzende Wald später als Rückzugsort und für Inspiration dient, einfallende Liebespaare, die die Hütte nutzen, ein Jäger, der aus dem Gelände rund um das baufällige Haus, in dem seit den Anfangstagen des Landes immer wieder Menschen Zuflucht fanden, ein Hotel machen will (es dann aber mit Geistern zu tun bekommt): immer wieder tauchen Figuren und Motive als Widergänger auf, hat das Erbe, das einst mit dem „Todesengel“ und des jungen Paars auf der Flucht begann, Auswirkungen auf die Gegenwart, spinnen sich frühere Motive und Schicksale fort, bilden erzählerische Fäden ein ganzes Knäuel aus Bezügen.
Der Apfel als Symbol der Pracht und des Begehrens, eine alte Bibelausgabe mit Notizen, die Osgood-Schwestern mitsamt der von ihnen verfassten Balladen, die immer wieder zwischen den insgesamt etwa zehn Kapiteln und Geschichten auftauchen, ein irrlichternder Berglöwe – alles ist hier mit allem verbunden, wie es auch im konzeptionell ähnlichen strukturierten Roman Der Wolkenatlas von David Mitchell heißt.
Eine Fülle an Erzählformen
Besonders schön an diesem Roman ist neben aller erzählerischen Verzahnung von Motiven und Figuren über die Jahrhunderte hinweg auch die bewundernswerte Fülle an Erzählformen und -weisen.
Neben den schon erwähnten Balladen und Briefen gibt es die herzzerreißende Korrespondenz zwischen einem Maler und Dichter, bei dem sich alles Entscheidende nur zwischen den Zeilen abspielt. Ein Redemanuskript zu einem Vortrag, eine Studie zum psychischen Status eines Patienten, der großartig parodierte Stil eines Revolvermagazins aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (das mit seinem Titel True Crime schon heutige Sensationslust und Gewaltfaszination vorwegnimmt). All das und noch so viel mehr steckt in dieser literarischen Wundertüte namens Oben in den Wäldern.
Bei so viel erzählerischer Kreativität verzeiht man Daniel Mason auch die unfreiwillig komische Perspektive eines Ulmensplintkäfers, dessen sexuelle Begierde den Niedergang des einstigen Prachtgartens beschleunigt. Hier einmal etwas zu sehr verrutscht zeigt das Buch aber ansonsten in einer wirklich großartigen Qualität, wie sich Nature Writing, konzeptionelle Finesse und erzählerische Fabulierlust zu einem großartigen und kurzweiligen Leseerlebnis vereinen. In diesen literarischen Garten darf man sich gerne wagen – und immer wieder kommen. Es gibt nämlich so viel zu entdecken!
- Daniel Mason – Oben in den Wäldern
- Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
- ISBN 978-3-406-81381-8 (C. H. Beck)
- 429 Seiten. Preis: 26,00 €