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Négar Djavadi – Die Arena

Kaum bricht sie an, die Zeit der Wahlkämpfe, dann ist es auch wieder Zeit für Veranstaltungen, die gerne einmal den Titel „Die Arena“ oder „Die Wahlkampfarena“ tragen. Das Parteienpersonal nimmt in solchen Veranstaltungen Stellung und bekennt Farbe in Konfrontationen, wie es dann immer in Werbungstexten heißt. So richtig hoch her geht es bei solchen Konfrontationen selten. Ganz anders die historischen Arenen im römischen Weltreich, die noch für Massenspektakel, Gewalt und Tod standen und die von den heutigen Arenen etwa so weit entfernt sind wie Italien von stabilen politischen Verhältnissen.

Négar Djavadi hat nun einen Roman geschrieben, der ebenfalls den Titel Die Arena trägt und der sich thematisch zwischen phrasenreichem Wahlkampf und tödlichem Spektakel im alten Rom einordnet. Darin zeigt sie ein Paris im Ausnahmezustand, das wenig mit Eiffelturm und Croissant-Seligkeit zu tun hat, als vielmehr eines, das von Gangkriegen und Polizeigewalt inmitten eines Wahlkampfs um das Amt des Pariser Bürgermeisters erschüttert wird.


Dass ein Riss durch die französische Bürgerschaft geht, das haben die jüngsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen deutlich gezeigt. Nachdem sich Amtsinhaber Emmanuel Macron in einigen Arena-Debatten mit seiner rechten Herausforderin Marine Le Pen maß, behielt er zwar sein Präsidentenamt, wenige Wochen später verlor er allerdings die Mehrheit im Parlament und die extremen Ränder wurden durch die Wahlen gestärkt.

Dieses Gefühl gravierender politischer Veränderung, der Hinwendung zu extremen Positionen und gärende Wut im Volk scheint immer wieder in Die Arena durch, wenn diese Gefühle nicht sogar das ein ums andere Mal offen zutage treten. Négar Djavadi thematisiert dies, indem sie als Form den klassisch-realistischen Großstadtroman in der Tradition eines Émile Zola oder Honoré de Balzac wählt.

Verschiedene Figuren, verschiedene Milieus

Eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren rückt sie in den Mittelpunkt, die pars pro toto für verschiedene Paris oder vielmehr französische Milieus und Gesellschaftsschichten stehen.

Alles beginnt dabei mit dem Mord an einem Teenager im Müllraum eines Mehrparteienhauses, für den eine verfeindete Gang wenig später Rache übt.

Ja, seit September hat es schon zwei [Abrechnungen] gegeben… Die letzte war Ende Januar, da wurde ein Jugendlicher tot im Müllraum der Cité Rouge gefunden. Le Parisien brachte keine vier Zeilen darüber, und in den anderen Zeitungen stand gar nichts! Adam hatte es mir nach der Schule erzählt… Vierte Klasse, stell dir vor…“

„Cité Rouge gegen Grange-aux-Belles, richtig?“

„Offensichtlich… Aber da ist noch die Cité Blanche, die Beihilfe leistet oder mitmacht (verdrossenes Kopfschütteln). Es ist alles so undurchsichtig, dass du nicht wirklich weißt, was vor sich geht. Issa ist der Dritte in fünf Monaten.

Négar Djavadi – Die Arena, S. 293

Die Gangs der unterschiedlichen Stadtviertel bekriegen sich – und mitten hinein in diesen Konflikt wird auch Benjamin Grossmann gezogen. Dieser ist eigentlich ein erfolgreicher Jetsetter unter Dauerstress. Für die französische Produktionsplattform BeCurrent arbeitet er als französischer Lokalchef, betreut die Entwicklung neuer Serienformate (auch hier wieder der Anknüpfungspunkt zum Serienschreiber Balzac), fungiert als Mittler zwischen vielversprechenden Kreativen und seinen amerikanischen Chefs. Kurzum, Grossmann steht für eine echte Upperclass-Existenz zwischen Schickeria und Dauerstress.

Als ihm nun sein Handy geklaut wird, potenziert sich Grossmanns Stress noch einmal deutlich. Denn für seinen Job ist das Telefon eigentlich unerlässlich, weshalb er vor seinem Umfeld den Verlust des Mobiltelefons kaschiert. Einen Jungen, den er im Verdacht hat, sein Telefon gestohlen zu haben, stellt er in der Nacht des Verlustes noch zur Rede und schreckt bei der Konfrontation auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück.

Eine Debatte über Polizeigewalt

Négar Djavadi - Die Arena (Cover)

Als nun der vermeintliche Handydieb tot aufgefunden wird, ist Grossmann alarmiert. Doch statt ihn als Verdächtigen zu vernehmen, ist die Polizei erst einmal auf sich selbst konzentriert. Denn die Polizistin, die den toten Jungen entdeckte, hat sich zu einer Unüberlegtheit hinreißen lassen und dem Toten einen Tritt versetzt, ehe sie dessen Ableben feststellte. Dieser Tritt wurde gefilmt und verbreitet sich nun auf den sozialen Kanälen reißend schnell. Ein Shitstorm gegen die Polizei nimmt ihren Lauf, auf Twitter und Co. verbreitet sich das Video wie ein Flächenbrand und befeuert die Debatte um Polizeigewalt.

Populistische Talkshow-Gäste gießen zusätzlich noch ins Öl ins Feuer und sorgen schnell für eine Eskalation der Ereignisse, während Benjamin Grossmann hofft, sich dem Interesse in der Debatte entziehen zu können. Und das alles findet zur Hochzeit des Kampfs um das Bürgermeisteramt der Stadt Paris statt.

Von moderato bis furioso

Die Arena orientiert sich grundsätzlich an den eben schon erwähnten literarischen Vorbildern und erzählt immer wieder abwechselnd von ganz unterschiedlichen Figuren, darunter Polizist*innen, Migranten, Gangmitglieder, respektable Bürger*innen, Talkshow-Gäste, Geflüchtete und Politiker*innen. Djavadi begnügt sich aber nicht mit dem Ausfüllen der bekannten Romanstruktur, sondern entwickelt dieses Erzählkonzept weiter, indem sie den durch Twitter und einschlägige digitale Plattformen befeuerten Shitstorm anschaulich erzählt und auch Textnachrichten und Tweets in ihre Erzählung einbettet.

Gut gelingt Djavadi dabei auch zu zeigen, wie der Shitstorm in der digitalen Welt dann schließlich auf die reale Welt übergreift. Konsequent und plausibel demonstriert sie, wie die in der Gesellschaft beständig köchelnden Konflikte um die altbekannten Themenfelder (öffentliche Ausübung der eigenen Religion in einem laizistischen Staat, etc.) immer stärker befeuert werden und auch durch eine entsprechende mediale Begleitung schließlich im Straßenkampf enden (was auch an Ladi Lys Film Die Wütenden – Les Misérables aus dem Jahr 2019 erinnert).

Ganz folgerichtig ist ihr Roman innerhalb der beiden Erzählklammern Präludium und Postludium durch die inkrementalen musikalischen Bezeichnungen moderato, crescendo und furioso strukturiert, die auch stellvertretend für die öffentliche Meinung und das Erregungsniveau stehen. Diese Steigerung der Erregung und Gewalt ist eindrücklich gestaltet, wenngleich das Personenensemble das ein oder andere mal eine leichte Unwucht aufweist – angesichts der dahinterstehenden Fragen und der gesellschaftskritischen Analyse des Buchs fällt das allerdings nicht wirklich stark ins Gewicht, erzählt Négar Djavadi doch mit großem Anspruch und wagt sich an die Vermessung der gesamten französischen Gesellschaft.

Fazit

In Sachen bissiger und zeitkritischer Gesellschaftsromane sind uns die französischen Autor*innen weit voraus. Das beweist Michel Houellebecq, das beweist Karine Tuil und das zeigt nun auch Négar Djavadi auf beeindruckende Art und Weise. In ihrer Arena treffen unterschiedliche Milieus, Interessen und Persönlichkeiten aufeinander und ergeben ein düsteres Bild der französischen Gesellschaft.

Dass da etwas in unserem Nachbarland aus den Fugen gerät, illustriert die iranischstämmige Autorin und Filmemacherin eindrücklich und erweist sich damit als hellsichtige Diagnostikern bestehender Zustände. Mit Die Arena war sie den Ereignissen des französischen Wahlkampfs sogar um ganze zwei Jahre voraus.

Ein dichter, figurenreicher und sehr politischer Großstadtroman, der seinen großen Vorbildern gekonnt folgt und der trotzdem absolut zeitgemäß und eigenständig bleibt.


  • Négar Djavadi – Die Arena
  • Aus dem Französischen von Michaela Meßner
  • ISBN 978-3-406-79126-0 (C.H. Beck)
  • 463 Seiten. Preis: 26,00 €
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Eva Ladipo – Räuber

„Karlsruhe kippt den Mietendeckel“. Diese Nachricht sorgte vor einigen Tagen für bundesweite Aufmerksamkeit. So kassierte Deutschlands höchstes Gericht den Versuch des Berliner Senats, die Mieten zu deckeln. Einstweilen fand damit der politische Versuch ein Ende, die Mieten im Ballungsraum auf einem wenigstens etwas erschwinglichen Niveau einzufrieren. Der Jubel der Vermieter und die Klagen einiger politischer Parteien und Mieterverbände ließ nicht lange auf sich warten.

Vom Kampf gegen Mietwucher und zivilen Widerstand in Berlin erzählt auch Eva Ladipo in ihrem Roman Räuber. Sie beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn man aus seinem angestammten Zuhause vertrieben wird und zu welchen Exzessen die Mietpolitik in Deutschland bereits geführt hat. Ein Roman, der eine der drängendsten Fragen unserer Tage thematisiert: wie geht bezahlbares Wohnen?


Drei Figuren aus ganz unterschiedlichen Schichten sind es, die Ladipo in den Mittelpunkt ihres Roman stellt. Da ist Olli Leber, ein Arbeiterkind, der binnen Kurzem zwei Schicksalsschläge verkraften muss. Zunächst stirbt sein Vater und dann wird auch noch das Haus, in dem er und seine Mutter wohnen, von eine Konsortium namens Europäische Wohnen aufgekauft. Der Auszug der beiden ist damit unausweichlich. Doch wohin in einer Stadt mit Hartz IV und unregelmäßigem Einkommen?

Bei ihrem Umzug vor elf Jahren war die Gegend ein zurückgebliebenes Armenviertel gewesen. Niemand mit Geld hatte jenseits des S-Bahn-Rings wohnen wollen. Die Ringbahntrasse war die neue Mauer, sie hatte Arm und Reich zuverlässig voneinander getrennt. Dass diese neue Mauer noch schneller fallen sollte als die alte, hätte niemand für möglich gehalten. Auch er nicht. Diese verdammten Gleise hatten ihn in falscher Sicherheit gewiegt. Obwohl er den Goldrausch tagtäglich von Nahem erlebte, obwohl er wusste, welche Reichtümer sich aus dem Geld schöpfen ließen, das in unerklärlichen Strömen in Berliner Immobilien floss, hatte er geglaubt, in der abgerockten Sozialwohnung hinter den Gleisen seien sie in Sicherheit.

Eva Ladipo – Räuber, S. 41

Vom Mietrecht und Unrecht

Eva Ladipo - Räuber (Cover)

Die zweite Hauptfigur ist Amelie Warlimont. Sie ist mit dem Chefredakteur der kriselnden Berliner Post verheiratet. Das jüngste von zwei Kindern ist gerade einmal 13 Wochen alt, da gesteht ihr der meist absente Kindsvater, dass er eine Affäre hat. Aus der Bahn geworfen begegnet Amelie Olli Leber und hat plötzlich wieder ein Ziel vor Augen. Dieser will gegen die Enteignung als Mieter kämpfen und die Mietwohnung seiner Mutter behalten, schließlich war das das Versprechen des verstorbenen Vaters: ein Dach über dem Kopf, für den Rest des Lebens. Amelie hilft dem jungen Bauarbeiter bei seinem Kampf gegen die Europäische Wohnen und stößt darüber auf einen alten Bekannten: den ehemaligen sozialdemokratischen Finanzsenator Falk Hagen, der der Politik mittlerweile den Rücken gekehrt hat.

Dieser hat erkannt, dass der Wohnungsmarkt deutlich erträglicher als das Feld der Politik ist. Zusammen mit zwei Partner hat er ein Unternehmen für Luxusimmobilien und Bauprojekte gegründet. Das Geld muss fließen. Schließlich hat Hagen Ex-Frauen, diverse Kinder und eine bevorstehende Traumhochzeit seines Lieblingskindes zu finanzieren.

Auf diese drei Hauptfiguren legt Eva Ladipo ihren Fokus. Zwar gibt es einige weitere Figuren im Ensemble, den Löwenanteil in der Erzählung bestreiten aber Amelie, OIli und Falk Hagen. Wie in einer guten Serie springt die Autorin dabei immer wieder von Figur zu Figur und treibt die Handlung unterhaltsam voran. Der Kampf gegen den Mietwucher, Liebe, das Werben um die Gunst eines Finanziers, der vielleicht die Berliner Post übernehmen könnte, eine Räuberpistole – Ladipo hat viele Themen in das Buch gepackt. Sie versteht es aber auch, diese lesenswert zu erzählen, manchmal vielleicht sogar etwas zu seicht und oberflächlich. Obschon das Buch mit 540 Seiten kein dünner Schmöker ist, liest sich Räuber schnell weg und ist höchst unterhaltsam. Und die manchmal etwas plakative Art verzeihe ich persönlich gerne, schließlich bricht Ladipo so die Sperrigkeit des zugrundeliegenden Themas.

Fazit

Räuber ist auf der Höhe der Zeit und greift viele aktuelle Debatten auf Klassimus, das Auseinanderdriften von Ober- und Unterschicht. Die Frage, was eine Stadt lebenswert macht. All das steckt in diesem Gesellschaftsroman, der alle Ebenen unserer Gesellschaft von Hartz IV bis zur Wohlstandsverwahrlosung abbildet. Genauso erzählt das Buch von skrupellosen Enteignungsversuchen und der neuen sozialen Frage, die Wohnen bedeutet. Auch als Berlin-Roman funktioniert Räuber sehr gut. Viele Themen also, die das Buch zu einer empfehlenswerte Lektüre machen!


  • Eva Ladipo – Räuber
  • ISBN 978-3-89667-678-8 (Blessing)
  • 545 Seiten. Preis: 24,00 €
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Slumdog Detectives

Deepa Anappara – Die Detektive vom Bhoot-Basar

Von den sozialen Unterschieden im modernen Indien, von verschwundenen Kindern und einer Bande Kinder-Detektive erzählt die Inderin Deepa Anappara in ihrem Debüt Die Detektive vom Bhoot-Basar. Ein Buch, das aus kindlicher Perspektive ein zutiefst widersprüchliches Land porträtiert (übersetzt von pociao und Roberto de Hollanda).


Zugegeben: Indien ist ein Thema, das in unserer westlichen orientierten Kultur eine eher untergeordnete Rolle spielt. In der Literatur könnte man Vikas Swarup, Arundhati Roy oder Aravind Adiga als prominenteste Vertreter nennen. Und auch Jhumpa Lahiri zähle ich als zumindest indisch-stämmige Autorin mit. Damit hat es sich aber schon. Auch auf diesem Blog hier habe ich das Land literarisch wenig auf dem Schirm.

Ebenso wie in der Literatur ist auch im Kino – abgesehen von Bollywood – Indien Mangelware. Am ehesten wäre hier noch Danny Boyles Film Slumdog Millionaire aus dem Jahr 2008 zu nennen, der immerhin oscarprämiert wurde.

Tatsächlich war auch jene filmische Referenz die Erste, die mir während der Lektüre von Die Detektive vom Bhoot-Basar in den Sinn kam. Ebenso wie im Film ist es auch hier bei Deepa Anappara ein Kind, aus dessen Warte wir seine Welt und die gesellschaftlichen Verhältnisse geschildert bekommen. Im Falle von Deepa Anapparas Buch heißt ihr Ich-Erzähler Jai. Zusammen mit Pari und Faiz bildet er jenes titelgebende detektische Triumvirat vom Bhoot-Basar. Der Hintergrund dazu ist ein trauriger (und leider höchst aktueller, wie die Autorin im Nachwort ihres Buchs schildert). Täglich verschwinden in Indien Kinder – was aber niemanden wirklich groß interessiert. Schließlich ist Indien sehr bevölkerungsreich und die verschwundenen Kindern stammen meist aus niedrigen Kasten ohne entsprechende soziale Bedeutung. Und auch im Bhoot-Basar ist dies nicht anders.

Die indischen Drei ???

Ein Schulkamerad Jais ist verschwunden. Die Polizei glänzt allerdings durch Abwesenheit, lässt sich lediglich bestechen um den Fall dann ad acta zu legen. Die fragenden Verwandten des Jungens speist man ab und droht bei weiterem Nachhaken einfach das Basti, also das slum-ähnliche Stadtviertel in dem Jai und seine Freunde leben, kurzerhand per Bulldozer einzuebnen. Das will Jai allerdings nicht so hinnehmen. Als glühender Fan indischer und amerikanischer Krimiserien beschließt er, mit seinen beiden besten Freunden die Spur des Verschwundenen aufzunehmen.

Deepa Anappara - Die Detektive vom Bhoot-Basar (Cover)

Als eine Art indischer Drei ??? machen sich die Kinder auf und ermitteln in ihrem Basti und darüberhinaus. Findig wird kurzerhand ein Straßenhund eingespannt, um die Fährte ihres Freundes aufzunehmen. Doch dann verschwindet wieder ein Kind. Und noch eins. Ist es wirklich ein böser Dschinn, der im Viertel umgeht und sich die Kinder holt?

Es ist eine aktuelle Thematik, die dem Buch zugrundeliegt. Aus ihrer Empörung über die sozialen Zustände und aus ihrem Versuch heraus, die Aufmerksamkeit auf dieses schreiende Unrecht zu lenken, ist dieser Roman entstanden, wie Deepa Anappara im Nachwort des Buchs erklärt. Aus einem moralischen Impetus heraus geschriebene Literatur läuft meistens Gefahr, unter ihrer guten Absicht in die Knie zu gehen. Stilistisch überzeugt das Ganze oftmals nicht. Hier ist das dankenswerterweise anders.

Ein kleiner Indisch-Crashkurs von Deepa Anappara

Denn sowohl die Perspektive, aus der sie die Geschichte schildert, als auch die Sprache sind stimmig. Gleichzeitig könnte diese Authentizität auch viele Leser*innen abschrecken. Denn das Buch birst schier vor indischen Termini. Verwandschaftsbezeichnungen, Kosenamen, Örtlichkeiten – alles hat seine eigenen Namen, die in einem beigefügten Glossar erklärt werden. Dennoch fühlt sich das alles auch ein wenig nach Indisch-Sprachkurs für Anfänger an.

Aber sei’s drum – das Buch ist nicht nur ein guter Roman mit kriminalliterarischen Elementen. Auch die Widersprüche des Landes und die krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich thematisiert das Buch auf ansprechende Weise. Völlig neu ist die Erkenntnis der sozialen Unterschiede und der schreienden Armut nicht. Aber wie Deepa Anaparra dieses Nebeneinander von armen Basti und den Reichen-Hochäusern, genannt HiFi-Hochhäuser inszeniert, das ist wirklich gut gemacht. Das Leben dort im Slum, bei dem man für einen normalen Toilettengang anstehen und bezahlen muss, während nebenan auf der Müllkippe andere Kinder den Unrat auch aus den Hochhäusern durchwühlen; es sind diese Gegensätze, die berühren. Und auch der Schluss des Buchs ist in der Logik des Romans stimmig und lässt nachdenklich zurück. Dass da die klischierte Covergestaltung völlig am Charakter des Buchs vorbeigeht, darüber will ich hier eingedenk des tollen Inhalts hinwegsehen.

Fazit

Ein Buch mit Botschaft, ein kindliches Detektivtrio, ein Blick auf die Widersprüche des modernen Indiens: Die Detektive vom Bhoot-Basar bietet all das. Engagierte Literatur, die dankenswerterweise von Rowohlt als Spitzentitel des Frühjahrsprogramms prominent platziert wurde. Denn das Buch und sein Thema verdienen Aufmerksamkeit.


  • Deepa Anappara – Die Detektive vom Bhoot-Basar
  • Aus dem Englischen von pociao und Roberto von Holland
  • ISBN: 978-3-498-00118-6 (Rowohlt)
  • 400 Seiten, Preis: 24,00 €
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Adieu to Old England

Jonathan Coe – Middle England

Vom Niedergang des einstigen Weltreichs England, vom Brexit und von der Suche nach dem richtigen Leben erzählt der Engländer Jonathan Coe in seinem Roman Middle England. Eine beschwingte Lektüre. Witzig, anrührend, politisch, nachdenklich oder mit anderen Worten: einfach gut gemacht!

Wie soll das gehen? Die Erkundung einer ganzen Nation, ihrer Probleme, ihrer soziologischen Verwerfungen, ihrer ganzen politischen Fülle und Vergangenheit? Besonders dann, wenn die Nation England heißt. Einst stolzes Oberhaupt des Commonwealth, Mutterland des Pop und nun Brexit-geschüttelt. Ein schwieriges Unterfangen – das der Brite Jonathan Coe in seinem Roman Middle England (Übersetzt von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs) aber bravourös löst. Wie gelingt ihm diese Vermessung der britischen Seele?

Jonathan Coe - Middle England (Cover)

Indem er nicht auf die extremen Ränder Englands schaut, sondern genau dorthin geht, wo die Mitte Englands liegt – nämlich ins Umland Birminghams. Doch nicht nur geographisch sucht Coe den Durchschnitt, auch soziologisch versucht sich Middle England an einer Diagnose der Durchschnittsbevölkerung. Dies gelingt ihm, indem er im Buch eine Vielzahl von Menschen zu Wort kommen lässt. Alte und Junge, Enttäuschte und Optimistische, Upperclass und Mittelschicht, Fremdenfeindliche, Liberale, Schriftsteller und Studentinnen. Sie alle bilden mit ihren Stimmen und Geschichten die Geschichte des gegenwärtigen Englands.

Jonathan Coe stellt einige Figuren in den Vordergrund seiner Geschichte, die schon in vorherigen Büchern eine Rolle spielten. So hatten Benjamin Trotter und seine Schwester in den Büchern The Rotter’s Club und The closed circle (beide auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältlich) einen Auftritt. Mit Middle England schreibt Jonathan Coe ihre Geschichte nun nach über 18 Jahren Unterbrechung weiter. In diesen 18 Jahren ist viel passiert, was Benjamin und seine Freund*innen am eigenen Leib erfahren.

Geschütteltes England

Während in Deutschland seit 2005 ununterbrochen die CDU mit der Kanzlerin Angela Merkel in unterschiedlichen Konstellationen an der Macht war, sah und sieht die politische Großwetterlage in Großbritannien deutlich anders aus. 5 Regierungschefs in 13 Jahren, deren Halbwertszeit immer größer wurden. Stabilität sieht anders aus.

Wie es zu diesen instabilen Verhältnissen kommen konnte und wodurch der Brexit entgegen aller Progonosen zustandekam, davon erzählt Coe. Er tut dies über den Zeitraum vom April 2010 an bis hinein in den September 2018, als das Brexit-Referendum schon über die Bühne gegangen war, das Theater der Austrittsverhandlungen aber erst so richtig begann.

In seinem Roman beleuchtet Coe die gewaltigen Disruptionen, die die britische Gesellschaft durchziehen. Klassenkämpfe, Fremdenfeindlichkeit, der Kampf gegen die vermeintliche Politische Korrektheit, der Wunsch nach alter Größe. Alle Figuren, die Middle England bevölkern, erleben die großen gesellschaftlichen Konflikte und Themen am eigenen Leib.

Während Benjamin Trotter ganz abgeschieden in seiner umgebauten Wassermühle in Shropshire an einem Roman schreibt und Honegger-Streichkonzerte hört, erleben andere Figuren Straßenkämpfe, sehen den Niedergang der Industrienation Großbritannien oder werden bei Beförderungen übergangen. Dies führt bei vielen der Figuren im Roman zu Frust und dem Gefühl von herrschender Ungerechtigkeit.

Andere Figuren wie etwa der Zeitungskolumnist Doug haben den Kontakt zu diesen Menschen völlig verloren. Er verfasst meinungsstarke Zeitungskolumne um Zeitungskolumne, ohne überhaupt das fühlen, was er in seinen Texten vertritt. In Gesprächen, die zu den lustigsten Passagen dieses an Humor gewiss nicht armen Romans zählen, tauscht er sich mit einem Pressesprecher David Camerons in Hintergrundgesprächen über einen eventuellen Volksentscheid in Sachen Austritt aus der EU aus. Von der politischen Kaste verlacht und als absurd geschmäht, wird dieses Ereignis im Lauf des Romans dann doch eintreten.

Brexit und die Hintergründe

Liest man Middle England und verfolgt die zahlreichen Schicksale der von Coe fein beschriebenen Figuren, versteht man, wie es zu diesem Brexit kommen konnte. Über die Jahre hinweg beobachtet Coe seine Figuren und ihre Kämpfe, wodurch er noch so viel mehr über die britische Gesellschaft erzählen kann. Wegmarken wie etwa die Olympischen Spiele in London, den Mord an der Politikerin Jo Cox oder eben das Brexit-Referendum erzählt er packend durch die Augen seiner Figuren nach – und schafft so eines der besten Gesellschaftspanoramen Englands, das ich in letzter Zeit lesen durfte.

Das Herzland Großbritanniens?

Doch Middle England auf einen zeitdiagnostischen und politischen Roman verkürzen zu wollen, das täte dem Buch unrecht. Middle England ist auch eine Erkundung der Seele Großbritanniens. Was ist sie eigentlich, die Englishness? Pub, rote Telefonzelle und Fuchsjagd? Oder ist die Essenz des Britischen doch etwas ganz anderes? Dass Coe keine einfache Antwort auf diese komplexe Frage findet, zählt unbestritten zu den Qualitäten dieses großartigen Buchs.

Und dann ist da noch der oben schon erwähnte Humor. Auch wenn man diesen am Anfang noch nicht so ausmachen kann – Jonathan Coe liefert wirklich. Von absurden Szenen über Slapstick bis hin zu Dialogwitz – wie der Brite hier die verschiedenen Spielarten von Humor bedient, ist meisterhaft. Großartig schon alleine der Hybris-gesättigte Schriftsteller Lionel Hampshire, dem es gelang, mit dem Buch Die Otter-Dämmerung den Booker Prize zu gewinnen. Immer wieder taucht er im Buch auf. Oder die brüllend komische Sex-Szene Benjamins im Schrank, bei dem eine Duftkerze eine entscheidende Rolle spielt. Oder, oder, oder.

Fazit

In meinen Augen ist Middle England von Jonathan Coe ein Meisterwerk. Ein Buch, das in mir den Wunsch geweckt hat, auch die anderen (leider meist schon vergriffenen) Werke des Briten auf Deutsch zu lesen. Eines der besten, da vielstimmigsten und facettenreichsten Bücher dieses Frühjahrs. Und die deutlich bessere Wahl anstelle des völlig misslungen Versuchs einer Brexit-Satire von Ian McEwan. Gegen die Kakerlake nimmt sich Middle England aus wie das aktuelle Corona-gebeutelte England gegen den das British Empire zu seinen Glanzzeiten.

  • Coe, Jonathan: Middle England
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs
  • Folio-Verlag, ISBN ISBN 978-3-85256-801-0
  • 480 Seiten, 25,00 €
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