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Jan Christophersen – Ein anständiger Mensch

Anstand, was heißt das schon? In diesen Tagen, in denen Unwahrheiten, Poltereien und Verächtlichmachung der Gegner schon politisch vorgelebt werden, hat es eine vermeintlich altmodische Tugend schwer. Doch Steen Friis hält die Fahne des Anstandes hoch. Wie eine Mischung aus Axel Hacke, Asfa Wossen-Asserate und Richard David Precht wirkt dieser Friis, der mit Büchern und Talkshowauftritten sein Geld gemacht hat. Längst hat er große Berühmtheit erlangt und ist vielgefragter Gast in den Medien. Sein Lebensthema dabei stets: Der Anstand und das, was sich gehört. Beziehungsweise das, was sich nicht gehört.

Unzählige Sachbücher und Ratgeber hat er zu diesem Thema verfasst. Entstanden sind sie alle auf einer kleinen dänischen Insel, auf die sich Friis zum Schreiben zurückzieht. Ein ausgebautes Ferienhaus als Schreibklause, das Meer gleich vor der Haustür und kein Internetanschluss. Mehr braucht Friis nicht, um produktiv zu sein.

Mit der Idylle auf der Insel ist es aber schon zu Beginn des Buchs nicht weit her. Denn Gäste haben sich angekündigt. Ein befreundetes Paar kommt Friis und seine Ehefrau besuchen. Er IT-Administrator, sie Friis‘ Agentin. Zusammen wollen die beiden Paare ein paar schöne Tage auf der Insel verbringen. Natur und hyggelige frokost, da seufzen Skandinavien-Liebhaber*innen beglückt auf. Doch so idyllisch, wie sich die Szenerie anfangs ausnimmt, ist es dann natürlich nicht. Denn Friis Frau offenbart ihm, dass sie sich zum anderen Mann hingezogen fühlt. Und auch Friis‘ Agentin und er pflegen ein Verhältnis, das nicht unbedingt anständig zu nennen ist. Bei einem abendlichen Pilz-Essen eskaliert dann die Lage – und zwar gehörig.

Die Frage nach Anstand und Moral

Jan Christophersens Roman erinnerte mich von der Anlage stark an Ian McEwans Kindeswohl. Hier wie da steht ein Mensch im mittleren Lebensalter im Mittelpunkt, den der offen ausgesprochene Wunsch des Ehepartners nach amouröser Abwechslung mit einem anderen Partner völlig aus der Bahn wirft. Ein weiterer Berührungspunkt ist die Frage nach Moral und Ethik, die beiden Büchern zugrunde liegt. Was darf man, was ist gerechtfertigt? Wo sind die Grenzen des Anstands erreicht? Wo McEwans Roman eine tiefenscharfe Auslotung der moralischen Fragen, die im Laufe der Handlung aufgeworfen werden, gelingt, schafft dies Christophersen in seinem Buch nur bedingt. Zwar wird die Frage nach Anstand und dessen Grenzen angeschnitten, wirklich angegangen wird sie nicht. Stattdessen legt Christophersen Wert auf das Vorantreiben der Handlung.

Man freut sich auf einen Abend bei Essen, der Yasmina-Reza-haft eskaliert, doch dann bricht diese Schilderung wieder recht hastig ab, um dann einige Zeit später in Hamburg fortgesetzt zu werden. Gerade von dieser Konfrontation der Paare hätte ich mir viel erhofft. Einsichten in die emotionale Seelenlage der Protagonist*innen, überraschende Geheimnisse, die sich offenbaren, umschwingende Sympathien und Antipathien. Stattdessen flüchtet sich Steen nach der finalen Konfrontation wie ein pubertärer Trotzkopf ins Bettchen und verrammelt die Türe seines Schlafgemachs.

Nicht ganz ausgeschöpftes Potential

Dieser Abend und der gesamte Aufenthalt auf der Insel hätte in meinen Augen deutlich mehr Potential zu dramatischer und philosophischer Ausgestaltung besessen. Stattdessen spielt das letzte Drittel des Romans wieder in Hamburg und bricht damit die Einheit von Zeit und Ort, die Christophersen vorher aufgebaut hat. Auch die Möglichkeiten des unzuverlässigen Erzählers, die Christophersen ab und an aufblitzen lässt, schöpft er nicht wirklich aus. Um sich wirklich nachhaltig in meinem Kopf zu verankern fehlt diesem Buch in meinen Augen die Tiefe. Statt die ethischen Fragen und die Hintergründe der vier beteiligten Personen facettenreich zu beleuchten, verlegt er sich auf die Schilderung von Äußerlichkeiten. Diese gelingen ihm auch besonders in Bezug auf die Schilderung der Natur auf der dänischen Insel ganz hervorragend. Aber mehr bietet dieses sprachlich solide Roman in meinen Augen nicht. Kann man auf alle Fälle lesen, gelungener ist in meinen Augen nach wie vor Ian McEwans Kindeswohl.


Weitere Besprechungen des Buchs findet sich beim Kulturjournal von Fräulein Julia und bei Hauke Harder vom Leseschatz.

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Roy Jacobsen – Die Unsichtbaren

Zwar ist es noch ein paar Monate hin, doch Mitte Oktober findet in Frankfurt wieder die jährliche Frankfurter Buchmesse statt. Gastland ist dieses Mal Norwegen. Grund genug, mir im Vorfeld schon ein paar norwegische Autor*innen anzusehen und mich in der Reihe #norwegenerlesen mit ihren Werken auseinanderzusetzen. Den Anfang macht in dieser Reihe Roy Jacobsen mit seiner Insel-Saga Die Unsichtbaren.

Bei seiner Insel-Saga handelt es sich um drei Bücher, die ab 2013 regelmäßig alle zwei Jahre erschienen. Der C.H. Beck-Verlag hat diese drei Bücher in der Übersetzung von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann unter dem Titel Die Unsichtbaren zu einem Buch zusammengefasst. Jener Titel ist zugleich der des ersten Buchs der Trilogie. De Usynlige, so der norwegische Originaltitel, stand im Jahr 2013 sogar auf der Shortlist des internationalen Booker-Preises.

Leben und Sterben auf Barrøy

Schauplatz dieser Insel-Saga ist das Eiland Barrøy, eine norwegische Schäreninsel. Nicht einmal einen Kilometer an der breitesten Stelle misst die Insel, die beständig von Wind und Meer in den Zangengriff genommen wird. Dort lebt Hans Barrøy als Familienoberhaupt seines Clans. Zusammen mit seinem Vater, Frau und Tochter sowie weiterer Verwandschaft bewirtschaften sie den heimischen Hof und die Insel. Ein paar Schafe, Eiderenten, ein Pferd – mehr gibt die karge Insel nicht her. Die Haupteinkommensquelle der Familie ist der Fischfang, später wird man sich auch an einer reduzierten Milchwirtschaft versuchen.

Diese Insel erlebt man nun auf den folgenden 600 Seiten in Zeiten der Not, in Zeiten der relativen Prosperität. Der Winter bringt das Meer rund um die Insel zum Gefrieren, im Sommer wird die ganze Insel unter Wassermangel ächzen. Kinder werden geboren, Alte sterben. Der Lauf des Lebens, er lässt auf Barrøy sehr gut nacherleben. Dabei schwebt über allem ein ein Gefühl der Entschleunigung und des Wissens um die Unwiderbringlichkeit des Vergangenen.

Ein längst vergangener Takt

Roy Jacobsen - Die Unsichtbaren (Cover)

Roy Jacobsen schafft es vor allem im ersten Buch ganz hervorragend, die verschrobenen Inselbewohner*innen auf Papier zu bannen. Ihre Macken, ihre Sorgen, ihre Nöte – glaubhaft vermittelt der norwegische Schriftsteller seine Figuren an die Leser*innen. In seiner Inselsaga schafft er es, nicht nur das Leben mit seinem längst vergangenen Takt zu schildern, sondern dieses auch erfahrbar zu machen. Eine Besonderheit, die nicht vielen historischen Romanen gelingt.

Leider schafft es Roy Jacobsen nicht, die Dichte und Stringenz aus dem Anfangsteil seiner Saga über die ganze Länge des Buchs zu wahren. Je größer der Exodus von der Insel und je tiefgreifender die Ereignisse (vor allem der Zweite Weltkrieg), umso mehr Längen schleichen sich im Text ein. Vor allem der letzte Teil (Die Augen der Rigel) zerfällt zusehends.

In diesem Teil macht sich Ingrid, die Tochter Hans Barrøys, auf die Suche nach einem Mann, den sie einst angeschwemmt auf ihrer Insel auflas. Zwar beeindruckt die Hartnäckigkeit der Suche Ingrids, mich langweilte sie dann aber auch stellenweise sehr. Zu langatmig sind die Reisen, die Ingrid quer durch Norwegen unternimmt, immer mit viel Verzweiflung, aber wenig Erfolg unterwegs.

Starker Beginn, weniger starke Fortführung

Zwar vermitteln die beiden übrigen Teile der Insel-Saga der Trilogie auch Wissen über die Zeit der norwegischen Besetzung und die Zwangslage Norwegens zwischen den Expansionsbewegungen von Deutschem Reich und Russland (völlig neu war mir etwa die Geschichte des Konzentrationslagers Mysen) – aber dennoch reicht das alles nicht, um eine packende Geschichte zu erzählen. Das ein ums andere Mal ertappte ich mich, als meine Gedanken abschwiffen – und auch das ausufernde Personaltableau benötigt viel Konzentration und Übersicht. Schade, dass hier vonseiten des Verlags die Chance verpasst wurde, ein Personenverzeichnis an den Anfang oder das Endes dieser voluminösen Saga zu setzen. Mir hätte es die Lektüre doch etwas erleichtert.

Aber auch ohne diese Mängel ist Die Unsichtbaren ein Buch, das hervorragend einen Blick ins Leben einfacher norwegischer Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zulässt. Vor allem der erste Teil der Trilogie weiß zu überzeugen (ein Problem, das das Buch ja mit vielen anderen Buch- und Filmtrilogien teilt). Deshalb sei, bei allen Schwierigkeiten, die ich mit dem Buch hatte, die Insel-Saga doch empfohlen. Ein guter Auftakt zu Norwegen erlesen.

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Lawrence Osborne – Welch schöne Tiere wir sind

Jeunesse dorée: zu dieser Klasse könnte man unzweifelhaft Naomi und ihre Freundin Samantha zählen. Als Tochter eines Millionärs kennt die junge Britin Naomi so etwas wie Sorgen eigentlich nicht. Zusammen mit ihrem Vater und der Stiefmutter verbringen sie die Sommer auf der griechischen Insel Hydra. Dort besitzt ihr Vater eine luxuriöse Immobilie, zu deren Vorbesitzern Leonard Cohen gehörte.

Auf der Insel Hydra schließt sie mit Samantha Freundschaft, die aus den Vereinigten Staaten stammt und deren Vater zur Rekonvaleszenz auf Hydra weilt. Schließlich gibt es auf der Insel weder Fahrräder noch Autos – und somit wenig Ablenkung und potentielle Gefahrenquellen, die einer Gesundung entgegenstehen.

Sommer auf Griechenland, das bedeutet Sonne, weißer Strand, Drogen, Schwimmausflüge – aber damit hat es sich dann aber auch schon wieder. Die Tage tropfen so zähflüssig wie der autochthone Honig vom Löffel, der im Buch immer wieder konsumiert wird. Ein schönes Symbolbild für den Stillstand, der auf der autofreien Insel herrscht. Zwar mangelt es an nichts, aber es entwickelt sich eben auch eine Langweile inmitten der ewigen Routine.

In dieses Einerlei aus Müßiggang platzt schon bald eine Begegnung, die für willkommene Abwechslung im Leben der beiden jungen Frauen sorgt. Sie entdecken auf der Insel Faoud, einen Geflüchteten, dessen Herkunft und Geschichte etwas unklar sind. Als Projekt gegen die Langeweile beschließen die beiden Frauen, sich des Mannes anzunehmen. Sie versorgen ihn mit Kleidung, organisieren eine Unterkunft für den Flüchtling – und schmieden schon bald einen verhängnisvollen Plan, der tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Mehr sollte an dieser Stelle nicht verraten werden.

Sommerhelle und tiefe Finsternis

Lawrence Osborne gelingt es in seinem zweiten Roman (zuletzt Denen man vergibt, erschienen bei Wagenbach) eine faszinierende Mischung aus Sommerhelle und dunkelster Finsternis zu kreieren. So fängt er die Stimmung auf der Insel Hydra mit tollen Bildern und großen Sprachgirlanden ein. Beispiel gefällig?

Vom Bootssteg des kleinen Örtchens Palamidas stiegen sie eine Stunde lang nach Episkopi auf, bis sie Schluchten und unebene Felder umgaben, auf denen Alpenveilchen überdauerten. Sie setzten sich auf eine Steinmauer und blickten aufs Meer hinunter, auf die massiven, kahlen Inseln, den Schatten von Dokos und die bleiche Masse der Peleponnes dahinter. Berghänge fielen zu einer zerklüfteten Küste ab, die auf kupfergrünes Wasser traf, die steil aufgerichteten Oberflächen mit grauen Felsen und zitterndem Salbei befleckt. Einsame, gotisch geformte Agaven schossen unerwartet auf, die Häupter vom Wind zur Seite gefegt, und um sie herum lagen alte Eselzäune aus Draht wie angespültes Wrackgut, verknotet mit fortgeworfenen Bettgestellen und alten Haustüren. Es sah aus wie ein Land, das sich Zeit ließ mit dem Sterben, mit der Rückkehr ins Prähistorische.

Osborne, Lawrence: Welch schöne Tiere wir sind, S. 76

Die Landschaftsbeschreibungen und die Settings, die Osborne geradezu altmodisch schildert, gefielen mir richtig gut; vor allem, da in ihnen auch stets das Morbide als Prophetie mitschwingt. An dieser Stelle muss auch der Übersetzer Stephan Kleiner erwähnt werden. Dieser überträgt ansonsten unter anderem auch Hanya Yanagihara und Michel Houllebecq ins Deutsche. Ihm gelingt es, die bildsatte Sprache und die manchmal geradezu klinisch kalten Dialoge gut ins Deutsche zu übertragen.

Kammerspiel, Shakespeare, Sommer, Insel – alles drin!

Auch wenn der Anfang des Buchs noch gemächlich sein mag, so ändert sich das Tempo und der Tonfall des Buchs dann in der zweiten Hälfte enorm. Vieles im Buch erinnerte mich zu Beginn manchmal an Tennesse Williams Die Katze auf dem heißen Blechdach. Auch habe ich deutliche Anleihen bei den Dramen William Shakespeares ausgemacht. Der zweite Teil kippt dann in einen waschechten Thriller (bei dem man die ein oder andere Unwahrscheinlichkeit in Kauf nehmen sollte). Die Registerwechsel im Buch werden von Osborne aber gut vollzogen. Ihm gelingt es immer, die sonnendurchflutete aber sehr untergründige Stimmung beizubehalten.

Dafür nimmt man es dann auch in Kauf, dass Osborne die Oberflächlichkeit im Buch eben auch an Klischees bzw. abgenutzten Erzählfiguren aufhängt. Denn die Oberflächlichkeit der Jeunesse dorée wird dadurch besonders transparent. Mag der Kontostand auch nie Thema von bangen Überlegungen sein – am Ende des Buchs werden auch Samantha oder Naomi nicht glücklicher sein. Im Gegenteil. Und diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, in Welch schöne Tiere wir sind liest sich das Ganze aber wirklich weg wie ein ein Eiswürfel, der unter der griechischen Sonne schmilzt.

Und so fällt dann auch mein Fazit aus. Man erhält mit Welch schöne Tiere wir sind ein vielfältiges Buch. Ein Blick ins Leben der Oberen Zehntausend (wenngleich nicht ganz klischeefrei). Ein Buch über die Frage, wie wir mit Geflüchteten umgehen. Eine spannenden griechischen (und italienischen) Thriller. Ein Kammerspiel. Oder um es kurz zu machen: sehr gute und stilsichere Literatur!


Auch andere Blogger haben das Buch gelesen und besprochen – mit teils unterschiedlichen Endergebnissen. Eine Rezension findet sich unter anderem bei Alexandra im Bücherkaffee und eine andere Besprechung hat Petra vom Blog LiteraturReich verfasst.

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Johanna Holmström – Die Frauen von Själö

Drei unterschiedliche Frauen, über 100 Jahre Handlungszeitraum, eine Insel: das ist der neue Roman von Johanna Holmström. In ihm widmet sich die schwedischsprachige Finnin einem wenig bearbeiteten Kapitel in der Geschichte ihres Landes – nämlich dem der Insel Själö (übersetzt von Wibke Kuhn).

Diese Insel befindet sich vor der Südwestküste Finnlands im dortigen Schärengarten. Etwa zwei Kilometer beträgt der Durchmesser der Insel – und bis auf die Tatsache, dass ein Asteroid nach der Insel benannt wurde, gibt es eigentlich kaum nennenswerte Besonderheiten oder Sehenswürdigkeiten. Eine Kirche, heutzutage eine Forschungsstation, ein altes Krankenhaus, das war es. Aber gerade dieses Krankenhaus hat eine erschütternde Vergangenheit, die Johanna Holmström in ihrem Roman wieder ans Tageslicht holt.

Sie erzählt von drei Frauen, der Schicksal eng mit der Insel Själö verknüpft ist. Da ist im ersten Teil Kristina, die im Jahr 1891 eine schier unglaubliche Tat begeht. Mit einem Boot rudert sie nächtens auf einen Fluss hinaus. Dort wirft sie dann ihren Sohn und ihre Tochter schlafend über Bord und rudert dann wieder heim. Eine schier unfassliche Tat, die auch Kristina selbst am nächsten Tag nicht wirklich glauben kann.

Man weist sie in die Nervenheilanstalt in Själö ein, wo man sich um Frauen wie Kristina kümmert, fernab der normalen Zivilisation. Diese Insel wird Kristina nicht mehr verlassen, was sie auch Jahre später im Gespräch mit einem Priester konstatiert:

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kristina. Aber eines weiß ich. Der Herr ist denen nah, die ein gebrochenes Herz haben, und er rettet die, die geistig verloren sind. Sie wussten nicht, was Sie taten, als Sie ihre Kinder ertränkt haben. Und sie haben selbst gesagt, dass Sie acht Jahre in geistiger Umnachtung verbracht haben. Ist das nicht Strafe genug?“

„Diese Frage entscheiden nicht Sie. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, meine Verbrechen gesühnt zu haben, und ich bin froh, sie jeden Tag aufs Neue zu sühnen.“

„Nein Sie werden gesund werden, Kristina. Schauen Sie sich doch an, wie Sie hier sitzen und mit mir reden. Sie können gesund werden, KRistina, wenn Sie es nur versuchen.“ (…)

Sie schaut ihn eine Weile an und deutet dann mit einem Nicken zum Friedhof. Erland folgt ihrem Blick.

„Ich werde diese Insel niemals verlassen“, sagte sie. „Von hier … von hier führt nur ein Weg fort, und der geht dorthin.“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö. S. 120

Pfleger*innen kommen und gehen, Priester und Ärzte kommen und gehen – aber Kristina wird die Insel tatsächlich nicht mehr verlassen.

Drei Frauen in der Nervenheilanstalt

Auch die junge Elli wird Jahrzehnte später auf Själö interniert. Diese hat sich allerdings keines Verbrechens schuldig gemacht, vielmehr ist sie einem Komplott um Liebe und Enttäuschung zum Opfer gefallen. Auch für sie wird Själö zum unbarmherzigen Schicksal, dabei wollte sie eigentlich nur frei und unbestimmt leben. Doch die finnische Gesellschaft kennt auf einen solchen Emanzipationsversuch nur die Antwort – Själö.

Besonders grausam sind neben den psychischen Bedingungen auch die medizinischen Ansichten des Personals, die besonders zur Zeit des Zweiten Weltkriegs unglaubliche Blüten treiben und beim Lesen schaudern lassen.

„Es gibt also keine Chance? Das wollen Sie damit sagen? Keine Chance, jemals entlassen zu werden?“

„Tja, kommt ganz drauf an. Mit der weiblichen Natur verhält es sich nämlich so, dass sie zyklisch ist. Das gilt auch für den weiblichen Wahnsinn. Der Zusammenhang zwischen diesen Wahnsinnszyklen und der Menstruation ist in den meisten Fällen offensichtlich, und sobald die Menstruation aufhört, hört sehr oft auch der Wahnsinn auf. Deswegen hatten schon viele das Glück, zu diesem Zeitpunkt entlassen zu werden“, erklärt er.

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 176

Auch wenn die Jahre ins Land gehen, wenn man auf Själö gelandet ist, dann wird man kaum mehr von der Insel herunterkommen, außer man gehört zum medizinischen Personal.

Aber auch dieses hat es nicht unbedingt besser, auch wenn man sich auf der anderen Seite befindet. Das wird im dritten Teil des Romans klar, der die Pflegerin Sigrid in den Mittelpunkt stellt. Auch sie ist mit einen Wünschen und Hoffnungen einst nach Själö gekommen. Doch die Hoffnung und Illusionen haben sich im Lauf der Zeit schnell zerschlagen. Und so endet der Roman dann nach über hundert Jahren 1997.

Geblieben ist kaum etwas, außer Enttäuschung, viel Unaufgearbeitetes und jede Menge Frauenschicksale, auf deren unglückliche Leben die Gesellschaft nur die Antwort Ausgrenzung und Psychiatrie kannte.

Eine Reise nach Själö ohne Wiederkehr

Am Ende des traurigen und nachdenklich stimmenden Romans steht dann die Erkenntnis, die allen Frauen von Själö über kurz oder lang immer kommt:

„Jetzt weiß ich, dass das nur ein Märchen ist“, sagt Karin. „Denn in Wirklichkeit werden wir hier nie wegkommen, wusstest du das nicht?“

Elli schweigt einen Augenblick.

„Wie meinst du das?“, fragt sie dann, aber Karin schaut sie gar nicht an.

„Damit meine ich, dass das hier die Endstation ist. Das Ende meiner Reise. Und deiner Reise auch. Hier wird niemand entlassen (…).“

Holmström, Johanna: Die Frauen von Själö, S. 249

Kein Buch für gute Laune, erhebende Stimmung oder ein wenig Flucht aus der Realität. Aber ein nachdenklich machendes Mahnmal für ein erschütterndes Kapitel (finnischer) Psychiatriegeschichte.

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Anthony Doerr – Winklers Traum vom Wasser

Kann man seinem Schicksal entfliehen?

Um diese Frage kreist der Roman Winklers Traum vom Wasser von Anthony Doerr und findet für die Beantwortung sehr poetische Bilder. Ausgangslage ist die Fähigkeit David Winklers zu sehr ausufernden Träumen, die sich eigentlich immer bewahrheiten. Er träumt von Todesfällen genauso wie von seiner sprichwörtlichen Traumfrau, die er im Supermarkt kennen lernen wird. Alles trifft so ein, wie es sich Winkler erträumte und er wird glücklich und Vater. Doch dann lässt ihn ein Traum seine Frau und sein Kind Grace verlassen. Er sah nämlich in einem Traum sein Haus überflutet und seine Tochter tot in seinen Armen. Als sich die Vorzeichen für diese Katastrophe mehren, doch nicht einmal seine Frau Winkler glauben schenkt, flieht er Hals über Kopf.

Winkler

Fünfundzwanzig Jahre in der Ferne wird Winkler verbringen, während ihn die Unklarheit über das Schicksal seiner Frau und Tochter umtreiben. Auf der Antilleninsel St. Vincent beginnt er ein neues Leben, verdingt sich als Hausmeister eines Hotels und sucht auch hier nach Erkenntnis und Linderung. Doch nach 25 Jahren beschließt er, auf die Suche nach Grace Winkler in den USA zu gehen. Hat seine Tochter die Flut überlebt? Lebt seine Frau noch? Was ist aus ihnen geworden? Ruhelos beginnt Winkler seine Suche und wird dabei die ganzen USA durchqueren. Und die Frage, die über allem kreist, stellt sich ihm immer wieder: kann man vor seinem Schicksal davonlaufen, alles hinter sich lassen und noch einmal den Reset-Knopf drücken?

Eine gelungene Neuauflage

Winklers Traum vom Wasser ist ein poetisches und unglaublich gut geschriebenes Buch. Bereits einmal lag das Buch von Anthony Doerr auf Deutsch vor, nun hat es der C.H. Beck-Verlag über zehn Jahre später in einer Sonderauflage ein weiteres Mal aufgelegt. Dies ist auch gut so, damit das Buch möglichst großen Absatz findet. Denn nach dem grandiosen Alles Licht, das wir nicht sehen und der tollen Novelle  Memory Wall beweist Doerr seine literarische Meisterschaft hierin zum dritten Male. Welche Formulierungen Doerr für Wolkenformationen, Landschaften und Leben findet, das muss man lesen. An dieser Stelle sollte auch die Übersetzerin Judith Schwaab gewürdigt werden, die die richtigen Worte und den richtigen Rhythmus für die Übertragung ins Deutsche gefunden hat. So ist und bleibt Winklers Traum vom Wasser ein Lesegenuss und rührt mit seinem Helden David Winkler und seiner Flucht vor dem Schicksal stark an.

Es ist wünschenswert, dass diese Neuauflage reißenden Absatz findet, denn die Geschichte, die der amerikanische Schriftsteller in seinem Buch erzählt, ist es mehr als wert, bekannter zu werden und sollte den Ruhm Anthony Doerrs mehren!

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