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Claire Keegan – Reichlich spät

Wie prägen einen Menschen erlernte Verhaltensmuster? Claire Keegan untersucht es in ihrer kurzen Erzählung Reichlich spät auf eindringliche Art und Weise – und legt auf gerade einmal gut 50 Seiten Misogynie im Charakter eines Menschen und Frauenfeindlichkeit in einer ganzen Gesellschaft offen.


Achte auf deine Gedanken, denn sie formen deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie formen deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie formen deinen Charakter.

Diese Weisheit aus dem Talmud könnte man im Falle von Claire Keegans Erzählung Reichlich spät noch eine Dimension weiter fassen. Denn aus dem Charakter formt sich nicht nur ein Mensch alleine, auch formen die Charaktere die ganze Gesellschaft.

Das, was man hierzulande in Form von Gewaltexzessen gegen Wahlkämpfende und Politiker als Konsequenz einer Verrohung der politischen Sprache und des Diskurses beobachten kann, es ist auch im Text Keegans eine mitschwingende Dimension, die sich allerdings erst spät im Text offenbart.

Charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild eines durchschnittlichen Iren

Zunächst beginnt alles höchst alltäglich und wenig aufsehenerregend. Ein Mann names Cathal sitzt in einem Büro und geht seiner buchhalterischen Tätigkeit nach. Es ist kurz vor drei Uhr an diesem 29. Juli und der Feierabend steht bevor.

Vom Merrion Square im Zentrum Dublins aus nimmt er den Bus, um nach Hause in Richtung Arklow zu fahren. Alles ist eigentlich so unscheinbar wie die übliche Bürokluft aus Hemd, Anzug und Krawatte, die ihn kleidet. Doch nicht nur die Schuhe des Mannes sind ungeputzt – es gibt auch charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild dieses so durchschnittlichen Iren.

Es war ein ereignisarmer Tag gewesen, fast ein Tag wie jeder andere. Dann kam, nach der Haltestelle Jack White’s Inn, eine junge Frau den Gang entlang und setzte sich auf den freien Platz ihm gegenüber. Er saß da und atmete ihren Duft ein, bis ihm der Gedanke kam, dass es Tausende, wenn nicht Hundertausende von Frauen geben musste, die genauso dufteten.

Claire Keegan – Reichlich spät. S. 17

Von der Bewunderung bis zu Abfälligkeit und Abwertung von Frauen ist es nur ein kleiner Schritt bei Cathal, wie sich nicht nur bei dieser Busfahrt zeigt. Denn die Prägung durch einen misogynen Haushalts, in dem seiner Mutter eigentlich nur eine Rolle als Essensproduzentin und als Opfer von Spott und Erniedrigung durch die Männer der Familie zukam, sie ist eine, die bei Claire Keegan auch für einen Teil der irischen Gesellschaft gilt.

Ein Kennenlernen, die wenig Schmeichelndes offenlegt

Dies wird besonders deutlich in Cathals Gegenpart, seiner Partnerin Sabine, die Cathals Verhalten und seine Äußerungen hinterfragt.

Claire Keegan - Reichlich spät (Cover)

Über ein Kennenlernen bei einer Konferenz, folgende Dates und ein gemeinsames Zusammenziehen bis hin zum wenig romantischen, mit der Frage „Warum heiraten wir nicht?“ halbgar eingeleiteten Hochzeitsantrag, sind sich die beiden immer nähergekommen. Diese Annäherung legt aber auch die wenig schönen Seiten von Cathal offen, bei denen der Geiz noch zu den geringeren Problemen zählt.

Bis zur Pointe des Textes hin schält Claire Keegan in diesem wieder äußerst fein, mit Nuancen und Andeutungen spielenden Text immer stärker den wahren Charakter Cathals heraus. Das gelingt ihr – ganz im Sinne des Talmud-Zitats – indem sie die Worte und Taten dieses vordergründig so durchschnittlichen Büroarbeiters zeigt, die seinen Charakter formten – und nicht nur seinen, wie die Französin Sabine durch ihre Außenperspektive im Gespräch mit einer Bekannten feststellt:

„Sie hat gesagt, dass die Dinge sich jetzt vielleicht ändern, aber dass gut die Hälfte der Männer in deinem Alter einfach nur will, dass wir den Mund halten und euch geben, was ihr verlangt, dass ihr verzogen seid und verachtenswert werdet, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ihr es wollt.“

„Ist das so?“

Er wollte es leugnen, aber was sie gesagt hatte, kam einer Wahrheit, die er bis dahin kein einziges Mal in Erwägung gezogen hatte, unangenehm nahe. Ihm ging durch den Sinn, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie in diesem Moment den Mund hielte und ihm gäbe, was er verlangte.

Claire Keegan – Reichlich spät, S. 40f.

So hat dieser Text neben der beobachtenden Bestandsaufnahme von Cathals Charakter auch wieder eine gesellschaftliche Dimension, die hier angedacht und angedeutet ist.

Knappe Erzählung, großer Raum dahinter

Mit nicht einmal fünfzig, äußert großzügig gesetzten Textseiten, öffnet Reichlich spät einen großen Raum, der sich mit den Mechanismen von Zusammenleben und erlernter Misogynie (so auch der Originaltitel der im vergangenen Jahr erstmals veröffentlichten Erzählung) beschäftigt.

Obschon noch einmal knapper als die letzten beiden vom Steidlverlag veröffentlichten und ebenfalls von Hans-Christian Oeser übersetzten Erzählungen Kleine Dinge wie diese und Das dritte Licht zeigt auch dieser Text Keegans erzählerische Kunst. Nicht ohne Grund wurde die Autorin jüngst mit dem 6. Internationalen Siegfried Lenz-Preis ausgezeichnet, dessen Jury Keegan vor allem für die Knappheit und Dichte ihrer Prosa rühmte. Das Ausgesparte sei bei ihr mindestens ebenso von Bedeutung wie das Gesagt, so du Jury in ihrer Urteilsbegründung zur Preisvergabe.

Das lässt sich zweifelsohne auch über Reichlich spät sagen, auch wenn diese Entzauberung einer Beziehung und eines Mannes in Sachen Verknappung und Reduzierung noch einmal ganz neue Höhen erklimmt.


  • Claire Keegan – Reichlich spät
  • Aus dem Irischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-325-5 (Steidl)
  • 64 Seiten. Preis: 16,00 €
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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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Sarah Gilmartin – Service

Ein Restaurant der Spitzenklasse, eine Servicekraft, ein Küchenchef, seine Frau – und dann steht da mitten im Raum der schwerwiegende Vorwurf einer Vergewaltigung. Was das mit den Beteiligten macht und wie sie auf das (möglicherweise) Geschehene blicken, das erkundet die irische Schriftstellerin Sarah Gilmartin in ihrem Roman Service.


Vor wenigen Wochen sorgte einmal mehr eine ein juristischer Lehrfilm aus der Feder Ferdinand von Schirachs für Aufsehen. Während er in Terror die Zuschauer selbst zu einer Jury in einem Gerichtsverfahren werden ließ, so wendete er sich im Fernsehfilm Er sagt, sie sagt dem Sujet einer mutmaßlichen Vergewaltigung zu, bei der Aussage gegen Aussage der Beteiligten steht.

Es ist kein ganz neues Konzept, die Schwierigkeit einer Wahrheitsfindung nach solchen Anschuldigung, der prozessualen Dynamiken und den widersprüchlichen Aussagen herauszuarbeiten. Was beispielsweise der Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann unter großem Interesse der Öffentlichkeit und sensationsheischender Boulevardmedien-Begleitung in realiter zeigt, auch in der Literatur wird es immer verhandelt.

So schilderte die Autorin Bettina Wilpert in Nichts, was uns passiert schon fast lehrbuchhaft die Aufarbeitung einer potentiellen Vergewaltigung, die sich in einer Sommernacht in Leipzig ereignet haben könnte. Sie nutzte dazu ebenso wie Schirach zwei Perspektiven, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven nebeneinander zu stellen um so auch auf das Interessanteste zu blicken: das Dazwischen, in dem die Wahrheit liegen könnte.

Der Service, die Ehefrau, der Spitzenkoch

Auch Sarah Gilmartin bedient sich für ihren Roman Service dieser Erzählweise, indem sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellt, die auf das blicken, was sich im legendären Dubliner Restaurant, das hier nur T geheißen wird, abgespielt haben könnte.

Dafür kommen zu Wort: Hannah, die als Servicekraft eines der Gesichter des nahe des Unterhauses des irischen Parlaments gelegenen Edelrestaurants war. Daniel Oswald Costello, der als Küchenchef hinter den Kulissen für außergewöhnliche kulinarische Genüsse sorgte und mit seinen Kochkünsten den Ruhm des Restaurants mehrte. Julie, seine Ehefrau, die zusammen mit Daniel und den beiden Kindern in einem noblen Anwesen wohnt und schon seit langer Zeit mit Daniel verheiratet ist.

Sarah Gilmartin - Service (Cover)

Sie sind die drei zentralen Figuren in diesem Roman, die aus ihren Augen auf das Geschehen blicken, das sich hinter den Türen des T ereignet haben könnte und das aufgrund der Prominenz Daniels für viel Aufmerksamkeit und Paparazzi vor der Haustür der Costellos sorgt. Denn Daniel steht vor Gericht, weil ihm durch eine ehemalige Mitarbeiterin eine Vergewaltigung vorgeworfen wird.

Einstweilen ruht das Geschäft im T und die Figuren beginnen sich zu erinnern. Julie daran, wie das mit der Beziehung zu Daniel anfing, für den Frauen entweder Süße oder Schlampen sind und der mit seinem Charme und seiner Präsenz Menschen im Handumdrehen für sich einnehmen kann. Hannah daran, wie es zuging im Restaurant, wie man die herausfordernden Schichten zwischen ordinärem Küchenpersonal auf der einen und den anstrengenden Kunden auf der anderen Seite der Küchentür überstand. Und Daniel, wie es ist, vor Gericht zu stehen, zusammen mit seiner Anwältin eine Verteidigungsstrategie zu entwerfen und von alten Bekannten nicht mehr gegrüßt zu werden.

Drei Blicke auf das Geschehene

Aus diesen drei Strängen montiert Sarah Gilmartin eine spannende Erzählung, die durch ihre erzählerischen Gegenschüsse, das Miteinander aus Gegenwart und Rückblenden auf die atemlose Atmosphäre des Restaurantbetriebs überzeugt. Nicht ganz so ambivalent schwebend wie die zitierten Erzählungen liegt bei Sarah Gilmartin der erzählerische Fokus weniger auf der Frage, was wirklich passiert ist, sondern konzentriert sich eher auf die Dynamiken und Prozessen, die nach den Anschuldigungen einsetzen und auf die die Beteiligten ganz unterschiedlich reagieren.

Wie sich Daniel als Opfer von Neidern und „aufmerksamkeitsgeilen“ Me-Too-Hysterikerinnen sieht, wie Julie trotz der Kenntnis des Charakters ihres Mannes weiterhin das Familienleben aufrecht erhält und wie Hannah mit den eigenen Erinnerungen und dem Erlebten hadert, das verbindet sich in Service zu einer mitreißenden Lektüre, die durch die multiperspektivische Erzählweise noch einmal gewinnt und die Schwierigkeiten einer Anklage nach einem sexuellen Übergriff eindrücklich vor Augen führt.

Dass der im Roman geschilderte Prozess so in der Realität kaum möglich wäre, da die Hürden (nicht nur) in Irland nach solchen Anschuldigungen noch einmal höher sind, peinliche Befragungen, Verzögerungen in der Bearbeitung und andere Widerstände inklusive, all das lässt schlucken, ist Sarah Gilmartins Buch doch schon so harter Tobak. Der Umstand, dass es das System Menschen nach einem Übergriff gegenwärtig noch einmal schwerer macht, ist wirklich schwer zu fassen und braucht eben solche Bücher wie das von Sarah Martin, die unterhaltsam und nicht platt moralisierend vor Augen führen, was sich ändern muss.

Fazit

Service ist ein überzeugend geschilderter Roman, der durchdacht montiert aus drei Blickwinkeln auf das Tun und Treiben hinter den Kulissen eines Spitzenrestaurants blickt. Sarah Gilmartin gelingt ein eindrücklicher Roman, der von den erniedrigenden Prozeduren in einem Prozess nach dem Vorwurf einer Vergewaltigung erzählt, wie er auch die Verteidigung und die Angehörigen in einem solchen Prozess klug in den Blick nimmt. Ebenso unterhaltsam wie aufrüttelnd!


  • Sarah Gilmartin – Service
  • Aus dem irischen Englische von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5018-1 (Kein & Aber)
  • 320 Seiten. 24,00 €
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Louise Kennedy – Übertretung

Übertretungen gibt es im Debütroman der irischen Autorin Louise Kennedy jede Menge. Mal von Nordirland in den Süden der irischen Republik, mal gibt in Sachen Grenzen des Berufsethos. Sogar ins Totenreich treten hier einige über – das sollte aber nicht allzu sehr überraschen, schließlich spielt Kennedys Erzählung zur Hochzeit der Troubles 1975 in Belfast.


Schon seit langem beweist der in Göttingen ansässige Steidl-Verlag große Hingabe, was die Pflege und Entdeckung irischer Autoren angeht. Sebastian Barry, Claire Keegan oder Edna O’Brien sind nur ein paar große Namen aus dem eindrucksvollen Portfolio an literarischen Stimmen von der grünen Insel. Mit Louise Kennedy gesellt sich nun ein weitere Stimme zu dieser illustren Riege. Sie arbeitete über dreißig Jahre lang als Köchin in Dublin und Beirut, ehe sie 2021 mit einem Kurzgeschichtenband hervortrat, der den illustren Titel The End of the World is a Cul de Sac trug. Nun gibt es mit Übertretung den ersten Roman der Irin zu lesen.

Dieser spielt im Jahr 1975. Im Kino läuft Chinatown und in den Straßen Belfasts explodiert die Gewalt.

Der Nordirland-Minister erklärt, die Welle von Morden, die sich derzeit im Westen der Stadt ereigne, sei Teil einer internen republikanischen Fehde, und bekräftigt, der Waffenstillstand mit der IRA habe auch weiterhin Bestand.

Die Protestant Action Force hat die Verantwortung für die Erschießung von zwei Männern in einer Bar im Belfaster Stadtteil New Lodge übernommen.

Bye Bye Baby ist noch immer auf Platz 1 der Charts.

Louise Kennedy – Übertretung, S. 120

Die Troubles in Belfast

Es ist eine brutale Welt, in der sich die junge Lehrerin Cushla Lavery bewegt. Ihr Bruder Eamonn betreibt in der Vorstadt Belfasts einen Pub und wird von Cushla unterstützt, wann immer es geht. Neben dem Unterricht ist sie aber vor allem bei der Betreuung ihrer alkoholkranken Mutter gefordert. Die Fehden der Troubles in den 70er Jahren bekommen die Laverys dabei hautnah mit, denn als katholische Minderheit leben sie in einem überwiegend protestantisch geprägten Viertel (eine Ausgangslage, die auch Adrian McKinty für seine Reihe um den katholischen Bullen Sean Duffy nutzt).

Louise Kennedy - ÜBertretung (Cover)

Zu allem Überfluss übertritt Cushla dann auch noch privat gleich in zweifacher Hinsicht Grenzen. So unterstützt sie einen jungen Schüler, dessen Familie von den Nachbarn ausgegrenzt und schikaniert wird, wobei sie die Rolle als objektive Lehrkraft schon recht bald verlässt, um ihrem Schützling beizustehen.

Und dann ist da auch noch der mehr als doppelt so alte Michael Agnew, in den sich Cushla Hals über Kopf verliebt. Er ist im Gegensatz zu ihr Protestant, verdient als Anwalt sein Geld und ist verheiratet. Cushla beginnt mit ihm wider besseren Wissens eine Affäre und ist schon bald enorm verliebt in den Anwalt, der sie doch immer nur dann sieht, wann es ihm gerade in den Kram passt. Doch davon lässt sich Cushla nicht irritieren und begleitet ihn sogar bei einer Reise in den Süden nach Dublin, um bei ihm zu sein. Doch die Zeiten sind gewaltgesättigt – und Cushla wird die privaten und politischen Konflikte schon bald am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Konflikte im Land, Konflikte im Privaten

Übertretung von Louise Kennedy ist ein Buch, das die Gewalt und Atmosphäre der Troubles gekonnt heraufbeschwört. Ähnlich wie zuletzt auch Kenneth Brannagh in seinem Kinofilm Belfast blickt sie aus privater Perspektive auf jenen brutalen Konflikt und spürt den Auswirkungen des brutalen Bürgerkriegs im privaten nach. Entzweite Familien, die Religion oder die Einstellung gegenüber der irischen Republik, all das entschied über Wohl und Wehe und wird in Louise Kennedys Buch spürbar. So braucht es auch viel Heimlichkeit und Maskerade, damit die Liaison des verheirateten Protestanten und der kinderlosen Katholikin nicht publik wird und damit ein potentielles Anschlagsziel für Fantatiker wird.

Zudem erzählt Übertretung auch von der Emanzipation einer jungen Frau und den patriarchalen Rollenmustern, von denen sich Cushla langsam befreit. Die Verachtung ihrer Mutter und ihres Bruders aufgrund einer potentiellen Affäre, die Abwertung der Frau im katholisch geprägten Milieu der Vorstadt Belfasts, das sind Themen, die Kennedys Debüt behandelt und das ihr Werk darüberhinaus in meinen Augen auch mit einem Werk ihrer irischen Landsfrau Anna Burns verbinden.

Wie diese in Milchmann aus der Perspektive eines jungen Mädchens auf die gesellschaftlichen Mechanismen der eingeforderten Tugendhaftigkeit von jungen Frauen blickt, so tut es ihr Louise Kennedy hier gleich, die ebenfalls von einer Gesellschaft erzählt, die es Frauen alles andere als leicht macht.

Das sorgte in Großbritannien bereits für einen Nr. 1- Bestseller sowie zahlreiche Nominierungen für Kennedys Debütroman. So fand sich Übertretung auf den Shortlists des Women’s Prize for Fiction, des Debütpreises des British Book Award und des Waterstones Debut Fiction Prize und errang den Literaturpreis des Observer für den besten Debütroman des Jahres 2022. Man mag den Jurys nach der Lektüre des Romans nur beipflichten!

Fazit

Man muss bewundernd auf diese grüne Insel namens Irland blicken, dass diese so viele großartige Erzähltalente hervorbringt. Mit Louise Kennedy ist dank des Steidl-Verlags nun die nächste Schriftstellerin zu entdecken, die sich mit Übertretung irgendwo zwischen Anna Burns und Adrian McKinty einsortiert. Ihr Porträt der jungen Cushla, ihr Eintreten für ihren ausgegrenzten Schüler, ihre Affäre und die Emanzipation in der patriarchalen Gesellschaft , die Schilderung der Lebensumstände im Belfast der 70er zur Hochzeit der Troubles – all das ist wirklich gut erzählt und verdient eine große Empfehlung!


  • Louise Kennedy – Übertretung
  • Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-259-3 (Steidl)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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