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Gabriel Tallent – Mein Ein und Alles

Was würde passieren, wenn man Bear Grylls, Vladimir Nabokov, die NRA und Hanya Yanagihara einen Roman schreiben lassen würde? Wenn man ihnen auf den Weg geben würde, dass das Endprodukt nur die Bedingung erfüllen müsse, zu schockieren und kräftig reinzuknallen? Dann käme wohl so etwas dabei herum wie Gabriel Tallents Debüt Mein Ein und Alles. Ein Buch, das eine Triggerwarnung verdiente.



Tallent hat ein Buch erschaffen, dessen Bewertung mir wirklich schwer fällt. Wo beginnen, wo aufhören? Wie dem Ganzen gerecht werden? Im Folgenden will ich es wenigstens versuchen. Am einfachsten fällt dabei noch die Synopse der Handlung

Zusammen mit ihrem Vater lebt Julia Alveston, genannt Turtle oder Krümel, abgeschieden in den Wäldern Nordkaliforniens. Ihr Vater ist der klassische Fall eines Prepper. Er misstraut dem Staat zutiefst und bereitet sich auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vor. Er hortet Lebensmittel, Medikamente und eben auch Waffen, um sich zur Wehr zu setzen. Seine wichtigste Waffe ist dabei seine Tochter Turtle. Er trainiert sie gnadenlos und schickt sie auf Survival-Trips in die Wildnis.

Bei einem dieser Überlebens-Übungen begegnet Turtle in den Wäldern zwei Jungen, die von ihren Eltern ebenfalls zur Abhärtung in der Wildnis ausgesetzt wurden. Die 14-Jährige erliegt der Anziehung eines der Jungen – was zu großen Konflikten mit ihrem Vater führt. Immer brutaler wird diese Beziehung, die von Gewalt, Anziehung, Ablehnung, Missbrauch und dem Gefühl „Wir gegen den Rest der Welt“ geprägt ist. Sein Ein und Alles wendet sich plötzlich gegen ihn – mit gewalt(tät)igen Folgen.

Emotional höchst übergriffig

Warum verdient dieses Buch nun eine Triggerwarnung? Dies bezieht sich klar auf die Beziehung von Julia zu ihrem Vater. Jener missbraucht seine Tochter auf vielfältige Art und Weise. Er züchtet sie als Kampfmaschine heran, vergewaltigt sie, entzieht ihr Liebe, manipuliert. Als Leser ist man ungefiltert überall mit dabei und muss miterleben, wie die Seele von Julia dabei Schaden nimmt. Verstörend dabei auch die Tatsache, dass es Tallent dabei offenlässt, inwiefern Turtle Opfer ist oder inwiefern sie diese Behandlung akzeptiert und vielleicht sogar mag.

In jenen Schilderung des sexuellen und emotionalen Missbrauchs ist dieses Buch höchst übergriffig. Mit einer voyeuristischen Freude schildert Tallent den Missbrauch Turtles und ihre Gefühle und Eindrücke während dieser Attacken. Dies überschreitet des Öfteren die Grenzen des Anstands und Geschmacks. Natürlich darf Literatur auch immer Grenzüberschreitung sein – hier ist mir dieses Verstoßen gegen Tabus allerdings entschieden zu plump und durch diese zu große Nähe eben auch übergriffig geraten.

Ist jene Detailfreude dort völlig fehl am Platz, weiß sie hingegen bei der Schilderung der Natur zu überzeugen. Hier ist Mein Ein und Alles wirklich enorm stark und erinnert etwa an den Roman Idaho von Emily Ruskovich. Wie Julia die Wälder durchstreift, mit welcher Benennungsstärke sie Sträucher, Farne und Bäume zu beschreiben weiß, das beeindruckt wirklich. Jene Passagen, in denen das Mädchen die Flora und Fauna ihrer Heimat durchmisst, sind unglaublich gut und wuchtig geschrieben. Sie lassen die Leser*innen tief in diese unberührte und gefährliche Natur eintauchen.

Nur konstrastiert dies grell mit der emotionalen Komponente des Romans. Mein Ein und Alles ist ein Buch, das im Zwischenmenschlich häufig überreizt. Hanya Yanagihara hat es mit Ein wenig Leben vorgemacht – Gabriel Tallent macht es ihr nach. So etwas wie eine Medium-Emotionstemperatur gibt es bei ihrem Personal nicht. Alles ist (emotional) laut, kracht und raucht.

Es kracht und wird scharf geschossen

Doch hier krachen nicht nur die Charaktere und Emotionen lautstark aufeinander – auch die Waffen spielen hier eine (für mich zu) große Rolle. Stellenweise liest sich dieser Roman wirklich, als würde man in einem Katalog der National Rifle Association (kurz NRA) blättern. Sturmgewehre, Bowie-Messer, Pistolen – alles was das Waffenherz begehrt, ist in diesem Roman versammelt und kommt fleißig zum Einsatz.

Dabei dienen die Waffen auch meist als Lösungsmittel für zwischenmenschliche Konflikte. Das ist für mein Empfinden zu billig gelöst und enttäuscht doch sehr.


Wie also diesem Buch gegenübertreten, wie bewerten? Ein Urteil fällt hier wirklich nicht leicht. Licht und Schatten, sie kommen hier zusammen und sorgen für ein heterogenes Leseerlebnis. Ich plädiere deshalb dringend für eine eigene Urteilsbildung der Leser – vorgewarnt seid ihr ja nun schon einmal. Habt ihr das Buch eventuell auch schon selbst gelesen? Und wenn ja, wie steht ihr Mein Ein und Alles gegenüber? Ich wäre auf eure Meinungen gespannt!


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Benedict Wells – Die Wahrheit über das Lügen

Zehn Geschichten aus zehn Jahren

Das Lügen und das Dichten sind Künste.

(Oscar Wilde)

Welche Zitat würde besser zum neuen Buch von Benedict Wells passen als dieses Zitat des irischen Nationalheiligen Oscar Wilde? Dichtung, Wahrheit und Lüge – in Wells Kurzgeschichten finden all diese Themen ihren Platz und sorgen für beste Unterhaltung.

Nach seinem großen Erfolg von Vom Ende der Einsamkeit hatte sich Wells rar gemacht. Zunächst gab es keine Ankündigungen für ein neues Werk – ehe dann die Ankündigung zu Wells fünftem Buch erschien. Dieser Band stellt ein Novum im Schaffen des jungen Autors dar – denn zum ersten Mal liegt kein abgeschlossener Roman, sondern eine Kurzgeschichtensammlung vor.

Wells ganz eigener Dekameron

Diese umfasst zehn Geschichten aus zehn Jahren – Wells ganz eigener Dekameron sozusagen. Zwei dieser Geschichten stammen aus dem Erzählkosmos vom eingangs schon erwähnten Vom Ende der Einsamkeit; eine Erzählung, nämlich Das Grundschulheim erschien bereits schon vorher im Sammelband Unbehauste.

Inhaltlich spannt Wells den Bogen weit, von der rätselhaften Auftaktgeschichte Die Wanderung bis hin zu einer sentimentalen Erinnerung einer alten Dame in Richard reicht die Spanne. Mal sind die Erzählungen mysteriös und leicht verstörend (Ping-Pong), ein andermal eine Hommage an die Star-Wars-Filme von George Lucas (Die Wahrheit über das Lügen). Das ist abwechslungsreich, gut geschrieben und wirklich unterhaltsam – wenngleich die Qualität der Geschichten schwankt.

Eine Tatsache zeigt auch dieser Sammelband wieder – Benedict Wells ist ein großer Melancholiker, der sich zwischen Dur und Moll am wohlsten fühlt. War in die Entwicklung hin zu einer gewissen Traurigkeit schon ab Fast genial spürbar, tritt sie hier erneut ganz offen zutage.

Die Wahrheit über das Lügen zeigt die Entwicklung eines Autors, der es schafft, den Kern seiner Geschichten freizulegen, ohne alles immer auszuerzählen. Stattdessen überlässt er vieles auch der Fantasie seiner Leser und begnügt sich mit minimalistischen Anlagen seiner Erzählungen.

Fazit

Wells ist mit seinem ersten Kurzgeschichtenband ein kurzweiliges, überraschendes und sehr unterhaltsamer Dekameron voller heterogener Erzählungen gelungen. Zum Zwischendurch-Lesen, zum Vorlesen, zum Gedanken-Fließen-Lassen – kurzum: gute Unterhaltung!

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María Cecilia Barbetta – Nachtleuchten

Ein Roman wie eine Stadt voller Winkel und Gassen – in Nachtleuchten versucht sich María Cecilia Barbetta an einem großen Panorama Argentiniens im Umbruch zwischen 1974 und 1975. In meinem Falle mit durchwachsenem Erfolg.

Schon der Blick in die Inhaltsangabe macht klar – hier schreibt jemand mit einem großen Stilwillen und Formbewusstsein. Genau 100 Kapitel weist Barbettas Roman auf, aufgeteilt in drei große Teile á 33 Abschnitte (33 die magische Zahl, wie es im Buch thematisiert wird) sowie ein Schlusskapitel namens Die vierte Dimension. Hier zeigt sich der Anspruch der Autorin, die ihr Geschichte als Brennglas für die Umsturzsituation 1974/1975 in Argentinien nach Juan Péron benutzt.

Die in den drei Teilen im Mittelpunkt stehenden Figuren erleben alle aus eigenen Blickwinkeln den Alltag und die Veränderungen im Land, wobei Barbetta vom Kleinen auf das Große kommt. Ihre Geschichte spielt in Ballester, einem Viertel Buenos Aires, das auch die Heimat von María Cecilia Barbetta selbst  ist. Dort kam die Autorin 1972 zur Welt, siedelte allerdings 1996 nach Deutschland über. Ihren Roman hat sie auf Deutsch verfasst. Und hier liegt für mich nun der Reiz ihres 521 Seiten starken Textes, den Barbetta gewissermaßen in spanischem Deutsch schreibt. Sie selbst drückt es wie folgt aus:

Das Überbordende gehört zu mir, es gehört zu Lateinamerika. es gehört zum Katholizismus, meine Sprache ist blumig und ich hab ein großes Herz für Kitsch.

Damit schafft sie eine Gratwanderung zwischen spanischer und deutscher Welt – und bringt damit auch ein Kapitel argentinischer Geschichte ins deutsche Bewusstsein, welches nicht allzu präsent ist. Dies gelang ihr bereits so gut, dass es für einen Ausschnitt des Romans den Alfred-Döblin-Preis gab. Und nun befindet sie sich mit Nachtleuchten auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Doch befindet sich die Autorin zu recht auf dieser Liste und ist ihr gar noch mehr zuzutrauen?

Würdig für den Deutschen Buchpreis 2018?

Ich selber hatte meine Probleme mit dem Buch – denn es ist für meinen Geschmack zu wuchtig, zu umfassend und verliert sich dabei selbst aus den Augen. Was ein wenig überrascht, da die durchkomponierte Strenge des Inhaltsverzeichnisses ja etwas anderes suggeriert.

Doch mein Problem mit Nachtleuchten lässt sich am besten mit einem Zitat aus dem Anfang des Romans von Seite 18 illustrieren:

Die Mädchen setzten sich schweigend in Bewegung. Sie schritten würdevoll durch das Kirchenschiff. Sie schritten wie die Nereiden. Sie schritten wie die Begleiterinnen des Poseidon, wie die verspielten Bewohnerinnen der Höhlen der Tiefen des Ozeans, sie schritten selbstvergessen wie die Beschützerinnen der Schiffbrüchigen, die edlen Töchter des Nereus und der Doris, Naturgottheiten, anmutige Nymphen, die auf Namen hörten, die wie Meeresrauschen klangen und an Schaum erinnerten, sie schritten wie Glauke, Eudora und Ligea, wie Eurydike, Klio und Xantho, wie Galateia, Kalypso, Thetis und Arethusa. Die Jungfrauen des SANTA ANA schritten, als erschlösse sich ihnen die Sprache der Delphine, Seesterne und Hippokampen.

Barbetta, María Cecila: Nachtleuchten, S. 18

Diese Pleonasmen finden sich häufig im Text. Für mich sind diese von redundanter Natur, die für mich eher die Belesenheit und Sprachmacht der Autorin zeigen sollen, denn den Text verbessern oder den Lesefluss ihrer Geschichte erhöhen.

Dieser Stilwillen zeigt sich an unzähligen Stellen im Buch – so lässt es die Autorin selten mit einer Zuschreibung gut sein, sondern häuft ganze Berge von Adjektiv- und Substantivgewittern auf, die meine Lektüre immer wieder hemmten. Ein letztes Beispiel sei hier noch zitiert, um einen Eindruck von der Beschaffenheit Barbettas Sprache zu geben:

Hier hast du deinen einzigen schwülstigen Matschhaufen, eine einzige faulige Melange aus Blutorange, Nelkenrot, Lippenstiftrot, Erdbeerrot, Merinorot, Rosenrot, Karminrot, Nagellackrot, na klar, wenn man in den eigenen vier Wänden eine Putzfrau gefangen hält und sich an den Rund-um-die-Uhr-Luxus leisten kann, ist es ja egal, Brillantrot, Mohnrot, Kirschrot, Blutrot, dann macht es überhaupt keinen Unterschied, Glutrot, Paprikarot, Hennarot, Leinrot, Saturnrot, Scharlachrot, Gelbrot, Tomatenrot angelaufen: denn dann putzt mir keiner hinterher, Sonnenuntergangsrot, Tizianrot, Safranrot, Purpurrot (…).

Barbetta, María Cecilia: Nachtleuchten, S. 119 f.

Der Abschnitt hier ergeht sich im Übrigen noch eine weitere halbe Seite in der Beschreibung der Rottöne, die in den Dialog eingeschnitten werden. Man kann das stilistisch brillant finden – für mich hingegen ist es nur anstrengend und vermindert den Lesegenuss dieser Geschichte erheblich, die für mich viel Potential hätte.

Ein Roman wie ein Stadtviertel

Mich erinnerte die Lektüre von Nachtleuchten selbst an eine Stadt beziehungsweise eine Stadtviertel wie Ballester, das Barbetta beschreibt. Es gibt schöne Ecken, tolle Plätze, viele geschichtsträchtige Winkel, in die man sich gerne verirrt. Dann gibt es aber auch Passagen, die wie aus einem Sachbuch abgeschrieben wirken oder stilistische Einsprengsel, die alles andere als zum Aufenthalt einladen. Diese Mischung aus verschiedenen Stilen und sprachlicher Opulenz überzeugte mich nicht wirklich, obwohl die Grundidee und die Ansätze ihres Buchs gut sind. Viel Lesefreude konnte mir das Buch nicht vermitteln – da sehe ich leider andere Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Doch Nachtleuchten ist für meinen Geschmack einfach zu anstrengend.

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Lauren Groff – Arcadia

Vor wenigen Tagen ging hier in Augsburg das Hohe Friedensfest zu Ende. Großes Motto des diesjährigen Festes war das Thema Utopien: Was wäre, wenn …? In vielen Veranstaltungen wurden vor Ort Utopien gesponnen, diskutiert und auch so manches Mal verworfen.

Ein ideales Buch zu diesem Thema ist der zweite Roman der Amerikanerin Lauren Groff, die in Arcadia zurück in die 70er Jahre reist und einen Blick auf die psychedelisch bunte Welt der Hippiebewegung wirft. Wobei die Welt im Falle von Arcadia so bunt gar nicht ist. Aber der Reihe nach.

Nach dem Roman Die Monster von Templeton (2009 erschienen) veröffentlichte die Amerikanerin Lauren Groff im Jahr 2012 ihre Aussteiger-Erzählung, die ein Jahr später in der deutschen Übersetzung von Judith Schwaab im C.H.Beck-Verlag erschien.

Von der Flower-Power-Zeit bis in die Zukunft

Leider hat es das Buch im Gegensatz zu seinem Nachfolger Licht und Zorn zu keinem großen Erfolg gebracht. Zumindest blieb meine Recherche nach Besprechungsbelegen in Zeitungen, Journalen oder Blogs ohne nennenswerte Ergebnisse. Ein Zustand, dem ich Abhilfe schaffen möchte, denn das Buch lohnt sich auf alle Fälle. Hier beweist Groff einmal mehr ihr Talent, ihre Geschichten mit völlig unterschiedlichen Registern zu erzählen. Dabei ist das Buch auf der Montageebene mindestens genauso spannend wie auf der inhaltlichen Ebene.

Von Anbeginn der Flower-Power Ära bis hinein in eine Zukunft spannt Lauren Groff ihren Erzählbogen, dessen wichtigster Stützpfeiler jenes titelgebende Arcadia ist, das auch den Jungen Ridley „Bit“ Scott und seine Eltern Hannah und Abe beherbergt. Diese gründen zusammen mit anderen Enthusiasten auf dem Land im Staat New York Arcadia. Ein altes heruntergekommenes Haus wird von den Aussteigern wieder instand gesetzt und zum Hauptquartier der Kommune erklärt. Bit zieht mit seinen Eltern in das Haus, genauso wie viele weitere Hippies, denen Arcadia zum Refugium wird. Immer größer wirkt die Anziehungskraft der Landkommune und sorgt für einen regen Zulauf von Nudisten, Schwangeren und Junkies, die alle hoffen, in Arcadia ihr Leben verwirklichen zu können.

Keine lustige Hippieschnurre

Doch Groff tappt nicht in die Falle, eine lustige Hippieschnurre zu erzählen (wie dies beispielsweise T.C. Boyle in Grün ist die Hoffnung tut) – sondern sie kontrastiert diese Flower-Power-Welt auch mit den Abgründen. So ist auch dieses Paradies nicht für die Ewigkeit gemacht, denn der Erfolg von Arcadia wird auch schnell zum Mühlstein um den Hals der Arcadier. Der ungebremste Zustrom von Aussteigern sorgt dann auch für das Ende der Kommune, das weniger von Peace denn von Zerstörung geprägt ist.

Ach Bit. Ich kann es kaum glauben, dass du dich nicht mehr erinnerst. Es war kalt, sagte Helle. Nie war es warm. Wir hatten nie genug zu essen. Wir hatten nie genug Klamotten. Jede einzelne Nacht bin ich davon aufgewacht, dass irgendjemand im Pink Piper Liebe machte. Überall roch es nach Wichse. Handy ließ mich mit LSD versetzten Apfelwein trinken, als ich etwa fünf war. Was für Halluzinationen hat eine Fünfjährige? Zwei Monate lang sah ich jedes Mal, wenn meine Mutter etwas sagte, Flammen aus ihrem Mund kommen. Wir waren wie Gäste am Tisch des verrückten Hutmachers, merkten aber nicht, dass die Welt aus den Fugen geriet.

Groff, Lauren: Arcadia, S. 208

Und so sehen wir durch die Augen von Bit den Aufstieg, die Blüte und den Untergang des Hippie-Utopias, das an den Klippen der Realität zerschellen musste. Über das Ende von Arcadia hinaus bleibt Bit seinem Ort der Kindheit und Jugend verbunden und übernimmt das Beziehungsnetz auch mit in die „richtige“ Welt, wordurch Groff auch ein ganz eigener Blickwinkel auf unser Zusammenleben und unsere Beziehungen gelingt.

Diese Nachwehen von Arcadia erzählt Lauren Groff in einer geschickten Montagetechnik und erreicht damit eine Tiefe in den Figuren, die die Erzählung endgültig von allen Hippie-Verklärungen oder Parodien enthebt. Hier zeigt sich eine wirklich talentierte Autorin, die stilsicher aus den unterschiedlichsten Milieus erzählen kann.

Ihr Arcadia ist ein Ort, den man als Besucher zwar gerne betritt und einmal in alle Räume hineinspitzt – dann ist man aber auch wieder froh, diese Welt verlassen zu können. Und nebenbei wirft die Amerikanerin auch noch individuelle Fragen auf, die subtil in den Text eingearbeitet sind.

Fazit

Bei mir blieb vor allem jene Frage zurück: wie sieht unser ganz eigenes Paradies aus? Und welche Abgründe hält dieses Paradies dann für uns bereit? Wer Arcadia liest, blickt noch einmal neu auf die Hippiebewegung und die Utopien, die heute so verblasst und überlebt wirken. Und beginnt vielleicht doch selbst noch einmal zu träumen.

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Michael Ondaatje – Kriegslicht

Michael Ondaatje ist zurück. Kürzlich wurde sein Roman „Der Englische Patient“ im Rahmen des Man Booker Prize zum besten Buch der letzten 50 Jahre gewählt. Nun kehrt er mit „Kriegslicht“ wieder zu seinen Topoi von Kindheit, Erinnerung und Krieg zurück.

Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 13

So erzählt es uns der Ich-Erzähler Nathaniel, der in Kriegslicht (Deutsch von Anna Leube) die Erinnerung an seine Kindheit in London während und nach dem Zweiten Weltkrieg heraufbeschwört. Jene beiden möglicherweise Kriminellen, denen die Betreuung von Nathaniel und seiner Schwester Rachel übertragen wird, werden von den Kinder Der Boxer und Der Falter tituliert.

Von einer Betreuung der Kinder zu sprechen, ist allerdings zu hoch gegriffen. Rachel und Nathaniel bleiben sich meist selbst überlassen und werden manchmal von den beiden Erwachsenen für halbseidene Touren eingespannt. So wird das Flussnetz und die Architektur Londons Nathaniel schon bald sehr vertraut, da er immer wieder mit dem Boxer zu Touren aufbricht, bei denen sie Hunde für Rennen schmuggeln und Ähnliches wagen, das die Grenze der Legalität überschreitet. Doch alle Abenteuer im Dschungel der Großstadt Londons können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine offene Wunde bei den Geschwistern zurückgeblieben ist – das Verschwinden ihrer Eltern.

Der alte Fluss Tyburn verschwand, auch Geografen und Historiker verloren seine Spur. So ähnlich glaubte auch ich, meine sorgfältig verzeichneten Gebäude an der Lower Richmond Road seien gefährlich gefährlich provisorisch,so wie große Gebäude im Krieg verlorengegangen waren, so wie wir Mütter und Väter verlieren

Ondaatje, Michael: Kriegslicht, S. 43

Doch – ohne hier Entscheidendes der Handlung vorwegnehmen zu wollen: Dieser Verlust ist kein dauerhafter. Denn Kriegslicht ist genauso die Geschichte von Nathaniel wie die seiner eigenen Mutter, deren Geheimnisse zentral für die Handlung von Ondaatjes neuem Roman sind. So schafft das Buch den Bogen vom Zweiten Weltkrieg hin zum Kalten Krieg, der aus den Ergebnissen jenes Zweiten Weltkriegs erwächst.

Ondaatjes Buch ist zum Teil eine Spionagegeschichte und zum Teil die Rekonstruktion eines Verlustes. Diese Ambivalenz macht das Buch reizvoll, lässt aber auch etwas Tiefe vermissen. So wird viel angerissen, vertieft wird es hingegen kaum. Dieses fragmentarische Schreiben lässt auch keinen durchgängigen Lesefluss entstehen, vielmehr muss man sich als Leser einen Teil der Geschichte selbst ausmalen. Das ist nicht immer bequem für den Rezipienten, funktioniert allerdings von der inneren Logik des Romans her ganz ausgezeichnet. In die Kategorie Saftiger Schmöker passt dieses Buch so eindeutig nicht (auch wenn der Inhalt dies eigentlich impliziert) – zudem lässt die Länge von gerade einmal 320 Seiten so etwas wie ein tiefes Abtauchen in die Doppelgeschichte kaum erwarten.

Kriegslicht hat unterschiedliche Themenschwerpunkte. So ist das Buch eine Hymne an ein London, das im Zuge von Gentrifizierung und Bauboom völlig zu verschwinden droht. Die Flüsse, die Gebäude, die Geschichte – all das drückt sich in diesem Buch genauso aus wie das Thema des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen. Die Kindheit und die Erinnerung fasziniert Ondaatje ebenso unübersehbar (es sei hier nur an seinen letzten Roman Katzentisch erinnert) – und so liest sich sein neues Buch tatsächlich auch ein Stück weit wie eine Synthese aus dem Englischen Patienten und letzterem Werk. Kein ganz leichtes oder zugängliches Buch, im Gegenteil. Das Sperrige ist hier immer präsent und zeigt einmal mehr, wie wahr das Zitat aus Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit ist

Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.

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