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Richard Russo – Mohawk

Der Vermesser der amerikanischen Kleinstadt ist zurück. Wer aber glaubt, dass Mohawk ein neuer Roman aus der Feder Richard Russos ist, der sieht sich schnell getäuscht. Denn der Dumont-Verlag kümmert sich weiter um die Backlist des Amerikaners und veröffentlicht nach Mittelalte Männer aus dem Jahr 1997 nun erstmals den Debütroman Russos in der deutschen Übersetzung von Monika Köpfer. Ein Werk, dass seinen Charakter eines Debüts nicht ganz verhehlen kann.


So erschien Mohawk ursprünglich 1986, bevor es nun knappe 40 Jahre später erstmals auf Deutsch übersetzt vorliegt. Das evoziert natürlich vor allem eine Frage – hat es eine Berechtigung, dass das Buch nun nachgeschoben veröffentlicht wird oder hätte man lieber auf einen neuen Titel Russos gewartet?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, schlagen hier zwei Herzen in meiner Brust. So zählt Russo zu einem meiner persönlich favorisierten Autoren, was die Kunst des Kleinstadtromans und der warmherzigen Schilderung ganz durchschnittlicher und fehlbarer Charaktere betrifft. Großartig sein Blick etwa auf den (Anti)Helden Donald „Sully“ Sullivan, der in den Romanen Ein grundzufriedener Mann und Ein Mann der Tat auftreten lässt. Kaputtgearbeitet, mit einem großen Talent für Fettnäpfchen und Bauernschläue ist er eine Figur, die man in Abwandlung im Kosmos Richard Russos immer wieder antrifft.

Es sind Menschen, die wissen, dass Glanz und Glamour für sie nicht vorgesehen ist, die gerade in ihrer Alltäglichkeit so besonders sind. Darin besteht in meinen Augen die Kunst des Menschenzeichners Russo, der solche Figuren unnachahmlich nachvollziehbar und plastisch zeichnet.

Die erzählerische Entwicklung Richard Russos

Wie hat sich dieses Talent entwickelt – und wie hat Russo zu seiner Erzählform gefunden? Das lässt sich nun dank des nachgereichten Debüt ganz genau betrachten. Denn der erzählerische Fortschritt, den der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor innerhalb von fast vier Dekaden gemacht hat, wird dank dieser Erstübersetzung nun transparent.

Richard Russo - Mohawk (Cover)

Was dabei als Erstes auffällt, ist die Tatsache, dass Russo schon bei seinem Debüt – das laut John Irving zu gut für ein Debüt sei, so der Blurb auf dem Klappentext – eine Erzählform wählt, auf die er auch in den späteren Romanen immer wieder zurückgreifen wird. Es ist die Form des amerikanischen Kleinstadtromans. Ähnlich wie Kent Haruf oder später auch Joel Dicker erschafft Richard Russo in seinen Romanen immer wieder ein kleines, durchschnittliches Städtchen, das man als jeweiliges Amerika en miniature lesen könnte.

Mögen die Kleinstädte auch mal den Namen North Bath oder Empire Falls tragen – im Kern sind sie alle gleich. Es sind stets nordamerikanische Kleinstädte, in denen die Bewohner*innen vor sich hinleben und mal größere und mal kleinere Einsichten erfahren. Im Großen und Ganzen sind es aber Städte, die für eine beständige Ordnung stehen, obgleich diese Städte auch meist im Niedergang inbegriffen sind.

Bei Mohawk ist das nicht anders, das sich hier als Prototyp all jener Erzählkulissen entpuppt, die in den kommenden Büchern folgen sollten.

Eine Russo-typische Kleinstadt namens Mohawk

Das an der Ostküste in der Nähe von New York angesiedelte Städtchen hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die ansässige Lederindustrie befindet sich im Niedergang. Das Einzige, für das die Industrie noch zuverlässig sorgt, sind die chemischen Rückstände der Gerbereien, die den Fluss verunreinigen. Das Einzige, das noch zuverlässig funktioniert, ist die schaukelnde Ampel, die auch in der Nacht auf den menschenleeren Straßen zuverlässig den Takt vorgibt.

Zentrum des Kaffs ist das Diner Mohawk Grill, das von Harry betrieben wird und in dem Glücksspieler und hungrige Stadtbewohner zusammenkommen. Darum herum gruppiert Russo die Familien Grouse und Wood, die durch die Verwandtschaft der beiden Großmütter und das Schicksal der pflegenden Cousinen miteinander verbunden sind. Ein Officer, ein stadtbekannter Sonderling, im zweiten Teil des Buchs dann auch die jüngere Generation, die ihren Auftritt hat. Viel mehr an Personal benötigt Richard Russo nicht, um die kleineren und größeren Dramen des Lebens zu schildern.

Nicht verwirklichte Liebe, Fehden zwischen Jugendlichen und unterschiedlichen Familien, Antriebslosigkeit, dazu auch Themen wie der Tod und die Chancenlosigkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Das sind Themen, die Russo in Mohawk anschneidet, aber nicht wirklich tiefergehend behandelt. Das Leben ist hier ein langer, ruhiger Fluss, der von ein paar unvorhergesehenen Schnellen doch eben recht unberührt vor sich hinfließt. Zeithistorische Wegmarken wie der Vietnamkrieg und die damit verbundenen Einberufungen spielen hier zwar im zweiten Teil eine Nebenrolle, insgesamt ist es aber doch eher das private Drama denn die Weltgeschichte, die Richard Russo schon in seinem Debüt vorrangig interessieren.

Seine Kleinstadtdramen und das Erzählen des Durchschnittlichen über eine hohe Lauflänge ist schon in Mohawk auffallend und zeigt, dass Russo dieses narrative Konzept verbunden mit dem Handlungskosmos der Kleinstadt schon ab Buch eins verfolgt und im Folgenden dann verfeinert und verbessert hat. Wobei die Verbesserung in den weiteren Titeln mit einer deutlichen Ausdehnung des Umfangs seiner Bücher einherging. Mit knapp 500 Seiten ist dieses Buch an der unteren Grenze in Sachen Seitenzahl angesiedelt. Spätere Werke sollten diese Marke locker mit bis zu fast 300 Seiten mehr überschreiten.

Noch nicht die Klasse späterer Werke

Warum aber konnten mich spätere Werke Russos eher überzeugen? Hier kommt nun das zweite Herz ins Spiel, das diesbezüglich in meiner Brust schlägt.

In meinen Augen ist die Figurenführung hier noch nicht so stark, wie man es eigentlich von Russo gewohnt ist. Und auch sein erzählerischer Kosmos ist hier noch nicht so ausbalanciert, wie es Russo in Büchern wie Ein Mann der Tat oder Diese gottverdammten Träume gelungen ist. So fehlt den meisten Figuren hier noch etwas an Tiefe und Profil, das sie zu starken Figuren machen würde, die die Geschichte über die Länge tragen. Alles ist hier noch nicht so scharfgestellt, wie man es eigentlich von Russo kennt. Auch die Komik ist noch zaghafter eingesetzt, als man es eigentlich von ihm gewohnt ist.

Zwischen alten Familienfehden, einem haltlosen Officer, dem Geheimnis hinter dem Sonderling, den Motivationen seiner Figuren, plötzlichen Todesfällen und den Sprüngen zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden verliert Richard Russo bisweilen etwas die Orientierung, sodass das Buch nicht immer wirklich stringent wirkt.

Der Eindruck, der sich bei mir nach nun sechs gelesenen Romanen einstellte, war der Eindruck der Übersättigung, da Themen und Setting doch über die Bücher hinweg wenig Entwicklung erkennen lassen. Natürlich ist diese Kritik ein Stück weit unstatthaft, trifft dieser Vorwurf hier eigentlich das falsche Buch, das es ja eigentlich am Anfang von Russos Erzählkarriere steht und nur hierzulande aufgrund der deutschen Publikationspolitik erst nach all den anderen Werken erschien.

Fazit

Und doch ist Mohawk auch in chronologisch sortierten Überblick eines der schwächeren Werke, das zeigt, dass Russo über die Jahre erst zu der bestechenden Form in Sachen Figurenführung und Erzählansatz finden musste, die seine letzten Werken auszeichneten.

Will man die Entwicklung Russos nachvollziehen, ist das Buch natürlich großartig, lassen sich Motive, Themen und narrative Strategien von Beginn dieses Erzähldebüts aus wunderbar analysieren und miteinander in Vergleich setzen. Für alle, die aber einfach Unterhaltung suchen und sich (wieder einmal) in den Kleinstadtkosmos von Richard Russo versenken möchte, wären die schon erwähnten Romane Ein grundzufriedener Mann, Ein Mann der Tat oder auch das ebenfalls nachgereichte Werk Mittelalte Männer über einen Universitätsprofessor in meinen Augen nach wie vor die erste Wahl.

Beileibe kein schlechtes Buch – und im Vergleich mit Versuchen aus deutscher Feder immer noch eine Klasse für sich. Aber Russos Formkurve zeigte mit der fortschrittlichen Schriftstellerkarriere nach oben – das beweist das Debüt Mohawk dann leider doch.


  • Richard Russo – Mohawk
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8228-1 (Dumont)
  • 496 Seiten. Preis: 26,00 €
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Kyle Perry – Die Stille des Bösen

Krimis aus Übersee findet man in den Buchhandlungen en masse, auch Australien als Handlungsort ist schon gut erschlossen. Krimis aus Tasmanien hingegen sind bislang Mangelware. Generell ist Tasmanien ja ein literarischer Schauplatz, der außer von Richard Flanagan zumindest auf dem hiesigen Buchmarkt kaum bespielt wird. 68.000 Quadratmeter umfasst die Insel, deren größter Teil unter Naturschutz steht und die zumindest für uns Europäer schon fast den Rand der Welt darstellt. Nun betritt mit Kyle Perry ein Krimiautor die Bühne, der mit Die Stille des Bösen ein formidables Debüt vorlegt. Ein Debüt, dessen nichtssagender deutscher Titel noch der schwächste Aspekt des Buchs ist.


Im Original trägt Perrys Buch den Titel The Bluff. Ein stimmiger Titel, geht es doch um Täuschung, Manipulation und das Spiel mit Erwartungen und Öffentlichkeit. Ausgangspunkt ist der Schulausflug einer Gruppe von Schüler*innen in die Great Western Tiers, eine im Herzen Tasmaniens gelegene Region. Bei diesem Ausflug verschwinden vier Schülerinnen spurlos, eine betreuende Lehrerin wird vor Ort verletzt. Die beiden Polizisten Cornelius „Con“ Badenhorst und Gabriella Pakinga übernehmen die Ermittlungen und versuchen den Verbleib der Mädchen in der Wildnis Tasmaniens zu klären.

Besonders brisant wird das Verschwinden durch die Legende des „Hungermanns“. Dieser forderte schon einmal im Jahr 1985 Opfer, als Schülerinnen ebenfalls verschwanden. Seitdem wurde ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse gebreitet und die Legende des „Hungermanns“ war tabu. Doch mit dem Verschwinden der jungen Frauen taucht die Legende wieder auf, befeuert durch das Agieren ihrer Mitschülerin Madison. Diese betätigt sich als reichweitenstarke Influencerin und verfügt dadurch über ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument, nämlich die öffentliche Wahrnehmung.

Gezielt streut sie Informationen und hält andere wichtige Beobachtungen zurück, mobilisiert durch ihre Videos die lokale Bevölkerung in Limestone Creek und manipuliert ihre Mitmenschen und die Polizei. Eine echte Blufferin also, die die Suche nach ihren Mitschülerinnen als Spiel begreift.

Aufruhr in Tasmanien

Kyle Perry - Die Stille des Bösen (Cover)

Um seinen Krimi zu erzählen wählt Kyle Perry drei Perspektiven, aus denen er hauptsächlich erzählt. So erlebt man die Ermittlungen aus Sicht von Con Badenhorst. Für den Aspekt der lokalen Bevölkerung ist Murphy zuständig, er ist der Vater eines der verschwundenen Mädchen versorgt als Drogenproduzent halb Limestone Creek. Und einen Einblick in die Schulklasse erhält man durch die Lehrerin Eliza, die beim Klassenausflug niedergeschlagen wurde und die vier Mädchen als letzte Zeugin sah. Diese drei Personen sind aufeinander angewiesen, um das Verschwinden der Mädchen zu klären. Doch nicht jeder von ihnen ist ein verlässlicher und ehrlicher Zeuge, auch hier greift der Originaltitel des des Buchs.

Kyle Perry gelingt es, Stück für Stück die Wahrheit über das Verschwinden der Mädchen zu enthüllen. Er schildert die von Madisons Agieren ausgelösten Dynamiken und treibt das Buch in gutem Tempo voran. Immer wieder wechselt er die Blickwinkel, erzählt von der komplizierten Suche im unzugänglichen tasmanischen Hinterland und inszeniert diese Kulisse mit tollen Bildern. Man meint förmlich, sich in dort in den Great Western Tiers zu befinden, die dschungelartige Natur dort voller Berge, Grünzeug und Gumpen gemeinsam mit Badenhorst und Co zu durchstreifen. Das, was das Cover verheißt, liefert Kyle Perry dann im Inneren uneingeschränkt. Suspense und Natur, es ist hier alles drin.

Fazit

Vertrügen auch einige der Figuren noch ein Mehr an Profil und Hintergrund, ist das Buch doch ein erstaunlich souverän erzählter Krimi, dessen Taktung und Wendungen routiniert wirken. Themen wie das Aborigine-Erbe Tasmaniens, gefährliche Dynamiken der Sozialen Medien und der lokale Drogenhandel werden von Kyle Perry gestreift, ohne dass sie die Handlung beschweren. Der Plot ist gut entworfen, der Schauplatz plastisch eingefangen und die Lektüre von Die Stille des Bösen macht Lust auf mehr. Hier schreibt ein echtes Krimitalent, das Tasmanien mit Verve auf die kriminalliterarische Landkarte packt. Bravo!


  • Kyle Perry – Die Stille des Bösen
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-117-6 (Atrium)
  • 460 Seiten. Preis: 22,00 €
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Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang

Auf knappe 7000 Rezensionen auf einem einschlägigen Shoppingportal bringt es die englische Originalausgabe von Chris Whitakers Roman We begin at the end. Eine stattliche Anzahl von Rezensionen, auch auf die Bestsellerliste der New York Times hat es der britische Autor mit seinem Buch geschafft. Nun erscheint das Buch in der deutschen Übertragung durch die bewährte Übersetzerin Conny Lösch auf Deutsch. Was kann der „must-read crime novel of the year“, wie es vom Cover der Originalausgabe kündet?

Zunächst zwei kurze Feststellungen vorweg: im Vergleich zum englischen Originaltitel ist der deutsche Titel Von hier bis zum Anfang deutlich schwächer, da ungenauer. Und ein Krimi ist das Buch in meinen Augen auch nicht, genauso wenig wie es die Romane von Joel Dicker, Ann Petry oder Delia Owens sind. Warum komme ich zu diesen Urteilen?

Ein vermeintlicher Krimi

Zunächst klingt alles tatsächlich sehr nach einem klassischen Krimi, blict man auf den Klappentext oder die Inhaltszusammenfassung. Vor 30 Jahren soll Vincent King Sissy Radley umgebracht haben. Seine Strafe hat er im Gefängnis verbüßt, wurde wegen eines Mordes im Gefängnis noch länger einbehalten und kehrt nun nach Cape Haven zurück. Dort hat eigentlich niemand auf ihn gewartet, nur sein Freund aus Kindertagen, der lokale Polizeichef Walk hät ihm aus alter Verbundenheit die Treue. Doch die Rückkehr des verurteilten Mörders verursacht viel Aufruhr – und wenig später wird Walk zu einem neuen Tatort gerufen. Das Opfer diesmal: Star Radley, die Schwester von Sissy. Am Tatort greift er den blutverschmierten Vincent King auf, der auch diesen Mord gesteht. Die Spuren sprechen eine eindeutige Sprache und so steht eine Verurteilung von Walks altem Freund unmittelbar bevor. Doch was führte zu der Tat?

Um diese zu verstehen, muss man wirklich am Anfang der Geschichte ansetzen, die vor 30 Jahren begann. Geschickt schafft es Chris Whitaker, nach und nach kleine Puzzlestücke an den Platz zu rücken, während er seine Geschichte vorantreibt. Er schildert die Spurensuche Walks auf eigene Faust, der sich in der Kleinstadt Cape Haven auskennt und der mit seiner lokalen Expertise und Verbundenheit mit den Bewohner*innen viel Vorsprung vor den eigentlichen Ermittlern hat.

Den größten Raum in dieser Erzählung nimmt aber das Schicksal der beiden Kinder der ermordeten Star Radley ein. Da ist die Erstgeborene Dutchess. Ihren Vater kennt sie nicht, dafür spendet ihr der eigene Familienstammbaum Orientierung. In diesem Stammbaum findet sich ein Outlaw, der zum Vorbild für Dutchess wird. Die Qualitäten eines Outlaws braucht sie auch tatsächlich, um ihren kleinen Bruder Robin zu beschützen. Musste Dutchess schon vor dem Mord an ihrer Mutter die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen, steht sie nun nach der Ermordung noch mehr in der Verantwortung. Zusammen mit ihrem Bruder wird sie nach Montana zu ihrem Großvater geschickt. Wirklich zur Ruhe kommen die beiden hier aber auch nicht. Die Macht des Schicksals ist stark und holt die beiden auch dort ein.

Ein potentieller Bestseller mit vielen Qualitäten

Dass dieses Buch zum Bestseller avancierte, überrascht wenig. Denn Whitakers Debüt besitzt ganz unterschiedliche Qualitäten, die das Buch für eine wirklich breite Leserschicht interessant machen. Da ist zunächst die Tatsache, dass das Buch rund ist. Erst am Ende ergeben sich die Zusammenhänge und die Schicksalsfäden werden entwirrt. Insofern ist der Originaltitel, der vom Beginn am Ende spricht, sehr gut passend. Alles fügt sich und ergibt ein sinnreiches Bild.

Dieses Bild, das sich dann zeigt, zielt deutlich aufs Herz und besitzt eine starke emotionale Kraft. Das Waisenschicksal von Dutchess und ihrem Bruder Robin rührt an, auch wenn Chris Whitaker hier so manches Mal etwas zu stark auf die Tränendrüse drückt. Aber wie er von Einsamkeit und dem viel zu frühen Erwachsenwerden von Dutchess erzählt, das ist wirklich stark gemacht (und erinnert an Delia Owens Bestseller).

Neben der emotionalen Güte ist es auch die Qualität eines Justiz- und Spannungsromans, die dem Buch innewohnt. Es gibt Tote, Vermisste, einen Prozess mit Geschworenen, der die Suche nach der Wahrheit beschleunigt und immer drängender werden lässt. Dabei übertreibt es Whitaker auch nicht mit der Gewalt, alles geschieht in allgemein verträglicher Intensität, sodass auch zarter besaitete Leser*innen durchaus gut unterhalten werden. Ist Vincent King schuldig? Wer hätte weiteres Interesse an den Morden und wo sind die Motive zu suchen? All diese Fragen ziehen sich durch das Buch.

Neben all der Schwere gibt es aber auch immer wieder komische Momente, etwa wenn Walks Nachbar alleine als Bürgerwehr fungiert und dabei höchst sachverständig erscheinen will, ein Wahrheit aber ständig die Polizeicodes durcheinanderbringt. Aber auch die anderen Figuren sind zumeist glaubwürdig gezeichnet und haben alle ihre zwei Gesichter.

In Von hier bis zum Anfang stellt Chris Whitaker auch unter Beweis, dass es nicht viele Figuren braucht, um eine große Geschichte zu erzählen. Er konzentriert sich auf ein sehr überschaubares Figurenensemble. Genauso klein wie die Figuren ist auch der Schauplatz Cape Haven. Dem Engländer Whitaker gelingt es ähnlich wie dem Schweizer Joel Dicker, das Leben in der amerikanischen Kleinstadt ungemein plastisch zu schildern. Man vermeint, selbst durch die Straßenzüge Cape Havens zu bummeln, die Läden und Häuser vor sich zu sehen oder in der Weite Montanas zu stehen.

Fazit

Die Atmosphäre in diesem Buch ist stark. Die Naturbeschreibungen überzeugen genauso wie das soziale Gefüge in Whitakers Kleinstadt, das Buch hat eine untergründige Spannung und große emotionale Wucht. Viele Punkte also, die das Buch maximal anschlussfähig an verschiedene Leseinteressen machen. Ein breiter Erfolg beim lesenden Publikum sollte diesem Buch gewiss sein, davon bin ich überzeugt. Ein potentieller Bestseller, den ich mir auch bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels im Herbst gut vorstellen könnte.


  • Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-492-07129-1 (Piper)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ann Petry – Country Place

In der Coronakrise hat das Dorf und die Kleinstadt wieder an Prestige gewonnen. Viele sahen und sehen dort die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Viel Platz für Eigenheim und Kinder, ein begrenztes soziales Umfeld und (noch) erschwingliche Grundstückspreise. Das ist in heutigen Zeiten für viele Städter mehr als verlockend. Doch auch in der Literatur hat das Dorf jüngst eine Renaissance erfahren. Angefangen von Juli Zehs Bestseller Unterleuten über Dörte Hansen bis hin zu Christoph Peters reicht die Reihe an Büchern, die sich mit dem Dorfleben beschäftigen. Dabei schwingt auch immer die Gefahr der Verklärung mit, die das Dorf als Hort der Nostalgie und des reibungslosen Miteinanders personifiziert.

Ein Antidot zu solchen Verklärungen und falschen Vorstellungen ist Ann Petrys Roman Country Place. Ursprünglich 1947 erschienen, liegt das Buch nun erstmals in einer Übersetzung von Pieke Biermann auf Deutsch vor. Im Jahr zuvor erschien das grandiose und zu Unrecht vergessene Buch The Street Petrys in der Übersetzung von Uda Strätling. Es scheint, als beginne langsam die Renaissance dieser so kraftvollen und talentierten Autorin. Eine sehr begrüßenswerte Entwicklung!

Heimkehr nach Lennox

Ann Petry - Country Place (Cover)

Dabei beginnt alles mit einem klassischen Motiv: ein Held kehrt heim aus der Schlacht zu seiner Frau. Sein Name ist Johnnie, er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und kehrt nun in das kleine Küstenstädtchen Lennox heim. Dort wartet seine Frau Glory auf ihn. Doch von Anziehung und Begehren nach der langen Absenz ihres Mannes kann keine Rede sein. Sie hat sich in der Abwesenheit mit dem Besitzer einer Tankstelle eingelassen, der im Städtchen als unverbesserlicher Frauenheld berüchtigt ist. Und so muss dieser moderne Odysseus erkennen, dass er sich in seinen Vorstellungen ein ganz anderes Bild gemacht hat, als es sich dann in der Realität präsentiert.

Doch nicht nur Johnnies Ehefrau war ihm untreu und wurde ihm abspenstig gemacht. Auch all die anderen Bewohnerinnen des Städtchens haben ihre Abgründe. Ehebruch, Antisemitismus und sogar versuchter Mord gibt es im kleinen Lennox, wie Ann Petry zeigt. Man belauert sich gegenseitig, intrigiert und spricht schlecht hinter dem Rücken übereinander. Oftmals braucht es dazu auch gar nicht den Rücken, sondern man sagt sich ins Gesicht, was man voneinander hält. Besonders die Figur des Taxifahrers, das „Wiesel“ sticht hier hervor und macht seinem Spitznamen alle Ehre. Er intrigiert, stichelt und hat dabei selbst doch auch eigene Leichen im Keller.

Die Hölle, das sind die anderen

Das Bild des Kleinstadtlebens, das Ann Petry in ihrem Buch zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. Wie man übereinander herzieht, sich gegenseitig in schlechtem Licht dastehen lässt und sich das Leben schwermacht, daran hätte auch Jean-Paul Satre seine Freude gehabt. Erstaunlich an diesem Buch aus dem Jahr 1947 ist auch, wie Ann Petry als schwarze Autorin ihren weißen Mitmenschen gnadenlos den Spiegel vorhält. Sie zeigt all die Verlogenheit der sich so überlegen fühlenden Weißen. Schwarze kommt in diesem Roman allenfalls als Bedienstete vor.

Für einen Roman aus den 40er Jahren ist das wirklich bemerkenswert (man denke nur an den ähnlich gelagerten Fall von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer). Da verzeiht man der Autorin auch manch arg plakativen Figuren und Motive. Dass der verschlagene und intrigante Taxifahrer „Das Wiesel“ heißt, dass es einen Sturm braucht, der die Beziehungen und Verhältnisse durcheinanderwirbelt, das ist alles etwas uneleganter als in The Street gelöst, dessen Qualität Country Place nicht ganz erreicht.

Und dennoch ist das Buch in seiner soziologischen Schärfe, seinen mit Krimi- und Kolportageelementen versetzten Plot durchaus stark und völlig zurecht jetzt auf Deutsch zugänglich gemacht worden. Zu keinem Zeitpunkt wirkt das Buch antiquiert oder inszenatorisch angestaubt. Country Place besitzt eine Frische und Stärke, die die diese deutsche Erstausgabe evident macht, wenngleich man als deutschsprachige Leser*in gute 70 Jahre Wartezeit in Kauf nehmen musste.

Das Nachwort von Farah Jasmine Griffin rundet das Buch hervorragend ab. Gelobt sei an dieser Stelle auch Pieke Biermann für ihre Übertragung und der Verlag Nagel & Kimche für den editorischen Mut, sukzessive das Werk Petry neu auf Deutsch zugänglich zu machen!

Eine weitere Besprechung zu diesem Buch gibt es bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Ann Petry – Country Place
  • Aus dem Englischen von Pieke Biermann
  • Mit einem Nachwort von Farah Jasmine Griffin
  • ISBN 978-3-312-01225-1 (Nagel&Kimche)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Benedict Wells – Hard Land

Einer der auffallendsten Trends in der Literatur der letzten Jahre ist der des Booms der Coming-of-Age-Erzählungen.

„Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“

Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.

Benedict Wells – Hard Land, S. 306

So lässt Benedict Wells in seinem Roman einen Lehrer dozieren, der den Schülern dieses Genre nahebringen will. Und schaut man auf die Bucherscheinungen der letzten Zeit bis hin zu den aktuellen Neuerscheinungen, dann muss man konstatieren: Coming of Age boomt wie selten zuvor. Egal ob Sebastian Stuertz, Ronya Othmann, Verena Guentner, Benjamin Myers, Matthias Brandt, Johann Scheerer oder ebenfalls in diesem Monat Callan Wink. Sie alle haben in jüngster Zeit Romane vorgelegt, die um ihre jugendlichen Protagonisten kreisen, deren Reifung in den Büchern nacherzählt wird, das Ganze angesiedelt meist während der Sommermonate. Und auch Benedict Wells fügt diesem langsam immer unübersichtlicher werdenden Berg an Büchern nun ein weiteres Werk hinzu. Es trägt den Namen Hard Land und spielt, wie auch schon Wells dritter Roman Fast genial, in den USA.

Willkommen in Grady

Aber im Gegensatz zu diesem Roadnovel siedelt Wells diesmal seine Erzählung in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Grady an. Dort lebt Wells Held und Ich-Erzähler Sam mit seinen Eltern. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter betreibt eine Buchhandlung in der lokalen Mall und ist schwer krank. Sams ältere Schwester Jean hat der Familie schon lang den Rücken gekehrt, um als Drehbuchautorin in Los Angeles zu leben.

Wir schreiben das Jahr 1985. VHS-Kassetten boomen, das Internet ist noch weit weg, die Simple Minds liefern mit Don’t you einen der größten Hits des Jahrzehnts ab und Marty McFly wird mit Zurück in die Zukunft zum Vorbild einer ganzen Generation. In diesem Jahr passiert das, was Sam schon im ersten Satz des Buchs beschreibt.

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells – Hard Land, S. 11

Damit ist die Rahmenhandlung des Buchs umrissen. Während Sam auf seinen 16. Geburtstag zusteuert und sich auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet, kommt das familiäre Gefüge daheim langsam ins Rutschen. Die Mutter ist von ihrer Erkrankung schwer gezeichnet und Sam flüchtet sich zu seinem Job im Kino Metropolis. Dort lernt er eine Clique von Freunden kennen und exerziert mit ihnen all das durch, was man in einem Coming of Age-Roman eben so erleben muss: erste Liebe, Hauspartys, Mutproben, Musik machen und Baden im See.

Die 49 Geheimnisse

Wells Roman zieht seine Struktur dabei aus der erdachten Kleinstadt Grady. Diese besitzt nämlich laut der urbanen Legende 49 Geheimnisse. Folglich teilt sich das Buch auch in 49 Kapitel, deren Rahmenhandlung ja tatsächlich schon mit dem ersten Satz abgedeckt wird.

Und ja, man nimmt Benedict Wells nach der Lektüre sofort die Faszination für die „geliebten Eighties-Filme“ (so der Autor im Nachwort) ab. Breakfast Club, Zurück in die Zukunft, Stand by me. All das sind Namen, die beim Lesen des Buchs unwillkürlich auftauchen. Denn Hard Land ist Paraphrase und Pastiche dieser Filme zugleich. Eine Kleinstadt, eine Gruppe Jugendlicher, Abhängen in Kinos und Diners, ds nervige Schulleben, erste Liebe, Pubertät und unverhoffte Abenteuer. Diese Zutatenmischung verwendet Wells auch in seinem Roman – und schafft damit einen gut konsumierbaren Unterhaltungsroman, der auch als Jugendroman durchgeht.

Wells huldigt einer längst vergangenen Welt. Sein Amerika endet an den Stadtgrenzen von Grady, von einer gesellschaftlichen Spaltung ist hier noch nichts zu sehen. Auch wenn Sams Freunde aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung in der Kleinstadt beäugt werden – irgendwie fügt sich in Grady alles und bleibt weitestgehend harmonisch. Und selbst wenn die Themen Tod und Trauer plötzlich für Sam aktuell werden – irgendwie findet sich dann doch wieder alles. Das ist manchmal dann doch etwas banal, genauso wie der ein oder andere Dialog im Buch.

Fazit

Ein melancholisch-kindliche Ton ist kennzeichnend für Hard Land. Benedict Wells gibt dem boomenden Coming of Age-Affen Zucker und beschwört einen doppelt nostalgischen Roman herauf. Eine längst vergangene (bzw. sehr verklärte) Epoche der amerikanischen Geschichte trifft auf einen Erzähler, der seine Jugend noch einmal durchlebt. Das ist solide erzählt, weiß als Roman zu unterhalten, fügt dieser ohnehin schon übersättigen Romangattung aber keine wesentlich neuen Facetten hinzu.


  • Benedict Wells – Hard Land
  • ISBN: 978-3-257-07148-1 (Diogenes)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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