Tag Archives: Mann

David Szalay – Was nicht gesagt werden kann

Vom Mörder zum Baulöwen in der englischen High-Society, von der Einsamkeit in die Arme einer Geliebten: In seinem Roman Was nicht gesagt werden kann schickt David Szalay seinen Protagonisten István auf einen Weg zwischen tiefen Tälern und steilen Höhen des Lebens. Nur das mit dem Ankommen, es will zu keinem Zeitpunkt so recht klappen.


Liest man den neuen Roman des 1974 in Kanada geborenen David Szalay, ist man doch verwundert, schaut man auf die bislang erschienen Romane. In diesen erhob er das episodische Erzählen zur Kunstform, etwa in seinem letzten, von Hennig Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman Turbulenzen. Dort schüttelte er in den titelgebenden Turbulenzen eines Flugzeugs die Leben mehrerer Passagiere auf einem Linienflug durcheinander und erzeugte dadurch einen Reigen von Leben und Schicksalen.

Schon in seinem ersten, ebenfalls von Henning Ahrens übersetzten Roman Was ein Mann ist, wandte Szalay dieses Erzählprinzip eines Reigens an, um von mehreren Männern in ganz verschiedenen Altersstufen und Lebensstadien zu erzählen – und dabei nicht nur einen Blick auf Männlichkeit in der Gegenwart zu werfen, sondern auch für einen englischsprachigen Erzähler reichlich ungewöhnliche Schauplätze wie etwa den oberfränkischen Pilgerort Vierzehnheiligen aufzusuchen.

Ein biografischer Roman anstelle von Reigen

David Szalay - Was nicht gesagt werden kann (Cover)

Liest man nun diesen dritten, wieder von Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman, ist eine völlige Abkehr von diesem multipersonellen Erzählkonzept zu beobachten. Stattdessen nimmt sich David Szalay diesmal einen ganz konventionellen biografischen Rahmen vor, um wie etwa Robert Seethaler das Schicksal eines Mannes chronologisch von der Kindheit bis zum Tod durchzuerzählen.

Sein Held heißt István. Er wächst in einem ungarischen Plattenbau auf, wo er bei seiner alleinerziehenden Mutter wohnt. Schon bald folgt er der Lust des Fleischs (das im englischsprachigen Original den Titel bildet), die sich ihm im Zuge der Offerte einer verheirateten Nachbarin bietet. Diese übernimmt die sexuelle Initiation des deutlich jüngeren Mannes, was von ihr aber deutlicher ernst genommen wird als von István.

Dieser verfällt der Nachbarin immer mehr und wird in seinem fleischlichen Begehren sogar zum Mörder. Eine Gefängnisstrafe und ein Abstecher zum Militär folgen, ehe István später in einer Art Pygmalion-Moment zu einem Personenschützer in London aufsteigt.

Die Lust des Fleisches

Dort wird er zum Aufpasser des absurd reichen Oligarchenpaares Nyman, das unter umgekehrten Vorzeichen eine ähnlich hohe Altersdifferenz aufweist, wie es damals bei István und seiner Nachbarin der Fall wird. Auch hier erscheinen sie wieder, die Verlockungen des Fleisches – und wieder folgt eine Affäre, die István – so viel Klischee darf sein – zum Liebhaber seines eigentlichen Schutzobjekts macht. Diese Affäre ist es auch, die ihm den Aufstieg in die höchsten Kreise der englischen High Society ermöglicht, wo István zu einer Art Baulöwe, oder im Businesssprech zum Projektentwickler wird. Doch wie es schon Ikarus erging, so muss auch István feststellen, dass auf einen Höhenflug auch ein tiefer Absturz folgen kann.

Tatsächlich sind es hohe Gipfel des Erfolgs wie auch tiefe Täler, die István in Form von Gefängnis oder Traumata durchwandert. Gemein ist allen Stationen dieses Lebenswegs, dass er sie stoisch erträgt. Selbst der Mord am Nachbar wird bei ihm zu einer recht kühlen Angelegenheit, die er ebenso wie Traumata oder den Abstieg nach seinem Aufstieg in die englische Oberschicht durchmisst, ohne davon tiefer ergriffen zu sein, und das obschon David Szalay als Erzähler ja ganz nah dran ist an seiner Figur.

Ein moderner Mann ohne Eigenschaften

Mit István erschafft Szalay einen modernen Mann ohne Eigenschaften, der erkennbar aus Fleisch und Blut geformt ist, dessen Seele und inneren Kämpfen man aber überhaupt nicht nahekommt. In den Dialogen recht minimalistisch und zurückhaltend agierend erfüllt David Szalays Held so auch den völlig anderen, aber ebenso zutreffenden Titel Was nicht gesagt werden kann.

Hieraus zieht Szalays Roman seinen Reiz: intime Momente, Gefühle, eine enorme Spanne von Berufen, Emotionen und Bindungen und doch stehts das Gefühl, dass sie István nicht tiefer gehend berühren, dieser Mann keine tiefere Verbindung zu sich selbst hat und stattdessen dieses Leben eher als Zuschauer des eigenen Lebens denn als gestaltender Protagonist erlebt.

Fazit

Damit greift Szalay trotz der völlig anderen Erzählform ein Stück weit auch seine Männlichkeitsvermessung aus Was ein Mann ist auf und zeigt uns hier ein wenig greifbares Exemplar dieser Spezies, bei dessen Schicksal man als Zuschauer deutlich mehr mitfiebert, als es das beobachtete Objekt selbst tut.

Erkennbar tat das im Übrigen auch die Jury des renommierten britischen Booker-Prizes, die in diesem Jahr David Szalay den Preis für den Roman zusprach, nachdem er es mit Was ein Mann ist bereits im Jahr 2016 in die engere Auswahl für den Preis geschafft hatte.


  • David Szalay – Was nicht gesagt werden kann
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-54610150-9 (Claassen)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €

Claire Keegan – Reichlich spät

Wie prägen einen Menschen erlernte Verhaltensmuster? Claire Keegan untersucht es in ihrer kurzen Erzählung Reichlich spät auf eindringliche Art und Weise – und legt auf gerade einmal gut 50 Seiten Misogynie im Charakter eines Menschen und Frauenfeindlichkeit in einer ganzen Gesellschaft offen.


Achte auf deine Gedanken, denn sie formen deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie formen deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie formen deinen Charakter.

Diese Weisheit aus dem Talmud könnte man im Falle von Claire Keegans Erzählung Reichlich spät noch eine Dimension weiter fassen. Denn aus dem Charakter formt sich nicht nur ein Mensch alleine, auch formen die Charaktere die ganze Gesellschaft.

Das, was man hierzulande in Form von Gewaltexzessen gegen Wahlkämpfende und Politiker als Konsequenz einer Verrohung der politischen Sprache und des Diskurses beobachten kann, es ist auch im Text Keegans eine mitschwingende Dimension, die sich allerdings erst spät im Text offenbart.

Charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild eines durchschnittlichen Iren

Zunächst beginnt alles höchst alltäglich und wenig aufsehenerregend. Ein Mann names Cathal sitzt in einem Büro und geht seiner buchhalterischen Tätigkeit nach. Es ist kurz vor drei Uhr an diesem 29. Juli und der Feierabend steht bevor.

Vom Merrion Square im Zentrum Dublins aus nimmt er den Bus, um nach Hause in Richtung Arklow zu fahren. Alles ist eigentlich so unscheinbar wie die übliche Bürokluft aus Hemd, Anzug und Krawatte, die ihn kleidet. Doch nicht nur die Schuhe des Mannes sind ungeputzt – es gibt auch charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild dieses so durchschnittlichen Iren.

Es war ein ereignisarmer Tag gewesen, fast ein Tag wie jeder andere. Dann kam, nach der Haltestelle Jack White’s Inn, eine junge Frau den Gang entlang und setzte sich auf den freien Platz ihm gegenüber. Er saß da und atmete ihren Duft ein, bis ihm der Gedanke kam, dass es Tausende, wenn nicht Hundertausende von Frauen geben musste, die genauso dufteten.

Claire Keegan – Reichlich spät. S. 17

Von der Bewunderung bis zu Abfälligkeit und Abwertung von Frauen ist es nur ein kleiner Schritt bei Cathal, wie sich nicht nur bei dieser Busfahrt zeigt. Denn die Prägung durch einen misogynen Haushalts, in dem seiner Mutter eigentlich nur eine Rolle als Essensproduzentin und als Opfer von Spott und Erniedrigung durch die Männer der Familie zukam, sie ist eine, die bei Claire Keegan auch für einen Teil der irischen Gesellschaft gilt.

Ein Kennenlernen, die wenig Schmeichelndes offenlegt

Dies wird besonders deutlich in Cathals Gegenpart, seiner Partnerin Sabine, die Cathals Verhalten und seine Äußerungen hinterfragt.

Claire Keegan - Reichlich spät (Cover)

Über ein Kennenlernen bei einer Konferenz, folgende Dates und ein gemeinsames Zusammenziehen bis hin zum wenig romantischen, mit der Frage „Warum heiraten wir nicht?“ halbgar eingeleiteten Hochzeitsantrag, sind sich die beiden immer nähergekommen. Diese Annäherung legt aber auch die wenig schönen Seiten von Cathal offen, bei denen der Geiz noch zu den geringeren Problemen zählt.

Bis zur Pointe des Textes hin schält Claire Keegan in diesem wieder äußerst fein, mit Nuancen und Andeutungen spielenden Text immer stärker den wahren Charakter Cathals heraus. Das gelingt ihr – ganz im Sinne des Talmud-Zitats – indem sie die Worte und Taten dieses vordergründig so durchschnittlichen Büroarbeiters zeigt, die seinen Charakter formten – und nicht nur seinen, wie die Französin Sabine durch ihre Außenperspektive im Gespräch mit einer Bekannten feststellt:

„Sie hat gesagt, dass die Dinge sich jetzt vielleicht ändern, aber dass gut die Hälfte der Männer in deinem Alter einfach nur will, dass wir den Mund halten und euch geben, was ihr verlangt, dass ihr verzogen seid und verachtenswert werdet, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ihr es wollt.“

„Ist das so?“

Er wollte es leugnen, aber was sie gesagt hatte, kam einer Wahrheit, die er bis dahin kein einziges Mal in Erwägung gezogen hatte, unangenehm nahe. Ihm ging durch den Sinn, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie in diesem Moment den Mund hielte und ihm gäbe, was er verlangte.

Claire Keegan – Reichlich spät, S. 40f.

So hat dieser Text neben der beobachtenden Bestandsaufnahme von Cathals Charakter auch wieder eine gesellschaftliche Dimension, die hier angedacht und angedeutet ist.

Knappe Erzählung, großer Raum dahinter

Mit nicht einmal fünfzig, äußert großzügig gesetzten Textseiten, öffnet Reichlich spät einen großen Raum, der sich mit den Mechanismen von Zusammenleben und erlernter Misogynie (so auch der Originaltitel der im vergangenen Jahr erstmals veröffentlichten Erzählung) beschäftigt.

Obschon noch einmal knapper als die letzten beiden vom Steidlverlag veröffentlichten und ebenfalls von Hans-Christian Oeser übersetzten Erzählungen Kleine Dinge wie diese und Das dritte Licht zeigt auch dieser Text Keegans erzählerische Kunst. Nicht ohne Grund wurde die Autorin jüngst mit dem 6. Internationalen Siegfried Lenz-Preis ausgezeichnet, dessen Jury Keegan vor allem für die Knappheit und Dichte ihrer Prosa rühmte. Das Ausgesparte sei bei ihr mindestens ebenso von Bedeutung wie das Gesagt, so du Jury in ihrer Urteilsbegründung zur Preisvergabe.

Das lässt sich zweifelsohne auch über Reichlich spät sagen, auch wenn diese Entzauberung einer Beziehung und eines Mannes in Sachen Verknappung und Reduzierung noch einmal ganz neue Höhen erklimmt.


  • Claire Keegan – Reichlich spät
  • Aus dem Irischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-325-5 (Steidl)
  • 64 Seiten. Preis: 16,00 €

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf

Welcome to the Ostsee-Appartment Niendorf. You can check out any time you want – but you can never leave. So könnte der Slogan der Ferienanlage in der Nähe des Timmendorfer Strands lauten, die sich in Heinz Strunks neuem Roman Ein Sommer in Niendorf als veritables schwarzes Loch erweist. Man kann den Versuch einer Abreise aus Timmendorf unternehmen – der Anziehungskraft des Ortes wird man sich aber nicht entziehen können. So zumindest ergeht es Dr. Roth, der einen ganz besonderen Sommer an der Ostsee erlebt.


Der ganze lange und hoffentlich schöne Sommer liegt vor ihm. Ohne Arbeit, Verpflichtungen, Aufgaben; sage und schreibe keine einzige Eintragung im Terminkalender, das gab’s seit zwanzig Jahren nicht mehr. Oder fünfundzwanzig, oder dreißig. Bevor Roth im Oktober seinen neuen Posten antritt, kann er tun und lassen, was will. Auf eine Kreuzfahrt gehen, in die Berge fahren, einen Abenteuerurlaub machen, ein Apartment am Meer mieten. Er entscheidet sich für Letzteres.

Hein Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 9

So hebt Heinz Strunks neuer Roman an, mit dem er – wie schon im letzten Jahr mit Es ist immer so schön mit dir – auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Handlungsort ist das an der Ostsee gelegene Niendorf, wohin des den Juristen Dr. Roth verschlägt.

Dort, in der Ferienanlage Ostsee-Apartment quartiert er sich ein, um über drei Monate hinweg seine eigene Familiengeschichte mitsamt der Verstrickungen im Dritten Reich aufzuarbeiten und in Buchform zu bringen.

Niedergang in Niendorf

Heinz Strunk - Ein Sommer in Niendorf (Cover)

Doch was zunächst noch wohlgeordnet beginnt, nimmt schon bald die Züge eines Entwicklungsromans an – allerdings eines negativen. Denn Doktor Roth gerät in den Dunstkreis seines Vermieters Breda, der neben der Betreuung der heruntergekommenen Apartments auch als Strandkorb-Vermieter und Schnaps-Verkäufer fungiert. Sein strukturierter Tagesablauf mit Schreiben, Baden und Entspannung kippt schon bald in produktions- und inspirationslose Langeweile, bei der Alkohol zunehmend eine Rolle spielt.

Breda macht Dr. Roth mit der Kulinarik Niendorfs bekannt und aus dem Verdauungsschnaps werden schon bald literweise Wein und Schnäpse. Seine Besuche von Kaschemmen mit den sprechenden Namen Brimborium oder Spinner geraten allmählich zum Ritual, Bredas Alkoholismus greift auch auf Roth über. Immer weiter geht es mit ihm bergab. Und weiter. Und weiter.

Er weiß nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden. Auf seinem dörrfruchtartigen, papierhäutigen Gesicht hat sich eine seltsame Färbung ausgebreitet, eine kranke Blässe, die Bartstoppeln sind scharf und nagelbretthart. Seine Haare stehen in alle Richtung ab, wodurch sein Kopf aussieht wie eine Klobürste. So kann ich unmöglich vor die Tür.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 216

Dieser Sommer in Niendorf ist einer voller Kontrollverlust und sozialem Abstieg, der von Gewalt gegen Roths Ex-Frau bis hin zu einem Mord reicht. Es ist ein einziger Exzess, den Strunk hier äußerst detailliert und geradezu genussvoll schildert.

Enthemmung, Ekel und Faszination

Dabei verhält es sich mit seinem neuem Roman ähnlich wie mit dem Ballermann-Song Layla, der ebenfalls im Sommer die Schlagzeilen beherrschte. Beide Mal ist das so eigentlich gar nicht das, was man mit Niveau verbindet – und doch haben es beide Werke an die Spitze der Charts geschafft. Dort der Rummelbuden-Takt, billigste Songproduktion, ein grenzdebilder und vor allem sexistischer Text – und dort ebenfalls ein einzig langer Peinlichkeitsexzess, der aus Alkoholorgien, Stalking der Kaschemmen-Kellnerin, desinteressiertem Sex und Enthemmung bis hin zur Entleibung besteht (und dabei auch alles andere als frei von Sexismus ist, wie Katharina Herrmann in ihrer Kritik völlig zu Recht anmerkt).

Und doch findet Strunk nicht nur viele Buchkäufer*innen und Lesende. Auch die Kritik ist dem Buch mehr als gewogen und stellt ihn sogar in eine Reihe mit Thomas Manns Tod in Venedig (was Strunk mit seinen Buchzitaten rund um die Gruppe 47, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann und Co. ja selbst auch ein wenig insinuiert).

Schaut man auf die Zutaten, mit denen Heinz Strunk hier in seinem neuen Roman arbeitet (seit seinem Debüt mit Fleisch ist mein Gemüse im Jahr 2004 der inzwischen schon zwölfte), so fällt auf, dass eigentlich alles wie immer ist. Es sind die typischen und hier nur leicht variierten Strunk’schen Erzählzutaten des derben Humors, der Faszination des Ekels und Alkohols, angesiedelt in einem heruntergekommenen Milieu, hier eben in der Niendorfer Trinkergesellschaft.

Manchmal hat dieses Erzählkonzept Schlagseite und geht nicht wirklich auf. Hier aber schon und zwar in einem Maße, wie es zuletzt bei Strunks vielgepriesenem Trinkersoziogramm Der Goldene Handschuh der Fall war. Verbunden mit der hastenden Sprachmacht Strunks, die von Comic-artigen Handlungssequenzen über das genau erfasste Trinkergestammel reicht bis zu ganzen Suaden reicht, ist das Ganze sprachlich doch sehr beeindruckend.

Eingekerkert im selbst gewählten Exil, einem hässlichen Zementhaufen namens Niendorf. Niendorf, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Haffkrug, Sierksdorf, Siebzigerjahre-Schrottarchitektur, Bausünden ohne Charme und Schönheit. Er ist leer im Kopf. Er tappt im Dunkeln.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S, 67

Fazit

Geschmackvoll und niveauvoll, das ist die Sache Strunks nicht. Aber die Konsequenz des Abstiegs Roths, der Mut zur Peinlichkeit, das vielfältige sprachliche Repertoire Strunks – all das hat mich an Ein Sommer in Niendorf dann wider Erwarten doch sehr für das Buch eingenommen und lässt die Nominierung für den Deutschen Buchpreis in meinen Augen folgerichtig erscheinen, auch wenn man diese alkoholgeschwängertete Prosa mit ihrer Welt eigentlich nur degoutant finden kann. Aber man kann sich ihr schwer entziehen, dieser Faszination des Ekels.


  • Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf
  • ISBN 978-3-498-00292-3 (Rowohlt)
  • 238 Seiten. Preis: 22,00 €

Emmanuel Carrère – Yoga

Sorgt Yoga für Ausgeglichenheit, Unbeschwertheit und einen ruhigen Geist? Wenn man Emmanuel Carrères Schilderungen in Yoga nachverfolgt, dann könnte man an dieser Hypothese deutlich zweifeln. Denn in seinem ebenso radikalen wie erschütternden Bericht offenbart sich Carrère als Suchender, den Yoga nicht vor dem Fall in psychische Abgründe beschützen konnte.


Gerade einmal zwanzig Prozent unserer Gedanken sind es, die wir auf die unmittelbare Gegenwart richten. Die übrigen 80 Prozent sind Abschweifungen, die uns in die Vergangenheit und Zukunft blicken lassen, aber sicher einer Verhaftung im Hier und Jetzt entziehen. So zitiert Emmanuel Carrère den Buddhisten Chögyam Trungpa, dessen Worte Carrère während einer Meditation in den Sinn kommen und damit gleich eindrücklich den Beweis liefern, dass an der These etwas dran sein könnte.

Yoga und Terror

Emmanuel Carrère - Yoga (Cover)

Denn obwohl Carrère im Yogaretreat Vipassana zu Ruhe und Harmonie finden will, ist es mit der Ruhe im Geist und der reinen Konzentration auf das Sein in der Gegenwart nicht weit her. Schon an seinem zweiten Tag im Yogaretreat wird Carrère durch eine schlechte Nachricht aus der selbstgewählten Isolation gerissen – und schon sind sie wieder da, die 80 Prozent der dauerkreisenden Gedanken, die er eigentlich abstreifen wollte. Und nicht nur der Aufenthalt dort im Retreat endet, auch das meditative Yogabuch, das er eigentlich verfassen wollte, bricht ab. Das ist trotz der Ankündigung zu Beginn des Buchs in seiner Heftigkeit ein Schock. Denn es kommt noch schlimmer.

Nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, der sich während Carrères Aufenthalt in Paris ereignet hat, kommt auch ein Freund des Schriftstellers ums Leben. Eine manische Phase des Schriftstellers endet mit einem viermonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, Elektroschocktherapie inklusive. Und schließlich landet Carrère auf der griechischen Insel Leros, wo er mit dem Elend der europäischen Flüchtlingspolitik konfrontiert wird.

Ein Buch über Yoga und kein Buch über Yoga

Yoga ist ein Buch über Yoga und zugleich überhaupt kein Buch über Yoga. Wer würde schon einen intimen Bericht aus dem Inneren einer psychiatrischen Anstalt oder die Schilderung von Flüchtlingsschicksalen in einem Buch namens Yoga erwarten? Trauer, Tod und Sehnsucht sind starke Elemente in diesem Buch. Elemente, die man gemeinhin wenig mit Yoga assoziiert, steht es doch eigentlich zumindest im breiten Bewusstsein für Ausgeglichenheit und Harmonie.

Und doch ist die verbindende Klammer auch in den scheinbar völlig disparaten Momenten des Buchs, die nur durch Carréres radikale Subjektivität zusammengehalten werden, Yoga. Beziehungsweise die Philosophie dessen, etwa wenn er immer wieder vritti ausmacht, die Ströme des Bewusstseins, die sein Leben beeinflussen und auf ihn einwirken. Oder wenn er am Strand von Leros mit jungen Geflüchteten Tai-Chi praktiziert und nach Erfüllung und Sinn sucht. Stets findet er Rückhalt in der Theorie des Yoga, auch wenn hier Dinge wie Trainingsmatten oder Entspannungsgong kaum vorkommen. Zum Glück, wie ich finde.

Denn auch, wenn man mit Yoga nichts anfangen kann, einem auch der Gedanke von Spiritualität denkbar fern liegt, so gelingt es Carrère doch, seine Faszination, die ihm Yoga und dessen Theorie verheißt, glaubhaft zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Buch auch das Dokument – oder besser die Meditation – eines Kreisens um die Frage nach Ruhe und Erfüllung im eigenen Leben.

Eindringliche Autofiktion

Carrère, der schon immer ein Suchender war, etwa nach den Wurzeln seines Glaubens in Das Reich Gottes, zeigt hier mit den Mitteln der Autofiktion, was diese in ihren besten Momenten ermöglicht. Einblicke in das Seelenleben und ein Gefühl von Ehrlichkeit, wenn er seine Niederlagen und sein stetes Ringen um Ausgeglichenheit schildert.

Außer George Langelaans Kurzgeschichte hatte ich seit Monaten nichts mehr gelesen, doch eines Tages öffnete ich im Café Puschkin noch einmal den Pappordner, auf den ich in Großbuchstaben Ausatmen geschrieben hatte, und begann, die etwa 200 000 Zeichen Notizen über Yoga, Tai-Chi, Meditation und all diese Marotten, die mich mein halbes Leben lang beschäftigt haben, nicht wirklich zu lesen, aber zu überfliegen – und mit welchem Ergebnis? Die Antwort könnte einen zur Verzweiflung bringen. Dreißig Jahre, um innere Ruhe und strategische Tiefe zu finden, dreißig Jahre, um sich das Leben als Ausweg aus dem Chaos und als geduldige Arbeit an einem Zustand der Gelassenheit und des Staunens vorzustellen, dreißig Jahre, um trotz aller Abstürze und Depressionen daran zu glauben, um am Ende, wenn das Alter kommt und obwohl man ein Haus und eine Familie und alles hatte, um weise und glücklich zu sein, findet man sich in Embryohaltung allein in einem Bett für kaum eine Person im verlassenen Haus einer einsamen, verlorenen Frau wieder, die ebenfalls auf die Südhalbkugel verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als Lebensbilanz macht das nicht viel her. Und ist auch keine besonders gute Werbung für Yoga. Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun, das Problem bin ich. Yoga tendiert zur Einheit, aber ich bin zu gespalten.

Emmanuel Carrère – Yoga, S. 302

Fazit

Und auch wenn man anführen möchte, dass das Buch doch eine reichlich wilde und ungelenke Mischung sei, die Yoga-Betrachtungen von psychiatrischen Selbstbeobachtungen abgelöst werden, Fragen des Schreibens mit denen vom Zehn-Finger-Tippsystem, Lyrik oder Interpretationen von Chopins Polonaise héroique zusammengeworfen werden, so hat dieses Buch doch eine Klammer. Und diese Klammer ist Emmanuel Carrères eigene Präsenz, seine Gedanken, seine Faszination für die Welt des Yoga und seine autofiktionale Radikalität im Denken und Schreiben, die hier eine ungemein eindringlich Wirkung entfaltet. Yoga überrascht immer wieder und berührt durch die Offenheit und das stete Streben nach Ruhe und ja – Glück. Und insofern ist dieses Buch selbst auch ein wirklicher Glücksfall und das beste Werk im Schaffen des französischen Schriftstellers bislang und der Beweis, wie Autofiktion in ihren besten Momenten funktionieren kann.


  • Emmanuel Carrère – Yoga
  • Aus dem Französischen von Claudia Hamm
  • ISBN 978-3-7518-0058-7 (Matthes & Seitz)
  • 341 Seiten. Preis: 25,00 €

Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein

Fahrgeschäfte auf Coney Island, der Suizid von Mark Rothko, ein Seemann im Bann einer Femme fatale, die Geschichte des legendären Chelsea-Hotels, Brigadisten, die ein fremdes Kind aufziehen, eine Liebesgeschichte mit Spionagecharakter. Was sich wie eine Ideensammlung für Kurzgeschichten oder Teile eines Sachbuchs anhört, sind in Wahrheit nur ein paar wenige Puzzleteilchen, aus denen Eduardo Lago sein Gesamtkunstwerk namens Brooklyn soll mein Name sein zusammensetzt. Ein wild assoziative Lektüreerfahrung, die durch den steten New York-Bezug zusammengehalten wird.


Die letzte Ruhestätte! Soll ich dir die letzte Ruhestätte zeigen, Ness?

Ich verstand nicht, Ohne meine Reaktion abzuwarten, hast du eine Leiter geholt und mich gedrängt:

Geh rauf!

Du hast darauf bestanden, dass ich die Türen zur letzten Ruhestätte öffnete, und in dem Augenblick, da ich es tat, kamen sie mir vor wie zwei Grabtafeln.

Schau genau hin! Siehst du, was da ist? Vor ein paar Monaten, als ich gerade dabei war, ein Manuskript herauszusuchen, fühlte ich mich plötzlich wie ein Totengräber, der dabei ist, ein Grab zu öffnen, um die Überreste umzubetten. Genau da habe ich sie so getauft. Schau mal rein, schau rein, dann wirst du es selbst sehen!

Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein, S. 23 f.

Die letzte Ruhestätte, so nennt Gal Ackerman den Manuskriptfriedhof, in dem er all die Schreibentwürfe aufbewahrt, die ihm durch Freunde und Fremde in die Hände geraten sind. Dort oben im Schrank verstauben und verblassen diese Buchfragmente – und niemand wird sie je lesen.

Das unvollendete Romanprojekt Brooklyn

Dieses Schicksal könnte auch Gal Ackerman selbst beschieden sein, der zeitlebens an verschiedenen Entwürfen und literarischen Skizzen arbeitete, diese aber doch nie zu einem Roman fügen konnte. Und nun ist er tot und mit ihm die Chance, sein Werk namens Brooklyn jemals zu lesen. Doch damit will sich Ackermans Bekannter Néstor Oliver Chapman nicht begnügen.

Er beschließt, die Papiere seines Freundes zu sichten, um das Brooklyn-Dokument doch noch zu einem Ende zu bringen. Immer tiefer gräbt er sich in die Schriften und damit die Seele von Gal Ackerman ein – und stößt auf die Spuren einer großen Liebe zu einer Frau. Und einer großen Liebe zu New York und insbesondere Brooklyn, die Ackerman vor allem in Form der Bar Oakland immer Heimstatt war.

Am Abschluss seiner Geschichten stand stets ein feierlicher Sinnspruch. Hier ist mein Lieblingsspruch: „Nun, jeder Bezirk hat seine eigene Welt, und Brooklyn ist ihr Universum.“

Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein, S. 230 f.

So formulierte es Ackermans Großvater David Ackerman, der in einer Kolumne für den Brooklyn Eagle die Faszination und Besonderheiten Brooklyns erfasste und beschrieb. Und auch Eduardo Lago versucht das in seinem Buch – schafft dabei aber ein komplexes und bisweilen kompliziertes Universum aus Figuren, Orten und Schicksalen, die allesamt mit Gal Ackerman und Néstor Chapman verwoben sind.

Ein Buch wie ein Manuskripteberg

Eduardo Lago - Brooklyn soll mein Name sein (Cover)

So beginnt alles mit dem Tod von Gal Ackerman und dessen Begräbnis am Fenners Point, einem fiktiven Friedhof an der Ostküste. Von dort aus steigt Ackerman tief hinab in die Manuskripte Gals, richtet sich in seiner Ansprache an den toten Freund, um dann zu Ackerman als Erzähler zu wechseln. So erzählt uns Lago dann von der besonderen Liebe zu Nadja Orlov, die Ackerman zunächst beschattete und beschatten ließ, ehe sich ihre Liebesgeschichte entspann. Seine Herkunft, die in den spanischen Befreiungskampf zurückführte, das Schicksal eines alten Seemanns, der schon mehr oder minder zum Inventar der Bar Oakland zählt, all das ist nur der Anfang.

So gibt es Hefte, in denen Kriminalfälle erzählt werden, literarische Entwürfe zum Suizid von Mark Rothko, Erinnerungen an die Kolumnen und Ausflüge mit Gals Großvater David durch das Universum von Brooklyn. Man fühlt sich so manches Mal, als wühle man sich persönlich durch Gal Ackermans Manuskript-Ruhestätte und verliere sich ein einem Irrgarten aus Ebenen, Bezügen und Geschichten.

Die Entscheidung, bei der wörtlichen Rede die Anführungszeichen wegzulassen, immer wieder mithilfe von Briefen und Tagebucheinträgen den Erzählfluss zu brechen und und sowohl in Erzählformen als auch in Handlungssträngen wild hin und herzuhüpfen macht die Sache dabei nicht einfacher.

Kurzum: es braucht viel Durchhaltevermögen und leserische Orientierung, um hier nicht Schiffbruch zu erleiden. Auch ich stand so manches Mal knapp vor einem Lektüreabbruch, wenn mir die Übersicht über den aktuellen Erzähler oder den Kontext der aktuellen Episode so gar nicht gelingen wollte. Doch am Ende rundet sich tatsächlich Vieles. Ein Zeitstrang neben einem Dramatis Personae erleichtert die Orientierung und die Übersicht über die Handlung (was mir bei der Einordnung des soeben Gelesenen dann doch noch einmal sehr hilfreich war).

Fazit

Brooklyn soll mein Name sein ist ein mehr als verschachteltes und herausforderndes Leseerlebnis, das dem Lesenden einiges abverlangt. Am Ende wird man aber mit einer komplexen Geschichte belohnt, die tatsächlich eine erneute Lektüre reizvoll macht, wie es auch die Pressestimme der Le Monde auf dem Buchrücken preist. Besonders für anspruchsvolle Lektüreliebhaber*innen mit Schwäche für Metaebenen und New York ist Eduardo Lagos Buch ein trickreiches Leseerlebnis, das am Ende für die Mühen tatsächlich doch noch belohnt und dessen Erzähllabyrinth doch einem Plan folgte, wie man in der Rückschau feststellen wird.

Schön, dass sich der Kröner-Verlag 16 Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen dran gemacht hat, in der Übersetzung von Guillermo Aparicio und unter Mitwirkung von Carlos Singer dieses Buch uns deutschen Leser*innen auch in Lagos verwinkeltes Brooklyn zu locken!


  • Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein
  • Aus dem Spanischen von Guillermo Aparicio. In Zusammenarbeit von Carlos Singer
  • ISBN 978-3-520-62401-7 (Kröner)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €