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Louisa Luna – Tote ohne Namen

Eine neue Ermittlerin hat den deutschen Buchmarkt betreten – und das mit einem gehörigen Knall. Alice Vega ist ihr Name. In Tote ohne Namen verschlägt es sie nach San Diego. Dort wird sie angeheuert – die Morde an zwei Minderjährigen aufzuklären. Und entdeckt bei ihren Recherchen ein gefährliches Geflecht von Menschenhändlern, staatlichen Behörden und mexikanischen Kartellen.


Immer wenn man in einem Fall besonderer Expertise bedarf, ist Alice Vega das Mittel der Wahl. Denn die Ermittlerin hat ein Auge für Details und schreckt auch vor robustem körperlichen Einsatz zurück. Zusammen mit ihrem Kollegen Max Caplan, einem ehemaligen Polizisten, begibt sie sich nach San Diego. Dort soll sie im Auftrag der Polizei als externe Beraterin einen besonderen Fall bearbeiten. Zwei minderjährige Mädchen wurden tot und misshandelt aufgefunden. Ihre Identität ist unklar, allerdings fällt der gewieften Rechtsmedizinerin ein besonderes Detail ins Auge. Die beiden Mädchen haben ein Intrauterinpessar mit ähnlicher Chargennummer in ihrem Körper. Aufgrund der Nummerierung dieser Pessare liegt der Verdacht nach, dass es irgendwo da draußen noch weitere Mädchen gibt, die als Prostituierte missbraucht werden. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere, und so kommen Vega und Caplan ins Spiel.

Und sie liefern tatsächlich schon bald erste Ergebnisse. Sie stoßen auf die Spur eines Drogendealers und kommen langsam, aber sicher einer Bande von Menschenhändlern auf die Spur. Allerdings mischt sich auch die DEA in Form zweier Agenten in ihre Ermittlungen ein. Und diese geben den beiden recht schnell zu verstehen, ihre Ermittlungen einzustellen. Doch obrigkeitshörig ist keine hervorstechende Charaktereigenschaft von Vega. Und so folgt sie unbeirrt den Spuren, die sie noch in große Bedrängnis bringen werden.

Auf den Spuren von Menschenhändlern

Louisa Lunas erster auf Deutsch vorliegender Roman ist ein Buch, das durch Rasanz, eine sympathische Ermittlerin und eine gnadenlos gute Taktung besticht. Die Handlung des 443 Seiten starken Romans erstreckt sich nur über wenige Tage, die Haupthandlung findet an gerade einmal zwei Tagen statt. Das verleiht dem Buch einen Drive, der nur so durch die Seiten fliegen lässt. Je weiter sich Vega durch San Diego ermittelt, umso mehr Feinde macht sie sich und umso größer wird das kriminelle Geflecht, das sie aufdeckt.

Louisa Luna - Tote ohne Namen (Cover)

Tote ohne Namen ist ein Buch auf der Höhe der Zeit. Sie erzählt vom unbändigen Leid, das unter dem Deckmantel von „Law and Order“ im Grenzland zwischen Mexiko und den USA stattfindet. Kinder, von denen niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Ermittlungsbehörden, die sich selber die Finger schmutzig machen. Kartelle, die auch durch Mauerbau nicht aufgehalten werden. Und einer Politik, die eher auf markige Gesten denn auf konkrete Lösungsansätze setzt. All das beschreibt Louisa Luna in Tote ohne Namen genau

Dabei fungiert Alice Vega auch ein Stück weit als Katalysator für das eigene Unrechtsbewusstsein und die eigene Hilflosigkeit. Denn obschon wir von dem Unrecht wissen, von Kindern, die in Käfigen gehalten werden, von Familien, die getrennt werden und von Kriminellen, die die Notlage der mexikanischen Bevölkerung für ihre Zwecke ausnutzen, passiert ja wenig. Hier kommt Vega ins Spiel, die mit unorthodoxen Mitteln selbst aktiv wird und dem Unrecht so entgegentritt. So fungiert diese Privatermittlerin nicht nur als Spurensucherin, sondern auch ein Stück weit als Katharsis.

Der gesellschaftliche Anspruch, die erzählerische Taktung, der klug ausbalancierte Plot machen aus Tote ohne Namen ein wirkliches Leseerlebnis und einen unbedingten Krimitipp.

Eine fragwürdige Veröffentlichungspolitik

Fragwürdig allerdings einmal mehr die Veröffentlichungspolitik des Suhrkampverlags und von Herausgeber Thomas Wörtche. Denn bei Tote ohne Namen handelt es sich mitnichten um den Beginn der Reihe um Alice Vega. „The Janes“, so der Originaltitel (übersetzt von Andrea O’Brien) ist der zweite Band der Reihe. 2018 erschien mit „Two Girls Down“ der erste Band der Reihe, in dem sich Alice Vega und Max Caplan zum ersten Mal begegnen. Warum man diesen ersten Band nicht einfach zuerst veröffentlicht hat, will sich mir nicht wirklich erschließen. Schließlich nimmt Tote ohne Namen an zahlreichen Stellen Bezug auf die Geschichte des ersten Bandes, die im zweiten Band der Reihe immer wieder aufgegriffen wird.

Hier hätte man sich in meinen Augen wirklich einen Gefallen getan, hätte man schon allein der erzählerischen Logik wegen die Reihe chronologisch beginnen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass uns der erste Band auch noch zeitnah zugänglich gemacht wird, schließlich ist der zweite Band derart verheißungsvoll, dass auch der erste Band nicht enttäuschen sollte (was auch die amerikanischen Kritiken nahelegen).

Insofern bleibe bei mir neben der unbedingten Empfehlung für den Roman Louisa Lunas der Wunsch, das man eine derartig unlogische und unchronologische Reihenentwicklung künftig sein lässt und Serien wieder den Raum gibt, sich von Beginn an zu entwickeln. Schließlich rühmt sich der veröffentlichende Verlag, nicht Bücher sondern Autor*innen verlegen zu wollen. Ich als Leser würde es sehr honorieren!


  • Louisa Luna – Tote ohne Namen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-518-47135-7 (Suhrkamp)
  • 444 Seiten. Preis: 15,95 €
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Peter Richter – August

Neues von Peter Richter. Nach seinen beiden in Ostdeutschland spielenden Büchern (zuletzt Dresden revisited, 2016) wechselt er nun den Schauplatz. Der ehemalige New York-Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung erzählt nun von zwei Paaren, die ihren Sommer dort auf Long Island verbringen, genauer gesagt in den Hamptons. Im luxuriösen Milieu voller Villen mit hauseigenem Gärtner, Swimmingpools und Gartenpartys wollen die beiden Paare mit deutsche Wurzeln einen sorglosen Sommer verbringen. Und merken dabei doch, dass selbst im vermeintlich den Sorgen enthobenen Idyll der Hamptons nicht alles perfekt ist.


Geladen zum sorglosen Sommer hat Richard (die Betonung liegt auf Rich), der mit seiner Frau Stefanie, einer ehemaligen Moderatorin im Musikfernsehen, aus Berlin in die Hamptons gezogen ist. Reichgeworden mit Immobiliengeschäften hat er sich einen Bungalow in den Hamptons gekauft, in dem er den Impressario gibt. Zu laut über das Grundstück tönender Jazzmusik pflegt man zusammen mit dem befreundeten Ehepaar Alec und Vera das süße Nichtstun. Das Apartment der beiden in New York ist vermietet, die Kinder spielen gemeinsam und so kann das gemeinsame sorglose Sommern beginnen.

Denn Vera hatte bis dahin weder das Wort noch die Sache gekannt: to summer. Allein die Idee, den kompletten Sommer da draußen zu verbringen, kam ihr so verlockend wie abszön vor – auch noch in den mythischen Hamptons, wo nach allem, was sie darüber wusste, siebzigjährige Bienenköniginnen inmitten unverstellbarer Reichtümern auf den Dünen hockten.

Peter Richter -August, S.14

Vera versucht, von ihrem Job in der Klinik abzuschalten, Alec seine ausufernden Materialsammlungen zu einem Buchprojekt zu bündeln (von der Hitlerjugend zu Facebook, von der Waldorfschule zum Waldorf Astoria, so die ungefähre Synopse seine Frau). Die Routine aus Rammdösigkeit aus Swimmingpool und dem Bad im nahegelegenen Ozean wird allenfalls von der Fahrt zum Indianerreservat (besonders günstige Zigarettenstangen!) oder zum Discounter (zwei Flaschen Champagner zum Preis von einer!) unterbrochen.

Wollen und Nicht-Ganz-Können

Peter Richter - August (Cover)

Ein schönes Bild ist es, das Peter Richter hier für den Status von Richard und Co und deren Wunsch nach einer Hochglanzfassade zeigt. Während Vera und Alec ihr Appartment via AirBnB untervermietet haben, um sich den Luxus der Auszeit zu gönnen, darf diese Auszeit für Richard und Stefanie nur den August über dauern. Danach ist der Bungalow wieder vermietet. Überhaupt – was wie purer Luxus klingt, ist dann doch nicht DER Luxus, der in den Hamptons angestrebt wird. Statt einem feudalen Anwesen reicht es bei den beiden doch nur zum Bungalow plus beengter Gästehütte. Zudem liegt dieser auf der falschen Seite des Highways. Aber immerhin, für einen Parkberechtigungsschein am Strand reicht es.

Und wenn man schon nicht die erste Geige im Konzert der Upperclass spielt, so muss wenigstens ein Lifestyleguru für die Paare drin sein. Was andere Hollywoodstars vormachen, das ahmen Richard und Stefanie natürlich begeistert nach. Und so besucht diese regelmäßig ein Guru mit wallendem Haar, aufgrund seiner österreichischen Provenienz Kaunsler getauft. Er animiert besonders Stefanie zu Yoga, Globuliexzessen und Esoterik. Und auch das heimischen Zierpflanzen sind vor den halluzinogenen Versuchen es österreichischen Schamanen nicht sicher.

Eine Satire auf das Streben nach Aufstieg

Die Figuren und die Setzung des Romans zeigen schon, in welche Richtung Peter Richter in seinem neuen Buch geht. August ist eine Satire auf das Streben nach sozialem Aufstieg und den Wunsch, selbst in der Upperclass mitzumischen. Er beschreibt ein vermeintliches Paradies, das doch nach und nach seine Risse offenbart. Je länger der Sommer dauert, desto mehr Störfaktoren tauchen innerhalb und außerhalb der Beziehungsgefüge auf.

Es sind schöne Bilder, die Richter neben so manchem Klischee hier aufbietet. Ein Beispiel für die Koexistenz von beidem wäre etwa die übers Grundstück tönende Musik und deren Begleitumstände. Ist es zunächst wilder Jazz (den die Sommerfrischler eher aus Distinktionsgewinn denn Genuss konsumieren), der zur Untermalung der mondänen Lebenswelt dient, wird dieser später im Buch von Dolly Parton und ihrem Schlager Jolene abgelöst, passend zur Affäre mit dem Schweizer Kindermädchen. Ist das vielleicht auch etwas zu plakativ und erwartbar, sind es weitere Bilder und Motive, die noch stärker, da unaufdringlicher sind.

So versammeln sich auf dem Grund des Pools immer mehr Gegenstände, die ihren Weg im Lauf des Sommers dort hineinfinden. Der Gärtner Ramon ist nicht auffindbar, und so bleibt alles eben einfach alles im Schwimmbecken zurück. Wer will sich schon im Sommer mit Aufräumen beschäftigen? Zunächst fällt ein Buch stellvertretend für alle Ambitionen in den Pool. Später ist es ein Handy, dann – nein, es soll hier nicht verraten werden. Die Lektüre bis zum Schluss lohnt und dieses Bild ist gelungen und vielgestaltig interpretierbar.

Vielgestaltiger Humor

Überhaupt – vielgestaltig ist auch der Humor, den Peter Richter in August aufbietet. Dieser reicht von erwartbar und vielleicht etwas flach („Ihr Trainer hieß auf Englisch so, wie sie sich auf Deutsch fühlten, seit sie den Raum betreten hatten: Matt. S. 139 ) über intellektuell-hintersinnig (etwa die ganzen ergebnislosen Gedankenschleifen und Monologe Alecs) bis zu dem distinguierten und fast an Thomas Mann erinnernden Humor, der an anderen Stellen aufblitzt:

„Champagner“, rief Richard, als sie alle wieder aufgetaucht waren. „Ein Bad in Champagner, oder etwa nicht?“. Nicht nur der Sand sei weißer, auch die Gischt moussiere feiner hier draußen. „Alles westlich von hier ist bestenfalls Prosecco dagegen: Jones Beach, sogar Fire Island.“ Und was Coney Island oder Rockaway Beach waren, wo Alec und die Seinen normalerweise schwimmen gingen, was also diejenigen Strände dagegen waren, die man mit der Subway erreichen konnte, das wollte Richard lieber gar nicht in den Mund nehmen.

Peter Richter – August, S. 36

Für meinen Geschmack hätte Richter diesem feineren Humor noch etwas mehr Platz einräumen dürfen, gegenüber den oftmals schon reichlich karikaturesk wirkenden Beschreibungen seiner Protagonist*innen (besonders überzeichnet in meinen Augen die ökologische Übermutter Stefanie, die dem Nachwuchs selbst gemachte Sonnencreme der Vermeidung von Chemikalien wegen auf die Haut schmiert, Globuli verfüttert, sämtliche Kellner am Tisch peinlichen Verhören über die Öko-Bilanz des Essens unterzieht, etc.). Auch bleibt Richter in seinen Sottisen etwas erwartbar (das Geiern der am Strand zurückgelassenen Mütter nach dem athletischen Lifeguard, die amerikanische Prüderie egal ob Kleinkind ohne Bikini oder Champagnerkonsum, die Esoterik-Begeisterung in Teilen der Upperclass, die Begeisterung der Eliten für das vermeintlich Einfache und Echte, und so weiter).

Fazit

Insgesamt aber gelingt Peter Richter eine ansprechende Satire auf die (amerikanische) Upperclass und den unbedingten Wunsch, dazugehören zu wollen. Eine Satire, die klarmacht, dass auch hinter den vermeintlich paradiesischen Zuständen immer ein Abgrund lauert und die bereit ist, die Abgründe auch zu beschreiben und zu bebildern. August ist ein Buch, das sommerliche Langeweile und amerikanischen lifestyle beschreibt und persifliert und dabei auch ohne Politik und große Gegenwartsanalysen auskommt, wie es bei manch einem anderen amerikanischen Kollegen wahrscheinlich der Fall wäre. Manchmal eine Spur zu überzogen und etwas erwartbar, aber von hoher Unterhaltsamkeit und mit viel funkelndem (oder moussierendem?) Humor versehen.


  • Peter Richter – August
  • ISBN 978-3-446-26763-3 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Jesmyn Ward – Singt ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Fortschreibung von Südstaatenliteratur mit dem Zeug zum Klassiker. Die liefert Jesmyn Ward mit ihrem Roman Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Gleich in zweifacher Hinsicht wagt sie ein Blick an die Ränder der USA.


Zum Einen ist der Roman im Süden der USA angesiedelt. Da, wo sich der Mississippi im Süden in den Golf von Mexiko ergießt, dort spielt der Roman im fiktiven Ort Bois Sauvage. Im Hinterland fernab der Zivilisation hat sich die Familie von Jojo niedergelassen, die dort eher haust denn wohnt. Eine Hütte, ein paar Tiere im Pferch und der Wald gleich hinter dem Haus. Das ist das Zuhause des kleine Jojo, seiner Schwester Michaela, seiner Eltern und Großeltern, die dort hausen. In der nahen Umgebung gibt es wenig, eine Kneipe, in der Jojos Mutter Leonie bedient, viel mehr ist da nicht. Jede Besorgung bedeutet eine Fahrt in die nächste Stadt. Nachbarn oder ein unterstützendes Umfeld sind Mangelware.

Aber nicht nur geographisch erzählt Jesmyn Wards Buch vom Rand. Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt ist auch eine Vermessung des sozialen Rands der amerikanischen Gesellschaft. Denn Jojos Familie ist schwarz. Suchte man nach einer Anwendemöglichkeit aller derzeit diskutierten Ausgrenzungstermini (Rassismus, Klassismus, sozialer Determinismus, etc.), hätte man in der Familie von Jojo das perfekte Beispiel. Sie sind eine schwarze Variante des white trash, Geld ist Mangelware. Jojos Mutter Leonie ist drogenabhängig, sein Vater sitzt im Gefängnis ein. Die Mutter liegt aufgrund eines Krebsleidens im Sterben und versucht sich mit autochthonen Kräutern und Pflanzen zu therapieren. Jojos Großvater versucht die Familie zusammenzuhalten, hat allerdings selber auch dunkle Geheimnisse, die ihn nicht ruhen lassen.

Am Rande der Gesellschaft

Jesmyn Ward - Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (Cover)

Da seine Mutter aufgrund ihrer Drogeneskapaden ihren mütterlichen Pflichten kaum nachkommen kann, ist es an Jojo, viel zu früh Verantwortung zu übernehmen. Gelungen schafft es Jesmyn Ward, sich seine Perspektive eines kleinen Kindes anzueignen, aber genauso überzeugend auch aus Leonies Perspektive zu erzählen. Das Handeln, die Sorgen und Motivationen dieser beiden unterschiedlichen Figuren werden im Lauf des Buchs nachvollziehbar und lassen realistische Figuren entstehen. Doch Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt beschränkt sich nicht auf Sozialrealismus. Ihr Buch nimmt auch das Übersinnliche, das nicht wirklich Greifbare in den Blick.

So erscheinen Leonie wie den meisten anderen weiblichen Familienmitgliedern immer wieder Tote, besonders wenn sie high ist. Ihr verstorbener Bruder bevölkert Leonies Lebenswelt genauso, wie es andere Tote mit weiteren Familienmitgliedern tun. Immer wieder verschränken sich diese Welten und fließen ineinander über. Auch schafft es Jesmyn Ward, eine der ergreifendsten Sterbeszenen seit langem zu kreieren. Eine Sterbeszene, die das Jenseitige und Diesseitige so gelungen verzahnt, wie ich das seit di Lampedusas Der Leopard nicht mehr lesen durfte.

Aber nicht nur deswegen hat für mich Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt das Zeug zum Klassiker. Eine spannende Handlung, plastische und nachvollziehbar gezeichnete Figuren und ein genauer Blick auf die sozialen Abgründe und den immer noch existenten Rassismus im Süden der USA machen dieses Buch so besonders. Ein präziser Blick auf die Abgehängten, ein Buch in der Tradition von William Faulkner und Co.. Im besten Sinne ein zeitloses Leseerlebnis, hiermit sei es empfohlen!


  • Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
  • Aus dem Englischen von Ulrike Becker
  • ISBN: 978-3-95614-224-6 (Kunstmann)
  • 304 Seiten. Preis: 22,00 €
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Taylor Brown – Maybelline

Ins Hinterland von North Carolina entführt Taylor Brown in seinem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman Maybelline. Angesiedelt in den 50er Jahren erzählt er von Alkoholschmuggel, Kriegstraumata und von der Liebe. Ein gelungenes Buch, das trotz seines vermeintlichen historischem Kontextes erstaunlich viel über das heutige Amerika erzählt.


Im Kern dreht sich dabei alles um den Kriegsheimkehrer Rory Docherty. Dieser hat im Koreakrieg gedient und dort ein Bein verloren. Immer wieder überfallen ihn Flashbacks und Erinnerungen an das grausame Gemetzel dort, bei dem Millionen von Menschen ihr Leben verloren.

Gehandicapt verdingt sich Rory nun als Alkoholschmuggler. Für den mächtigen Schwarzbrenner Eustace Uptree liefert er in seinem hochgetunten Coupé namens Maybelline illegal Alkohol aus. Unter den wachsamen Augen des korrupten Sheriffs und den Steuerfahndern befährt Rory sämtliche Schleichwege des Hinterlandes, um die ländliche Bevölkerung mit Hochprozentigem zu versorgen.

Ganz anders da Rorys Großmutter, die die zweite Hauptfigur in Browns Roman ist. Sie wird von der lokalen Bevölkerung geschnitten, da sie sich früher prostituieren musste. Ihr Wissen um Heilkräuter und Verhütung nehmen die Hinterwäldler allerdings dann doch gerne in Kauf. Mit Furcht und Sorge beobachtet sie Rorys Rückkehr, der sich aufgrund seiner kompromisslosen Art schon binnen Kurzem diverse Feinde macht hat. Immer enger legt sich die Schlinge um Rorys Hals, während dieser in seinem Auto durch das Hinterland North Carolinas braust.

Starke und glaubwürdige Figuren

Mit Maybelline Docherty hat Taylor Brown eine starke Frauenfigur erschaffen. Dass sie dem Buch in Deutschen den Titel leiht, ist mehr als angemessen. Ihre Kämpfe um Unabhängigkeit und weibliche Selbstbestimmung, ihr Wissen um die Heilkraft der Natur, ihr Hintersinn und ihre Souveränität machen sie zu einer Figur, die man nicht so schnell wieder vergisst. Aber auch ihr Sohn steht in seiner ganzen Zerrissenheit seiner Großmutter nur um wenig nach.

Generell fällt bei Maybelline auf, welches Geschick Taylor Brown bei der Kreation seiner Figuren an den Tag legt. Schwarz-weiße Figurenzeichnungen sind das Ding des jungen Amerikaners nicht. Selten sind die Figuren einfach nur gut oder schlecht, vielmehr sind sie die Figuren in Maybelline erfreulich glaubhaft geraten, sind selten einfach nur gut oder schlecht.

Taylor Brown - Maybelline (Cover)

Neben der Komplexität der Figuren überzeugt aber auch die Themenfülle, die trotz des vermeintlich Jahrzehnte zurückliegenden Handlung erstaunlich aktuell ist. So spielen religiöser Eifer und Bigotterie eine Rolle, die Frage von Machtmissbrauch und Korruption wird verhandelt, die Probleme einer falschen Drogenpolitik sind Thema genauso wie nicht behandelte Kriegstraumata und gesellschaftliche Spaltung.

Ohne die Balance des Plots aus den Augen zu verlieren widmet sich Brown diesen vielen Themen. Er erzählt in einem klaren Ton, schafft Bilder und Sequenzen, die sich nachhaltig im Kopf verankern, etwa wenn er die Kriegsgräuel in Nordkorea beschreibt oder von Autorennen auf den engene Straßen des Hinterlands in den Appalachen erzählt. Auch die Naturbeschreibungen des von den Dochertys bewohnten Bergs, seiner Flora und Fauna wissen zu überzeugen. Wie das Leben dort die Menschen beeinflusst und den Takt des Lebens vorgibt, das schildert Brown nachvollziehbar und enorm eindrücklich (übersetzt von Susanna Mende)

Fazit

Maybelline besitzt gesellschaftliche Relevanz, richtet seinen Blick auf das Hinterland Amerikas und die vergessenen Probleme und Menschen dort. Ein Buch, das viele Klänge und Bilder wachruft. Eines, das seine Figuren ernst nimmt, spannend und hochtourig ist und das ich mit gutem Gewissen eine weitere Perle aus dem Polar-Verlag nennen kann. Gerne noch mehr davon!


  • Taylor Brown – Maybelline
  • Aus dem Englischen von Susanna Mende
  • Mit einem Nachwort von Kirsten Reimer
  • ISBN 978-3-948392-18-5 (Polar-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 14,00 €
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Benedict Wells – Hard Land

Einer der auffallendsten Trends in der Literatur der letzten Jahre ist der des Booms der Coming-of-Age-Erzählungen.

„Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“

Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.

Benedict Wells – Hard Land, S. 306

So lässt Benedict Wells in seinem Roman einen Lehrer dozieren, der den Schülern dieses Genre nahebringen will. Und schaut man auf die Bucherscheinungen der letzten Zeit bis hin zu den aktuellen Neuerscheinungen, dann muss man konstatieren: Coming of Age boomt wie selten zuvor. Egal ob Sebastian Stuertz, Ronya Othmann, Verena Guentner, Benjamin Myers, Matthias Brandt, Johann Scheerer oder ebenfalls in diesem Monat Callan Wink. Sie alle haben in jüngster Zeit Romane vorgelegt, die um ihre jugendlichen Protagonisten kreisen, deren Reifung in den Büchern nacherzählt wird, das Ganze angesiedelt meist während der Sommermonate. Und auch Benedict Wells fügt diesem langsam immer unübersichtlicher werdenden Berg an Büchern nun ein weiteres Werk hinzu. Es trägt den Namen Hard Land und spielt, wie auch schon Wells dritter Roman Fast genial, in den USA.

Willkommen in Grady

Aber im Gegensatz zu diesem Roadnovel siedelt Wells diesmal seine Erzählung in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Grady an. Dort lebt Wells Held und Ich-Erzähler Sam mit seinen Eltern. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter betreibt eine Buchhandlung in der lokalen Mall und ist schwer krank. Sams ältere Schwester Jean hat der Familie schon lang den Rücken gekehrt, um als Drehbuchautorin in Los Angeles zu leben.

Wir schreiben das Jahr 1985. VHS-Kassetten boomen, das Internet ist noch weit weg, die Simple Minds liefern mit Don’t you einen der größten Hits des Jahrzehnts ab und Marty McFly wird mit Zurück in die Zukunft zum Vorbild einer ganzen Generation. In diesem Jahr passiert das, was Sam schon im ersten Satz des Buchs beschreibt.

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells – Hard Land, S. 11

Damit ist die Rahmenhandlung des Buchs umrissen. Während Sam auf seinen 16. Geburtstag zusteuert und sich auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet, kommt das familiäre Gefüge daheim langsam ins Rutschen. Die Mutter ist von ihrer Erkrankung schwer gezeichnet und Sam flüchtet sich zu seinem Job im Kino Metropolis. Dort lernt er eine Clique von Freunden kennen und exerziert mit ihnen all das durch, was man in einem Coming of Age-Roman eben so erleben muss: erste Liebe, Hauspartys, Mutproben, Musik machen und Baden im See.

Die 49 Geheimnisse

Wells Roman zieht seine Struktur dabei aus der erdachten Kleinstadt Grady. Diese besitzt nämlich laut der urbanen Legende 49 Geheimnisse. Folglich teilt sich das Buch auch in 49 Kapitel, deren Rahmenhandlung ja tatsächlich schon mit dem ersten Satz abgedeckt wird.

Und ja, man nimmt Benedict Wells nach der Lektüre sofort die Faszination für die „geliebten Eighties-Filme“ (so der Autor im Nachwort) ab. Breakfast Club, Zurück in die Zukunft, Stand by me. All das sind Namen, die beim Lesen des Buchs unwillkürlich auftauchen. Denn Hard Land ist Paraphrase und Pastiche dieser Filme zugleich. Eine Kleinstadt, eine Gruppe Jugendlicher, Abhängen in Kinos und Diners, ds nervige Schulleben, erste Liebe, Pubertät und unverhoffte Abenteuer. Diese Zutatenmischung verwendet Wells auch in seinem Roman – und schafft damit einen gut konsumierbaren Unterhaltungsroman, der auch als Jugendroman durchgeht.

Wells huldigt einer längst vergangenen Welt. Sein Amerika endet an den Stadtgrenzen von Grady, von einer gesellschaftlichen Spaltung ist hier noch nichts zu sehen. Auch wenn Sams Freunde aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung in der Kleinstadt beäugt werden – irgendwie fügt sich in Grady alles und bleibt weitestgehend harmonisch. Und selbst wenn die Themen Tod und Trauer plötzlich für Sam aktuell werden – irgendwie findet sich dann doch wieder alles. Das ist manchmal dann doch etwas banal, genauso wie der ein oder andere Dialog im Buch.

Fazit

Ein melancholisch-kindliche Ton ist kennzeichnend für Hard Land. Benedict Wells gibt dem boomenden Coming of Age-Affen Zucker und beschwört einen doppelt nostalgischen Roman herauf. Eine längst vergangene (bzw. sehr verklärte) Epoche der amerikanischen Geschichte trifft auf einen Erzähler, der seine Jugend noch einmal durchlebt. Das ist solide erzählt, weiß als Roman zu unterhalten, fügt dieser ohnehin schon übersättigen Romangattung aber keine wesentlich neuen Facetten hinzu.


  • Benedict Wells – Hard Land
  • ISBN: 978-3-257-07148-1 (Diogenes)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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