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Jackie Polzin – Brüten

Manchmal treibt der Buchmarkt schon kuriose Blüten. Da erscheinen innerhalb weniger Wochen zwei Bücher von Debütantinnen auf dem deutschen Buchmarkt, beide aus Nordamerika und beide mit dem gleichen, recht spezifischen Thema. Beide erzählen von der Hühnerzucht und dem Schicksal von weiblichen Figuren, die sich mit der Aufzucht und Hege von Hühnern beschäftigen müssen. Doch wo Deb Olin Unferth von den Abgründen der industriellen Hühnerzucht erzählt, konzentriert sich Jackie Polzin ganz auf das Private.

Sie erzählt von einer Frau in einem Vorort Minnesotas und ihrem Kampf um die vier Hühner im eigenen Garten. Dabei kombiniert sie die tierische mit menschlicher Nachwuchsplanung und betrachtet das Brüten, das Vögeln und Menschen verbindet. Kühn, aber in meinen Augen durchaus gelungen.


Sie heißen Hennepin County, Darkness oder Gam Gam und sind der ganze Stolz der namenlosen Ich-Erzählerin. Zusammen mit ihrem Mann Percy, einem Akademiker auf Jobsuche, lebt sie in einem Vorort von Minnesota und teilt sich ihr Zuhause mit vier Hennen. Die Hege und Pflege der vier Hühner widmet sich die Erzählerin mit viel Hingabe. Beginnend im Winter bei großen Minustemperaturen, denen nur mit einer Wärmelampe beizukommen ist bis hinein in den Sommer, in denen Habichte und Waschbären den Hühnern zusetzen, erleben wir chronologisch ein Menschen- und Hühnerjahr.

Zu den Schilderungen der Pflege der Hühner gesellen sich zunächst nur spärlich hingetupfte Informationen über die Erzählerin und ihren Mann. Die Nachbarn, ihre Mutter, Percys langwierige Berufungsverfahren als Lehrender – all das wird nur in kurzen, wohldosierten Informationen eingestreut. Erst langsam schält sich aus den Impressionen der Grund heraus, warum sich die Erzählerin so auf die Aufzucht der Hühner und ihr Brutverhalten fokussiert. Dabei ist der Titel Brüten angenehm vieldeutig und lässt sich auf das menschliche Verhalten übertragen, wenngleich das Huhn auf dem Cover eine Verengung des Themas signalisiert, die dem Buch selbst völlig fernliegt.

Menschliche Hühner und tierische Menschen

Jackie Polzin - Brüten (Cover)

Was verbindet uns in der Aufzucht von Nachwuchs? Wie bauen wir uns ein Nest und wie gehen wir mit Verlusten um? Indem die Erzählerin ganz genau auf die Hühner blickt, erzählt sie uns auch ganz viel von sich selbst. Zudem vermag es Jackie Polzin genau und eindringlich zu erzählen, sodass der Besuch eines Waschbären am Hühnerstall hier zu einer existenzerschütternden Erfahrung wird, die neben dem Huhn auch die Erzählerin und ihren Mann völlig aus der Bahn wirft.

Angesichts der Tatsache, dass es schon einen großartigen Roman über Hühner in diesem Frühjahr gibt, stellt sich natürlich aber auch die Frage, ob es dann einen zweiten Roman mit einer ähnlichen Thematik braucht. Diese Frage würde ich auf alle Fälle bejahen, eröffnen sich doch auch ganz reizvolle Perspektiven und Betrachtungen, wenn man die beiden Bücher in ihrer Themensetzung und Ausgestaltung miteinander vergleicht.

Hühner als literarisches Trendthema

So wählt Deb Olin Unferth den Ansatz, von der Mikroebene eines einzelnen freilaufenden Huhns auf die ganze Fülle von Legebatterien zu zoomen. Jackie Polzin geht den genau umgekehrten Weg. Während sie ihr Jahr mit vier Hühnern beginnt, werden es im Lauf des Jahres durch äußere Einflüsse immer weniger Hennen, was eine immer stärkere Bindung der Erzählerin an die Tiere hervorruft.

Während bei Deb Olin Unferth die industrielle Hühner- und Eierzucht und deren Kritik im Mittelpunkt steht, ist es bei Jackie Polzin das Privateste überhaupt, auf das sie sich fokussiert und von dem sie mithilfe der Hühner als Projektionsfläche erzählt. Sie benötigt keine Tierrettungsaktionen, große Figurenensembles oder Breitwandaction, um von Tier- und Menschenliebe zu erzählen. Stattdessen dominieren hier kurze Kapitel, eine minimale Personenanzahl und vier Hühner, mit deren Hilfe sie ihre Geschichte erzählt.

Eine Sprache zwischen Poesie und sprachlicher Genauigkeit

Die Sprache, mit der sie das tut, ist dabei doch manchmal erstaunlich hochspezifisch und dann doch wieder sehr poetisch (Übersetzung durch Nikolaus Stingl). So finden sich Adjetive wie intrikat oder Passagen wie die folgende:

Wenn Hühner Angst haben, suchen sie Deckung zwischen dem Haus und der Treppe, in den Spieren. Jedes Frühjahr bildet das Gesträuch eine weiße Wolke von Blüten, ansonsten jedoch ein Gewirr von Zweigen, teils Nest, teils Käfig. Die vorbeifahrenden Züge erschrecken die Hühner nicht, doch wenn auf dem Betriebshof anderthalb Kilometer entfernt gerade ein zweiter Zug anfährt, dann lässt dieser Anfahrvorgang – seine schiere chthonische Wucht – die Hühner wie angewurzelt stehen bleiben. Die Füße reglos, das Gefieder still, jeder fleischige Muskel erstarrt, ausgenommen ihre wild schlagenden Herzen und umherhuschenden Augen. Auf die gleiche Weise dringt der Zug nachts in meinen Schlaf ein, seine Geschwindigkeit vom Traum in eine hohe Wasserwand oder einen bodenlosen Abgrund verwandelt.

Jackie Polzin – Brüten, S. 144

Fazit

Man kann das Engführen von tierischem und menschlichem Verhalten und Bedürfnissen, von Eiausbrütung und Urtrieben natürlich für geschmacklos halten, möchten wir uns doch gerne über vermeintlich einfachere Tiere wie Hühner erheben. Dass wir diesen aber doch näher sind, als wir uns gemeinhin einreden, das zeigt Brüten auf literarisch anspruchsvolle wie gelungene Weise.

Jackie Polzin gelingt hier ein beachtliches Debüt, das auf verknappte Art und Weise von Tierischem und Menschlichen und dessen Überschneidungspunkten erzählt. Ihre genauen Betrachtungen eines Jahres voller Hühner, Träume und Verlust zeigt, dass auch ein vermeintlich einfaches Thema wie die Hühnerzucht viele Aspekte bereithält, die sich literarisch wunderbar aufbereiten lassen und damit auch wieder etwas über uns Menschen selbst erzählen.


  • Jackie Polzin – Brüten
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-423-29011-1 (dtv)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €
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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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Zinzi Clemmons – Was verloren geht

Was bleibt von einem Leben? Wie umgehen mit Trauer, Verlust und Leid? Wie definiert man sich als eine Frau zwischen den Ausprägungen Schwarz und Weiß in einer Gesellschaft? Fragen, mit denen sich Zinzi Clemmons in ihrem Roman Was verloren geht beschäftigt.


Unsere Welt basiert stark auf Dichotomien. Gut oder Böse, Jung oder Alt, Lesenswert oder Nichtlesenswert, Schalke oder Dortmund, Schwarz oder Weiß. Klare Abgrenzungen hin zu einer von beiden Richtungen erleichtern uns die Einordnung, machen alles übersichtlicher und vermeintlich einfacher. Doch wie lebt es sich in den Zwischenräumen, in denen man Dinge nicht so einfach zuordnen kann? Das erfährt Thandi, die Protagonistin in Zinzi Clemmons Buch, am eigenen Leib. Bei ihr führt die Aussage einer Mitschülerin, Thandi sei ja gar keine „richtige“ Schwarze, zu einer Identitätskrise.

Ein Leben dazwischen

So stammt Thandis Mutter aus Johannesburg in Südafrika, ihr Vater hingegen ist New Yorker. Sie wächst zwischen zwei Kontinenten und zwischen zwei Identitäten auf, was zur Folge hat, dass sie sich nirgends zugehörig fühlt.

Aber wenn ich mich selbst als schwarz bezeichnete, schauten meine Cousins mich komisch an. Sie sind das, was man in Südafrika Coloured nennt – gemischter Abstammung – und mein Vater ist ein hellhäutiger Schwarzer. Ich sah wie meine Verwandten aus, aber dass ich mich selbst als Schwarze bezeichnete, fanden sie anstößig. Amerikanische Schwarze waren cool, südafrikanische Schwarze waren gewöhnlich, aber gefährlich. Gerade das wollten sie nicht sein.

Die amerikanischen Schwarzen waren mein prekäres Homeland – weil ich so hellhäutig war und Wurzeln in einem fremden Land hatte, gehörte ich in keiner Community so richtig dazu. Außerdem hatte meine Familie Geld und alle schwarzen Jugendlichen in meiner Stadt kamen aus ärmeren Gegenden. Ich war mit den Jugendlichen befreundet, die in meiner Straße lebten und in meinen Leistungskursen waren – allesamt weiß. Ich saß zwischen allen Stühlen.

Clemmons, Zinzi: Was verloren geht, S. 34 f.

Wie definiere ich mich und wo will ich dazugehören? Diese Fragen, die sich spätestens in der Pubertät viele junge Menschen stellen – bei Thandi ist alles noch ein wenig komplizierter, was im Buch nachvollziehbar dargestellt wird.

So arbeitet sich der Roman an den Fragen von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen, Rassismus und der Gegenüberstellung von afrikanischen und amerikanischen Reaktionen auf dieses Leben zwischen Schwarz und Weiß ab. Zudem ist Was verloren geht auch ein eindrückliches Dokument der Trauer und des Verlustes. Denn auch die Erfahrungen des Todes von Mutter und Vater und deren nunmehriger Abwesenheit im eigenen Leben sorgen für weitere Identitätskrisen.

Dass der Roman bei aller Problemzentrierung und negativer Themensetzung nicht zu schwer wird, das liegt auch an der gewählten Erzählweise. Denn Zinzi Clemmons erzählt in Fetzen.

Eine Erzählung in Fetzen

Trotz der knapp 240 Seiten kann man Clemmons Buch unglaublich schnell lesen (was man nicht tun sollte, es entgingen einem viele nachdenkenswerte Gedanken, aber es ist möglich). Viele Seiten sind gerade einmal zu einem Drittel bedruckt. Dies liegt daran, dass Zinzi Clemmons schreibt, wie im Pointillismus gemalt wurde. Immer wieder kleine Tupfer, Skizzen, Erlebnisse und Eindrücke, die sich zu einem großen Ganzen verbinden. Dabei ist es nicht nur Prosa, die in den Text einfließt. Auch Blogbeiträge, Fotos, mathematische Darstellungen und Tabellen finden sich im Buch und ergänzen und spiegeln Thandis Gefühlswelt und ihr Erleben.

Diese „Remix“-Technik oder fetzionale Erzählweise (für diesen Neologismus möchte ich fast Markenschutzrechte beantragen) macht aus der ansonsten etwas unspektakulären und nicht besonders kunstfertigen Prosa (Übersetzung durch Clara Drechsler und Harald Hellmann) dann wieder etwas Besonderes.

Auch kann die Lektüre von Was verloren geht etwas sensibilisieren und Hintergrunderständnis für viele gesellschaftliche Probleme und Spannungen in den USA liefern. Und nicht zuletzt bietet Clemmons Buch auch Erklärungsansätze oder Muster für Fälle wie den von Rachel Dolezal. Diese hatte sich jahrelang als Schwarze ausgegeben und für Bürgerrechte von People of Colour gekämpft. Erst nach Jahren flog der Schwindel um ihre Identität auf. Eine kuriose Geschichte, die sich nach Clemmons Buch gar nicht mehr so kurios liest.

Der Fall Rachel Dolezal. Screenshot NZZ

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Sasa Stanisic – Fallensteller

Im Jahr 2014 gelang Saša Stanišić der bisher größte Erfolg in seiner Karriere als Schriftsteller: Mit seinem zweiten Buch Vor dem Fest errang er den Preis der Leipziger Buchmesse und war in der Folge ganz weit oben in den Bestsellerlisten dieses Landes zu finden. Nun gibt es zwei Jahre nach diesem Triumph neues Material vom bosnischen Erzähler, diesmal in Form von Kurzgeschichten.

Fallensteller von Saša Stanišić

Diese tragen Titel wie Billard Kasatschock oder Die große Illusion am Säge-, Holz-, und Hobelwerk Klingenreiter Import und Export. Den Hauptteil des Buches mit über 100 Seiten macht die titelgebende Erzählung vom Fallensteller aus. Darin kehrt er wieder nach Fürstenwalde zurück, jenes fiktives Dörfchen in der Uckermark, das er schon in Vor dem Fest erkundete. Nun lässt er den Fallensteller durchs Dorf streichen und beobachtet aus den Augen der Dorfbewohner das wunderliche Geschehen rund um Wölfe, Fallen und Dorfgemeinschaft. In anderen, kürzeren Erzählungen blickt er auf Georg Horwath, ein Handlungsreisender, irgendwo lost in translation oder einen leicht tumben und greisen Fabrikerben, dessen größtes Hobby die Zauberei ist. Mal kürzer, mal länger, mal versponnen, mal klarer schreibt sich Stanišić durch sein ganz eigenes Universum.

Seine Kurzgeschichten sind höchst heterogen und stellen damit eine krasse Abkehr zum meinem letzten Erzählband mit Kurzgeschichten von Anthony Marra dar. Wo bei Marra noch ein durchgängiges Erzählkonzept herrschte, sind hier die Fäden subtiler verbunden, zwar tauchen manchmal Charaktere oder Motive auch in anderen Erzählungen wieder auf, doch merkt man dem Fallensteller klar den versammelnden Charakter von Erzählungen jeglicher Couleur an. Viele der Erzählungen wurden schon einmal publiziert, so stammt der Billard Kasatschock etwa aus dem Jahr 2005.

Erzählungen, die irgendwo zwischen magischem Realismus, Dada, Alltagsbetrachtungen und Chiffren liegen, eingepackt in eine höchst außergewöhnliche Sprache, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht!

 

 

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Benedict Wells – Vom Ende der Einsamkeit

Fünf Jahre nach seinem letzten Titel meldet sich Benedict Wells mit seinem neuen Titel Vom Ende der Einsamkeit zurück – und wie: Einstieg auf Platz 3 der Bestsellerliste, sich überschlagende Lobeshymnen in den Blogs und Feuilletons. Doch sind die Lorbeeren wirklich gerechtfertigt? Mit großer Neugier nahm ich mir ein paar Stunden Zeit für das Buch und wurde mehr als belohnt.

 

„Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ (Lew Tolstoi, Anna Karenina)

 

Ende EinsamkeitDiesen berühmten Romananfang des Jahrhundertwerks Anna Karenina füllt Benedict Wells in seinem Roman mit neuem Leben. Er erzählt von Liz, Marty und Jules Moreau, dreier Geschwister, die schon früh ihre Eltern bei einem Autounfall verlieren. Dies wirft alle drei aus der Bahn und führt zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Nach der Zeit im Internat taumelt der Ich-Erzähler Jules durch sein Leben, versucht sich in der Fotografie und Kurzgeschichten, doch sein Kompass im Leben scheint den Dienst zu versagen. Seine Schwester Liz treibt von Mann zu Mann, ohne wirklichen Inhalt im Leben zu finden. Und Jules‘ Bruder Marty wandelt sich vom Nerd zum Entrepreneuer, doch glücklich ist auch er nicht. Mit dem Verlust der Eltern haben die drei Figuren eine so schwerwiegende Last aufgeladen bekommen, dass sie alle drei ihr Leben lang daran zu tragen haben werden.

Einen Ausweg aus seinem Durchs-Leben-Treiben könnte Jules nur Alva bieten, zu der er seit seiner Kindheit im Internat eine enge Bindung hegt, doch auch diese Beziehung ist alles andere als einfach und verlangt von Jules alles ab. Bei seinem Kampf um Glück und die Befreiung von seinem schweren Ballast ist der Leser ganz nahe dran und verfolgt gebannt, ob Jules Moreau je das Ende der Einsamkeit erreichen wird.

 

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Vom Ende der Einsamkeit ist ein großes, trauriges und dabei doch auch versöhnliches Buch, das nie in Pathos oder erdrückende Gefühlsduselei abgleitet. Hier schreibt ein neuer (und ich möchte fast sagen noch besserer) Benedict Wells. Viele Szenen, Dialoge oder Aphorismen möchte man aus dem Buch heraus notieren, zitieren und nie wieder vergessen. Seine einfühlsame Schilderung des Lebens seiner Figuren zeugt von großer Reife und Einsicht. Den Sound der Melancholie, den Wells schon in den ersten drei Büchern pflegte (Becks letzter Sommer, Spinner und Fast genial) hat er hier noch einmal perfektioniert, wenn auch mit einer erheblich traurigeren Grundorchestrierung.

Dass das alles nicht zu erdrückend wird, verdankt das Buch auch seiner tollen Erzählkonstruktion. Das chronologisch geraffte Erzählen (stets fasst Wells ein paar Jahre als Kapitel zusammen) durchbricht er mit Vorausschauen, die die Spannung und den Wunsch nach mehr hochhalten. Er hält die Balance zwischen seinen Figuren und fasst die 30 Jahre dauernde erzählte Zeit auf 360 Seiten so zusammen, dass alles passt und stimmig wirkt. Die Liebe und Mühe, die über fünf Jahre in dieses Buch geflossen sind, merkt man dem Titel definitiv an.

 Fazit:

Vom Ende der Einsamkeit ist ein trauriges, aber auch von Hoffnungsfäden durchwirktes Buch, das noch über die letzten Seiten und das Zuklappen des Buchs nachhallt. Zu recht ganz weit oben in den Bestsellerlisten und einer der stärksten Frühjahrstitel. So gut war das Diogenes-Programm schon lange nicht mehr (man denke nur auch an den nahezu parallel erschienen Trick von Emanuel Bergmann). Unbedingt lesenswert!

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