Monthly Archives: April 2020

Harlem Nocturne

Ann Petry – The Street

Mit über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren einst ein gigantischer Erfolg – und heute fast komplett vergessen. Der Debütroman von Ann Petry über den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und soziale Determination. The Street – Die Straße in der Übersetzung Uda Strätling, nun wieder neu zu entdecken im Verlag Nagel & Kimche.


Sie hing in dieser Straße fest, hier in diesem düsteren, dreckigen Mietshaus. Sie würde sehr lange brauchen, um wegzukommen. Sie dachte an die Chandlers und deren Freunde in Lyme. Sie hatten Recht mit ihrer Behauptung, dass jeder in der Lage war, Geld zu scheffeln, aber es war eine elende Plackerei – es verlangte harte Arbeit und Verzicht. Aber sie war zu beidem imstande beschloss sie. Und sie wollte sich niemals damit abfinden, hier leben zu müssen. Plötzlich standen ihr wieder die tragisch ergebenen Gesichter der jungen Frauen und des Alten vom Frühjahr vor Augen. Nein. So wollte sie nicht enden.

Petry, Ann: The Street, S. 269 f,

Es ist der Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen sozialen Schicht, der Menschen umtreibt, seit es diese Schichten gibt. Viel ist darüber geschrieben worden, am eindrücklichsten sind für mich in der deutschen Literatur die Erzählungen Gottfried Büchners (Woyzeck) und Theodor Storm (Ein Wiedergänger), die mir gleich in den Sinn kommen, wenn es um den Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen Klasse geht. Du sollst es einmal besser haben als wir ist zum geflügelten Wort geworden. Es schwingt darin der Wunsch mit, den Kindern ein sorgenfreieres Leben zu ermöglichen und ihnen die Hürden des eigenen Lebens aus dem Weg zu räumen.

Doch ebenso präsent wie der Wunsch nach Aufstieg ist auch das Wissen, das dieses Privileg nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Die sichtbaren und unsichtbaren Schranken von Gesellschaften arbeiten effektiv, eine Durchlässigkeit der Schichten ist nicht immer gegeben.

Gegen den Sturm

Das muss auch Lutie Johnson erkennen. Sie ist die Heldin von Ann Petrys Debütroman. Höchst symbolisch weht ihr schon in den ersten Zeilen dieser Erzählung ein Sturm entgegen, der alle anderen Menschen von der Straße treibt. Sie bietet dem Sturm allerdings Paroli, denn sie ist auf der Suche nach einer Wohnung für sich und ihren Sohn Bubb. Diese findet sie in der 116th Street in Harlem, einem Straßenzug, der von ärmlichen Mietshäusern und schuhschachtelgroßen Wohnung dominiert wird.

Sie blickte hoch zu den düsteren Wohnungen, wo die Köpfe erschienen waren. Endlose Reihen schmaler Fenster, endlose Stockwerke zusammengepferchter Menschen. Sie besah sich die Straße insgesamt. Mülltonnen standen am Rand. Halbverhungerte Katzen wühlten darin – raschelten im Papier, nagten an Knochen. Und es war ja nicht nur diese Ecke, diese Straße, dachte sie wieder. Es war überall in Harlem das Gleiche, wo die Mieten so niedrig waren.

Petry, Ann: The Street, S. 198

Bildstark inszeniert Petry dieses Harlem der 40er Jahre, in dem die Armut grassiert. Das Straßenbild wird von ausrangierten Möbeln dominiert, die auf der Straße stehen. Diese werden von den Menschen als eine Art Wohnzimmer genutzt, wie ein weißer Cop im Buch einmal bemerkt. Die erdrückende Enge der Wohnungen und der sozialen Klasse lässt die Menschen auf die Straße und die Vordertreppen der Häuser flüchten.

Ann Petry - The Street (Cover)

Auch Lutie versucht, nicht allzu viel Zeit in ihrer Wohnung zu verbringen. Als Sekretärin hat sie sich selbst fortgebildet und bestreitet so das kärgliche Einkommen für sich und ihren Sohn, der nach der Schule stundenlang in der Wohnung auf sie wartet. Ihr großes Ziel ist es, genug Geld für einen Auszug und ein sorgenfreies Leben mit ihrem Jungen zu sammeln.

Doch dieses Unterfangen gleicht an einem Ort wie Harlem dem Kampf gegen Windmühlen. Meist scheitert Lutie in The Street an den Männern, die ihr Chancen verbauen und sie nur ausnutzen wollen. Egal ob der Hausmeister ihres Mietshauses, ein Bandleader oder der lokale Pate, der im Besitz von Tanzlokalen und Mietshäusern ist. Positiv gezeichnete Männer gibt es in Luties Straße nicht. Das Patriachat zeigt sich hier in Harlem von seiner hässlichen Seite.

Vom Kampf um ein besseres Leben

In den Beschreibungen ihrer Charaktere ist Ann Petry sehr präzise. Die glaubhaft gestalteten Figuren legen die gesellschaftlichen Mechanismen offen, durch die Ausgrenzung und Stigmatisierung funktionieren. Von den kleinen Nebenfiguren wie etwa Luties schnapsbrennenden und konsumierenden Vater bis hin zum psychisch gestörten Hausmeister, der ein Komplott um Luties Sohn herum spinnt. Petry erzählt psychologisch glaubhaft und mit großem Einfühlungsvermögen. Auch Mittel der Spannungsliteratur wendet sie in ihrem Buch an, was The Street Drive verleiht.

Ich las Petrys Roman als eine Art schwarzen Gegenentwurf zu Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn, das drei Jahre vor Petrys Buch erschien. Wo bei Smith reelle Aufstiegschancen und Bildung durch Lesen für junge Frauen stets in Reichweite sind, so ist die Welt bei Ann Petry deutlich düsterer. Missbräuchliche Männer, Enge, Düsternis, Armut und Gewalt sind allgegenwärtig und stehen der weiblichen und sozialen Emanzipation entgegen.

Treiben auf den Straßen Harlems 1939

Neben Betty Smith erinnerte mich dieser Roman am stärksten an James Baldwin (der ebenfalls in Harlem geboren wurde), vor allem an seinen Beale Street Blues. Einen ähnlich scharfen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und die Probleme der schwarzen Bevölkerung teilen beide Autor*innen. Aber auch an Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn oder Maya Angelous Autobiografie fühlte ich mich in manchen Passagen erinnert.

Auch heute noch von großer Aktualität

Obwohl schon 74 Jahre vergangen sind, liest sich dieser Roman an keiner Stelle altbacken oder überholt. Die von Uda Strätling ins Deutsche übersetzte Sprache Petrys ist frisch und ihre Beschreibungen des Treibens auf den Straßen Harlems sind mehr als überzeugend. Die Absatzzahlen von über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren (wovon man heute nur träumen kann) sind angesichts der Qualität des Buchs mehr als verständlich. Die Wiederentdeckung dieses Buchs nebst dem schönen Nachwort von Tayari Jones ist ein Glücksfall. Schön, dass Nagel & Kimche dem Buch eine Chance gibt.

Nicht nur allen Lesern von James Baldwin und Co. sei dieses Werk wärmstens ans Herz gelegt. Eine unbedingte Empfehlung – ein Buch, das wieder gelesen und besprochen werden sollte. Denn die in The Street thematisierten Probleme und Fragen sind auch heute noch allgegenwärtig und von Relevanz.


Titelbild und Straßenszene aus Harlem stammen aus dem Archiv der New York Public Library. Die Rechte ebenda. https://digitalcollections.nypl.org/items/bcdf3fbe-a589-88d6-e040-e00a1806445a

  • Ann Petry – The Street
  • Mit einem Nachwort von Tayari Jones
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-312-01160-5 (Nagel & Kimche)
  • 384 Seiten, 24,00 €
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Abgesoffen in Venedig

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo – Der freie Hund

„Was siehst du, Morello?“

„Eine Sanduhr, Signor Vice Questore.“

„Du siehst Venedig, Morello. Die Touristen rieseln morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus. Manchmal bleiben sie eine Nacht, manchmal zwei, selten drei, kaum jemals vier. 30 Millionen Touristen rieseln in die Stadt. Jahr für Jahr. Und sie lassen Geld bei uns. Viel Geld. Geld, von dem letztlich auch dein Gehalt bezahlt wird.“

„Ich verstehe, Signor Vice Questore“

Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37

Es scheint ein Gesetz zu geben, was das Schreiben von Regionalkrimis anbelangt. Die Ermittler oder respektive die Ermittlerinnen, die in einer touristisch attraktiven Region (Camargue, Venedig, Provence, etc.) ermitteln, werden immer gegen ihren Willen dorthin strafversetzt. Immer. Sie stoßen vor Ort auf Widerstände im Team, bekommen es mit einem Mord zu tun, lösen diesen dann restlos auf und bleiben dann doch in der Region hängen, da sie sich in Land und Leute verliebt haben. Der Grundstein ist gelegt für mindestens fünf Fortsetzungsromane, ehe der Boom dann irgendwann versandet.

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo - Der freie Hund (Cover)

Diesem güldenen Regelwerk für Regionalkrimis folgen auch Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo bei ihrer Zusammenarbeit namens Der freie Hund. Ihr Komissar heißt Antonio Morello, stammt aus Sizilien und ermittelte dort gegen die Mafia. Diese Ermittlungen brachten ihn in Gefahrt, sodass er nach Venedig strafversetzt wurde. Dort fremdelt er nun gewaltig, bekommt es mit Widerständen und neuen Kolleg*innen zu tun und hat auch bald einen ersten Mordfall, in dem er ermitteln muss. Ein junger Mann wurde mit mehreren Messerstichen ermordet. Er stand einer Bewegung vor, die sich gegen Kreuzfahrtschiffe in Venedig einsetzte. So muss der freie Hund nun ran und sich durch die Palazzos und Kanäle Venedigs ermitteln. Und das was das güldene Regelwerk des Regionalkrimis angeht, so verrät man wohl nicht zu viel, wenn man künftig mit weiteren Einsätzen für Morello rechnet.

In meinem Falle könnte ich darauf gut verzichten. Denn Der freie Hund kommt kaum über das Niveau der lieblos gemachten ARD-Länderkrimis hinaus. Da ist schon die mehr als fragwürdige Entstehungsgeschichte dieses Buchs, die mich stutzen ließ. Wenn dann das Produkt des italienisch-deutschen Duos wirklich überzeugen könnte. Aber das kann es zu keiner Minute.

Kein Klischee wird ausgelassen

Da sind zum Einen schon einmal die Figuren, die sich größtenteils lesen, wie sich ein Deutscher halt so die Italiener*innen respektive die Venezianer*innen vorstellt. Die Haute-Volee hat natürlich einen Dogen im Stammbaum und residiert in einem Palazzo, Kammerzofe inklusive. Der Kommissar ist ein eigensinner Sturkopf aus dem Süden, der bei seinem ersten Arbeitstag bei der Verfolgung eines Taschendiebs (wir sind ja in Venedig, nicht wahr) ins Wasser plumpst. Statt zum Vice Questore (den man natürlich immer mit Dienstrang anspricht) geht es dann aber erst mal zu Espresso und Gebäck ins Caffé. Frauen werden gerne über ihr Aussehen eingeführt, die eigenständig denkende Kollegin ist dann natürlich eine „Amazone“.

Wer so etwas lesen will, bitte. Ich glaube aber, dass wir 2020 schon etwas über diese Klischees hinaus sind, die selbst Donna Leon für ihre Krimis zu abgegriffen wären.

Passagen, die sich lesen, als hätten die Autoren einen halben Wikipedia-Artikel abgetippt, nachdem eine Figur das entsprechende Schlagwort im Dialog in den Raum stellt. Offensichtliches, dass dann aber extra noch einmal ausbuchstabiert wird, als hielte man seine Leser*innen für dumm.

„Eigentlich wollte er über Nacht bleiben. Dann hat er es sich aber anders überlegt.“ Ihre Stimme klingt plötzlich gepresster und schneller. Sie blickt einen winzigen Augenblick zur Seite.

Sie lügt.

Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37

Das findet sich neben hölzernen Dialogen und Szenen wie aus einer Aperol Spritz-Werbung en masse im Buch.

Zudem ist auch die Ausgestaltung der Figuren alles andere als stimmig (wenn sie denn überhaupt mal so etwas wie etwas Ausgestaltung und Tiefe erhalten). Bestes Beispiel ist Morello, der zuvor dem organisierten Verbrechen auf der Spur war und dementsprechend mit der modernen Verbrechenswelt und modernen Polizeiarbeit vertraut sein sollte.

Allerdings ist er bass erstaunt, als ihm in der Rechtsmedizin eine Frau gegenübersteht. Man stelle sich das einmal vor! Eine Frau, die Rechtsmedizin studiert hat. Und das im 21. Jahrhundert. Das lässt den freien Hund staunen. Genauso wie der Taschendieb, mit dem Morello zuvor noch etwas Fangen in den Gassen Venedigs gespielt hat. Dieser bittet den Kommissar dann um eine Büroklammer. Als er dem Hund dann offenbart, dass er damit gerne die Handschellen aufnesteln möchte, ist Morello wieder einmal erstaunt. Sapperlott! So ein kleptomanischer Tausendsassa.

Hier muss man sich wirklich fragen, ob einen die Autoren dieses klischeesatten Machwerks für dumm halten wollen. Anzunehmen ist es leider. Und da ich Bücher nicht mag, die mich für dumm verkaufen wollen, bin ich beim nächsten Einsatz des freien Hundes nicht mehr dabei. Ein überflüssiges und liebloses Buch, das man sich hätte sparen können. Und die Lektüre dessen sowieso.

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Christian Schulteisz – Wense

Wenn man sich öfter in Bibliotheken aufhält, dann kennt man diesen Typus Menschen. Vergraben hinter Bücherbergen sind sie in die Lektüre der Bücher vertieft. Die Stapel um sie herum wachsen, immer wieder schleppen sie neue Bücherberge an den Tisch heran, sodass man sich unweigerlich fragt, was sie da um Himmels Willen erforschen. Abends sind sie die letzten, die die Bibliothek verlassen, um am nächsten Morgen wiederzukehren. Tag um Tag geht das so, manche dieser Privatforscher sieht man gar jahrelang in den Bücherhallen. Da möchte man schon gerne einmal wissen, an was sie arbeiten oder was sie umtreibt.

Dementsprechend glaubhaft ist auch folgendes Gespräch, das zwei Bibliothekare hier kurz vor Dienstschluss führen:

„Haben Sie mitbekommen, wann der Wense gegangen ist?“

„Nein, warum?“

„Der ist einfach verschwunden. War noch enttäuscht, dass er ein Buch nicht mehr ausleihen kann, und plötzlich – weg. Hat alles liegen gelassen, Astronomie, Geologie, auch wieder aus der Altaistik.“

„Moment, mein Hut fehlt noch!“

„Was ist dieser Wense überhaupt?“

„Wenn man das wüsste.“

„Haben Sie ihn nie gefragt?“

„Doch. Antwort war, er übersetze. Und eine Stunde später wollte er den gynäkologischen Nachlass von Osiander sehen.“

„Kurios.“

Schulteisz, Christian: Wense, S. 115

Ja, wer oder was ist dieser Wense? Eine Frage, die Christian Schulteisz‘ Debütroman Wense zugrundeliegt. Dabei versucht er, der facettenreichen und widersprüchlichen Figur des Hans Jürgen von der Wense nahezukommen. Ein Vorhaben, das Schulteisz glückt.

Wer ist Wense?

Es gibt Biografien, die eigentlich besser als jeder Roman sind. Der Wikipedia-Eintrag von Hans Jürgen von der Wense ist das beste Beispiel dafür. Die Zusammenfassung seines Lebens liest sich spannender als so manch erdachter Roman. Seine Interessensgebiete, seine Wanderungen, seine gesamte Biographie – wer braucht da noch einen Roman?

Christian Schulteisz - Wense (Cover)

Wir alle, wie ich nach der Lektüre von Schulteisz Debüt konstatieren möchten. Dass sich dieser dran gemacht hat, ein tatsächlich gelebtes Leben in Fiktion zu überführen, ist im Falle Hans Jürgen von der Wenses ein wirklicher Glücksfall. Denn ihm gelingt das Kunststück, in minimal verknappter Form und Sprache diesem außergewöhnlichen Menschen maximal nahe zu kommen.

Wer ist dieser Hans Jürgen von der Wense? Ein Mensch der tausend Facetten. Eremit, Mönch, Wanderer, Gelehrter, Zweifelnder, Scheiternder – in seiner Person findet scheinbar Widersprüchliches zusammen. Er übersetzte aus den entlegendsten Sprachen. Interessierte sich für Astrologie, fertigte in privatem Rahmen Horoskope für Göring, Hitler oder ganze Länder an. Sollte eigentlich zum Militärdienst im 2. Weltkrieg eingezogen werden. Entging durch seine Arbeit als Prüfer von Sonden dem Dienst an der Front. Komponierte Neue Musik, trat ihn Donaueschingen auf. Erwanderte halb Deutschland, interessierte sich für scheinbar banale Dinge, denen er seine Forschung widmen wollte, darunter etwa die Geschichte des Stabs. Veröffentlich hingegen hat er kaum etwas von seinen Forschungen. Zu Publikationen musste man ihn drängen. Ein Mensch, der, hätte man ihn in einer Bibliothek erblickt, wahrscheinlich kauzig und vergeistigt hinter seinen Bücherstapeln gehockt wäre.

Eine sprachmächtige Annäherung

Wandernder Wense
(Bildrechte Blauwerke-Verlag)

In Schulteisz Buch können wir nun in sein Inneres blicken. Die ewige Unruhe, die ihn umtrieb vermag der Autor genauso zu schildern wie sein Flanieren, Bummeln, Rennen, Taumeln und Wandern durch diese Welt. Wie ein Hungernder im Schlaraffenland verlagert sich seine Aufmerksamkeit immer wieder im Stundentakt zu den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen. Es ist eine nahezu faustische Unruhe, die in diesem Menschen wütet, wie Schulteisz zeigt. Zu sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält und Erkenntnisse über alle gegraphischen und disziplinären Grenzen hinweg zu sammeln, das treibt Hans Jürgen von der Wense an.

Schulteisz Prosa ist dabei genauso wie Wense selbst. Unruhig, immer nach vorne drängend. Gerade einmal 125 Seiten umfasst dieses Buch, aufgeteilt in immerhin 13 Kapitel, die sich eher auf die Illustration des Wesens Hans Jürgen von der Wense denn auf eine wirkliche Handlung fokussieren.

Allen Kapiteln aber ist eine Sprache zueigen, die bildmächtig, präzise und geradezu überschäumend ist, und das bei aller Knappheit des Büchleins.

Hinterm Stadtwall wellen sich die Felder in der Dunkelheit, jeder Erdklumpen, jeder Hall ist ein Tropfen, ein Spritzer der wogenden Landmasse, und alles, was auf ihr liegt, scheinbar still liegt, eigentlich Treibgut, er selbst nur ein Schiffchen mittendrin, ein müder Kahn, der vorschriftsmäßig seinen Kurs halten muss zwischen anderen müden Kähnen.

Schulteisz, Christian: Wense, S. 40

Fazit

Dass Schulteisz‘ Roman nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem außergewöhnlichen Leben von der Wenses zeigt und sich eher auf die Momente und Wahrnehmungen Wenses denn auf eine große biographische Einbettung seines Lebens fokussiert, ist eine weise Entscheidung. Gewiss – Wense bleibt fragmentarisch unvollendet – aber dieses Buch steht pars pro toto für den unvollendeten Wense, der der Nachwelt kaum etwas hinterließ. Umso schöner, dass Schulteisz ihn durch diese kluge Erzählung wieder hervorholt und diesen Universalgelehrten und Scheiternden in seiner ganzen Fülle zeigt. Eine begrüßenswerte Entscheidung des Berenberg-Verlags, mit Christian Schulteisz die erste Veröffentlichung eines Debüts zu wagen.

Eine weitere Besprechung von Schulteisz‘ Debüt gibt es beim Kulturjournal Fräulein Julia und auf der Seite des Bücherkaffee.


Ein großer Dank geht an Reiner Niehoff vom Blauwerke-Verlage in Berlin, der mir die Bildrechte für den Abdruck der Bilder Hans Jürgen von der Wenses erteilte. Blauwerke verlegt Originalschriften und Wensiana, die man über die Seite beziehen kann. Wer neugierig auf die Figur des Hans Jürgen von der Wense geworden ist, der findet hier vertiefende Einstiege in das Werk dieses Universalfragmentarikers.

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Adieu to Old England

Jonathan Coe – Middle England

Vom Niedergang des einstigen Weltreichs England, vom Brexit und von der Suche nach dem richtigen Leben erzählt der Engländer Jonathan Coe in seinem Roman Middle England. Eine beschwingte Lektüre. Witzig, anrührend, politisch, nachdenklich oder mit anderen Worten: einfach gut gemacht!

Wie soll das gehen? Die Erkundung einer ganzen Nation, ihrer Probleme, ihrer soziologischen Verwerfungen, ihrer ganzen politischen Fülle und Vergangenheit? Besonders dann, wenn die Nation England heißt. Einst stolzes Oberhaupt des Commonwealth, Mutterland des Pop und nun Brexit-geschüttelt. Ein schwieriges Unterfangen – das der Brite Jonathan Coe in seinem Roman Middle England (Übersetzt von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs) aber bravourös löst. Wie gelingt ihm diese Vermessung der britischen Seele?

Jonathan Coe - Middle England (Cover)

Indem er nicht auf die extremen Ränder Englands schaut, sondern genau dorthin geht, wo die Mitte Englands liegt – nämlich ins Umland Birminghams. Doch nicht nur geographisch sucht Coe den Durchschnitt, auch soziologisch versucht sich Middle England an einer Diagnose der Durchschnittsbevölkerung. Dies gelingt ihm, indem er im Buch eine Vielzahl von Menschen zu Wort kommen lässt. Alte und Junge, Enttäuschte und Optimistische, Upperclass und Mittelschicht, Fremdenfeindliche, Liberale, Schriftsteller und Studentinnen. Sie alle bilden mit ihren Stimmen und Geschichten die Geschichte des gegenwärtigen Englands.

Jonathan Coe stellt einige Figuren in den Vordergrund seiner Geschichte, die schon in vorherigen Büchern eine Rolle spielten. So hatten Benjamin Trotter und seine Schwester in den Büchern The Rotter’s Club und The closed circle (beide auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältlich) einen Auftritt. Mit Middle England schreibt Jonathan Coe ihre Geschichte nun nach über 18 Jahren Unterbrechung weiter. In diesen 18 Jahren ist viel passiert, was Benjamin und seine Freund*innen am eigenen Leib erfahren.

Geschütteltes England

Während in Deutschland seit 2005 ununterbrochen die CDU mit der Kanzlerin Angela Merkel in unterschiedlichen Konstellationen an der Macht war, sah und sieht die politische Großwetterlage in Großbritannien deutlich anders aus. 5 Regierungschefs in 13 Jahren, deren Halbwertszeit immer größer wurden. Stabilität sieht anders aus.

Wie es zu diesen instabilen Verhältnissen kommen konnte und wodurch der Brexit entgegen aller Progonosen zustandekam, davon erzählt Coe. Er tut dies über den Zeitraum vom April 2010 an bis hinein in den September 2018, als das Brexit-Referendum schon über die Bühne gegangen war, das Theater der Austrittsverhandlungen aber erst so richtig begann.

In seinem Roman beleuchtet Coe die gewaltigen Disruptionen, die die britische Gesellschaft durchziehen. Klassenkämpfe, Fremdenfeindlichkeit, der Kampf gegen die vermeintliche Politische Korrektheit, der Wunsch nach alter Größe. Alle Figuren, die Middle England bevölkern, erleben die großen gesellschaftlichen Konflikte und Themen am eigenen Leib.

Während Benjamin Trotter ganz abgeschieden in seiner umgebauten Wassermühle in Shropshire an einem Roman schreibt und Honegger-Streichkonzerte hört, erleben andere Figuren Straßenkämpfe, sehen den Niedergang der Industrienation Großbritannien oder werden bei Beförderungen übergangen. Dies führt bei vielen der Figuren im Roman zu Frust und dem Gefühl von herrschender Ungerechtigkeit.

Andere Figuren wie etwa der Zeitungskolumnist Doug haben den Kontakt zu diesen Menschen völlig verloren. Er verfasst meinungsstarke Zeitungskolumne um Zeitungskolumne, ohne überhaupt das fühlen, was er in seinen Texten vertritt. In Gesprächen, die zu den lustigsten Passagen dieses an Humor gewiss nicht armen Romans zählen, tauscht er sich mit einem Pressesprecher David Camerons in Hintergrundgesprächen über einen eventuellen Volksentscheid in Sachen Austritt aus der EU aus. Von der politischen Kaste verlacht und als absurd geschmäht, wird dieses Ereignis im Lauf des Romans dann doch eintreten.

Brexit und die Hintergründe

Liest man Middle England und verfolgt die zahlreichen Schicksale der von Coe fein beschriebenen Figuren, versteht man, wie es zu diesem Brexit kommen konnte. Über die Jahre hinweg beobachtet Coe seine Figuren und ihre Kämpfe, wodurch er noch so viel mehr über die britische Gesellschaft erzählen kann. Wegmarken wie etwa die Olympischen Spiele in London, den Mord an der Politikerin Jo Cox oder eben das Brexit-Referendum erzählt er packend durch die Augen seiner Figuren nach – und schafft so eines der besten Gesellschaftspanoramen Englands, das ich in letzter Zeit lesen durfte.

Das Herzland Großbritanniens?

Doch Middle England auf einen zeitdiagnostischen und politischen Roman verkürzen zu wollen, das täte dem Buch unrecht. Middle England ist auch eine Erkundung der Seele Großbritanniens. Was ist sie eigentlich, die Englishness? Pub, rote Telefonzelle und Fuchsjagd? Oder ist die Essenz des Britischen doch etwas ganz anderes? Dass Coe keine einfache Antwort auf diese komplexe Frage findet, zählt unbestritten zu den Qualitäten dieses großartigen Buchs.

Und dann ist da noch der oben schon erwähnte Humor. Auch wenn man diesen am Anfang noch nicht so ausmachen kann – Jonathan Coe liefert wirklich. Von absurden Szenen über Slapstick bis hin zu Dialogwitz – wie der Brite hier die verschiedenen Spielarten von Humor bedient, ist meisterhaft. Großartig schon alleine der Hybris-gesättigte Schriftsteller Lionel Hampshire, dem es gelang, mit dem Buch Die Otter-Dämmerung den Booker Prize zu gewinnen. Immer wieder taucht er im Buch auf. Oder die brüllend komische Sex-Szene Benjamins im Schrank, bei dem eine Duftkerze eine entscheidende Rolle spielt. Oder, oder, oder.

Fazit

In meinen Augen ist Middle England von Jonathan Coe ein Meisterwerk. Ein Buch, das in mir den Wunsch geweckt hat, auch die anderen (leider meist schon vergriffenen) Werke des Briten auf Deutsch zu lesen. Eines der besten, da vielstimmigsten und facettenreichsten Bücher dieses Frühjahrs. Und die deutlich bessere Wahl anstelle des völlig misslungen Versuchs einer Brexit-Satire von Ian McEwan. Gegen die Kakerlake nimmt sich Middle England aus wie das aktuelle Corona-gebeutelte England gegen den das British Empire zu seinen Glanzzeiten.

  • Coe, Jonathan: Middle England
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs
  • Folio-Verlag, ISBN ISBN 978-3-85256-801-0
  • 480 Seiten, 25,00 €
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Von Frauen, die trotzdem schrieben

Katharina Herrmann – Dichterinnen & Denkerinnen

Es ist die Zeit für eine Offenlegung gekommen: zwar habe ich nicht Germanistik studiert, aber immerhin habe ich zu Schulzeiten in Vorbereitung auf das Abitur den Leistungskurs Deutsch besucht. Generell würde ich sagen, dass ich literaturgeschichtlich durchschnittlich gebildet bin. Ich kenne die wichtigsten Epochen der deutschsprachigen Literaturgeschichte und ihre wichtigsten Vertreter. Vertreter. Keine Vertreterinnen.

Blicke ich zurück, ist keine Frau in auch nur entferntester Sicht, was die Literaturgeschichte angeht, die mir vermittelt wurde. Egal ob Barock mit Andreas Gryphius, Sturm und Drang mit dem Powerduo Goethe/Schiller oder so etwas wie Neue Sachlichkeit mit Erich Kästner oder Hans Fallada. Geht es um berühmte Persönlichkeiten, die mir aus dieser Zeit einfallen, sind das immer nur Männer.

Ich vermute allerdings stark, dass ich mit dieser vermittelten Literaturgeschichte nicht alleine auf weiter Flur bin. Blickt man auf unseren Literaturkanon, so ist das auch nicht weiter verwunderlich. Schaue ich zurück auf die verwendete Literaturlisten unserer Schulzeit, dann ist da so einiges vertreten, auch Entlegenes, das ich heutzutage lesenden Teenager nicht mehr unbedingt als erstes an die Hand geben würde, um sie für die Epochen und Werke zu begeistern, etwa Aristophanes‘ Die Vögel, Wilhelm Raabes Stopfkuchen oder Zuckmayrs Der Hauptmann von Köpenick.

Die einzige Frau, die mir beim schulisch verordneten Lesen unterkam, war Annette von Droste-Hülshoff (das allerdings nur als Ergänzungslektüre) und Anna SeghersDas siebte Kreuz. Mehr Frauen? Fehlanzeige

Vergessene Frauen

Gewiss – die Schulzeit ist lange vorbei. Und ich bemühe mich auch, Literaturgeschichte nachzuholen, Klassiker zu lesen, vergessene Schriftsteller*innen auch hier öffentlich wieder ans Tageslicht zu bringen. Aber dennoch bleibt am Ende des Tages die Bilanz, dass mein Lesen genauso wie unser Literaturkanon männlich geprägt ist.

Das jüngste flächendeckende Schweigen zum Doppeljubiläum Marlene Haushofers ist da nur ein Beispiel unter vielen.

https://twitter.com/nachtundtagblog/status/1247768445220839424

Eine gute Korrektur bietet da das Buch Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann. Katharina Herrmann ist in Buchblogger-Kreisen keine Unbekannte. Sie betreibt den Blog Kulturgeschwätz, hat an der LMU München promoviert, saß 2020 in der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse und ist als Gymnasiallehrerin tätig. Auch ich hatte schon die Ehre, mit ihr den Bayerischen Buchpreis begleiten zu dürfen.

Katharina Herrmann ist in meinen Augen die klügste deutschsprachige Literaturbloggerin, die immer wieder bedenkenswerte Impulse zur Lage der Literatur in Deutschland liefert. Es empfiehlt sich, ihr in den sozialen Netzwerken zu folgen.

KAtharina Herrmann - Dichterinnen & Denkerinnen (Cover)

Einer ihrer augenöffnenden Texte war vor zwei Jahren der Beitrag Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen. Damit setzte sie sich zum ersten Mal in der Bloggerszene in umfassender Art und Weise mit dem männlich geprägten Literaturkanon und den Mechanismen des Literaturbetriebs auseinander, der es Frauen erschwert hat, zu schreiben. In meinen Augen hat Katharina mit diesem Artikel Aktionen wie das #frauenzählen oder dem Boom feministischer Literaturblogs das Feld bereitet.

Viele Impulse gingen von diesem Artikel aus – unter anderem auch eine kleine Reihe mit Dichterinnenporträts, die Katharina Herrmann auf ihrem Blog veröffentlichte. Aus diesen Porträts ist nun das vorliegende Buch entstanden. Es versammelt 20 Porträts von Schriftstellerinnen, ausgehend vom 18. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert, das Herrmann mit der Autorin Mascha Kalékos beschließt. Frauenporträts, die ganz unterschiedliche Dichterinnen und Denkerinnen in den Fokus rücken.

Von Louise Aston bis Rahel Varnhagen

Schon einmal von Louise Aston gehört? Oder von Helene Böhlau? Katharina Herrmann schafft es, von der breiten Öffentlichkeit völlig vergessene Frauen wieder zurück ans Tageslicht zu bringen. Oftmals wurden diese zu Lebzeiten viel gelesen und diskutiert – gerieten dann aber wieder zunehmend in Vergessenheit. Und selbst wenn ein Name wie etwa der von Annette Droste von Hülshoff etwas bekannter ist, dann ist es auch nur der Tatsache zu verdanken, dass verschiedene Parteien über ihre Deutungshoheit bestimmen wollten. Dieser Streit wiederum begünstigte dann ihre Kanonisierung.

Die Autorin Rahel Varnhagen

Dass der Kampf um schriftstellerische Selbstbehauptung immer auch ein Kampf gegen das Patriarchat und die Fesseln ihrer Zeit war, das zeigt Katharina Herrmann in ihren Porträts deutlich. Sie schafft es, das Wesen und die prägenden Charakterzüge ihrer vorgestellten Schriftstellerinnen trotz des Umfangs von nur wenigen Seiten kurz und prägnant auf den Punkt zu bringen.

Sie zeigt die Widerstände, gegen die sich die Autorinnen wehren mussten. Versagte Schulbildung, die Versorgung der Familie, Männer, die die Schriftstellerinnen nach ihren Vorstellungen formen und beeinflussen wollten. Viele Motive kehren immer wieder, über die Jahrhunderte hinweg. Herrmann macht diese Hindernisse deutlich, weshalb der Untertitel Frauen, die trotzdem geschrieben haben mehr als treffend ist.

Neben den biographischen Nacherzählungen finden sich auch immer wieder Auszüge aus den Werken der Autorinnen im Text, die so ein Gefühl für das schriftstellerisches Oeuvre erzeugen. Das macht Lust, die Schriftstellerinnen selbst kennenzulernen und ihre Bücher zu lesen (wenn es nicht so schwer wäre, an sie heranzukommen).

Ein wunderbar gestaltetes Buch

Ein Wort soll an dieser Stelle auch über die Gestaltung des Buches verloren werden. Denn neben Literaturhinweisen und bibliographischen Verweisen gibt es auch zahlreiche Porträts, die das Buch ergänzen. Sie stammen aus der Feder von Tanja Kischel und können nicht anders als sehr gelungen bezeichnet werden. Gestalterisch ist Dichterinnen & Denkerinnen ebenfalls ein Gewinn.

Schade ist es natürlich, dass dieses Buch auch zu jenen Titeln des Bücherfrühlings zählt, denen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch die kaum vorhandenen Werbemaßnahmen des Reclam-Verlags tun leider ihr übriges dazu. Mehr Sichtbarkeit für dieses Buch und die darin vorgestellten Schriftstellerinnen, das wäre wünschenswert. Denn die vorgestellten Dichterinnen und Denkerinnen verdienen es genauso wie dieses Buch!


Eine weitere Besprechung des Buchs findet sich auch bei Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze und bei Sabine vom Blog Binge Reading & More.

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