Monthly Archives: April 2023

Maria Borrély – Mistral

Schon kurz nach dem Beginn fällt der unabhängige Kanon-Verlag durch ein ambitioniertes Programm auf. Nun ist dem Berliner Verlag eine echte Entdeckung gelungen. In ihrem ursprünglich 1929 erschienenen Roman Mistral erzählt Maria Borrély ebenso präzise wie lyrisch von einem kleinen Dorf in der Provence, vom wechselseitigen Walten der Kräfte in der Natur und im Menschen und von einer unglücklichen Liebe


Manche Bücher gehen ungewöhnlichen Wege, ehe wir sie als Leser*innen zu Gesicht bekommen. Maria Borrélys Buch ist hierfür ein Beispiel, beginnt die Geschichte doch mit einer Vitrine in einer Kneipe im französischen Dörfchen Puimoisson. Dort, inmitten der Provence, verbringt die Übersetzerin Amelie Thoma regelmäßig ihre Urlaube und stieß beim Besuch einer Kneipe auf eine Vitrine, wie sie in ihrem Nachwort des Buchs erklärt. In jener Vitrine fanden sich neben den üblichen regionalen Spezialitäten auch die Erzeugnisse eines kleinen Verlagshauses, darunter den Roman Sous le vent von Maria Borrély. Schauplatz des Buches ist ebenjenes Dorf Puimoisson, in dem Thoma nun knappe 100 Jahre nach Erscheinen des Romans auf das Buch stieß – und begeistert war.

Der Grund ihrer Begeisterung ist nun in Thomas Neuübersetzung zu lesen, nachdem die ursprüngliche Übersetzung von Walter Gerull-Kardas im Züricher Scientia-Verlag aus dem Jahr 1939 datiert und in ihrer barocken Gestaltung dem vielschichtigen Ton von Maria Borrély nicht wirklich gerecht wurde, wie Amelie Thoma in ihrem Nachwort erklärt. Die Suche nach einem Verlag, der eine Neuausgabe des Werks wagte, trug in Form des Kanon-Verlags offenkundig Früchte und so gibt es nun eine französische Autorin zu entdecken, die genau auf Natur und Mensch blickt und mit ihrem Schreiben als eine der Vorreiterin der aktuell so boomenden Gattung des Nature Writing gelesen werden kann.

Le vent nous portera

Maria Borrély - Mistral (Cover)

Schauplatz des Romans von Maria Borrély ist die Region Haute-Provence in ihrer ganzen Fülle. Dort, auf und am Fuße des Plateaus gibt es den ganzen Reichtum zu entdecken, die die Natur so spendet. Mandelernte, später im Jahr der blühende Lavendel, Quitten, Salbei, Korn und dichte Wälder. Es ist nahezu ein Paradies, kostet den Menschen aber auch entbehrungsreiche Arbeit.

Die Umwelt gibt den Takt vor, nach dem die Menschen im kleinen Dörfchen hier leben. Gemeinsam trifft man sich abends im Schein der Lampe, um Mandeln zu pulen, während der Mistral ums Haus weht. Gemeinsam werden die Acker geeggt und besät. Man folgt dem Rhythmus der Natur, dem Werden und Vergehen, während die die verschiedenen Winde vom Plateau herab wehen und durch die verlassenen Viertel des Dorfs streichen.

Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen. […].

Die dichten, glänzenden Halme kommen ihm vor wie das volle Haar der drallen Erde. Den Falten des Geländes folgend, sind sie herrlich goldbraun gereift. Wo die Bäume ihnen Schatten geben, ist die Farbe weniger intensiv. An manchen Stellen sinken sie in schweren Bündeln um, als hätten sie einen Sonnenstich.

Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen.

Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen.

Maria Borrély – Mistral, S. 53

Frühlings Erwachen

Während neben der Natur als Hauptdarstellerin mehr oder weniger das ganze Dorf das menschliche Personal des Romans bildet, schält sich bald die junge Marie als Ankerpunkt des auktorial erzählten Geschehens heraus. Sie spürt nicht nur die Kräfte der Natur im Frühjahr erwachen – auch in ihr wirken die Kräfte der Natur und lassen die Sehnsucht und das Begehren erwachen. Ziel von Maries Leidenschaft ist der junge Müllersknecht Olivier Roure, der ihr den Kopf verdreht hat und den sie im Lauf des Frühlings und Sommers zunehmend begehrt.

Als sie im oberen Viertel herauskommt, sieht sie Olivier auf dem Karren und ist auf einmal atemloser als eben noch, während sie die steile Straße hinaufeilt.

Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünscht, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.

Unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Brüste ab wie zwei aufragende Wogen. Die runde Hüfte wiegt sich, schwingt. Die Blöße des schönen, erblühten Körpers strömt über, strahlt durch die schlichte Baumwolle, die an den kraftvollen Gliedern klebt, wie Licht durch einen Lampenschirm.

Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.

Maria Borrély – Mistral, S. 60

Die Kräfte der Natur walten auch in diesen beiden jungen Menschen. Und doch kann es, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, nichts werden, mögen auch Sinn und Sinnlichkeit noch so stark für die beiden jungen Menschen sprechen.

Alles andere als Kitsch

Man könnte es sich nun leichtmachen mit Maria Borrélys Roman und ihn des übermäßigen Pathos und Kitsch zeihen. Doch das wäre falsch, auch wenn es einem Sätze wie „Ihr Herz ist ein blühendes Feld, das nach Hoffnung duftet“ natürlich einfach machen.

Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Borrélys Buch ist unglaublich stimmig in der Art und Weise, wie sie Natur und Herz, Gefühl und Jahreszeiten hier zusammenbringt. Die knospende Natur, die auch in Marie waltet, die Kälte und Düsternis, die im Winter auf die junge Frau übergreift – hier schreibt eine Autorin mit einem tiefen Verständnis von Mensch und Natur, obschon man manches Sprachbild hundert Jahre später auch aufgrund wirklicher Kitsch-Autor*innen seither als abgegriffen empfinden mag.

Wie sie die Gegend dort in der Provence aber in hellen Farben schildert, wie sie den bäuerlichen Rhythmus und das Tagwerk, die versuchte Domestizierung von Äckern und Wäldern beschreibt, wie auf jeder Seite das Auge der Autorin für Ökologie durchscheint, das macht Maria Borrély in meinen Augen zu einer der frühen Vorreiterinnen der heute so boomenden Gattung des Nature Writing mit einer schon fast impressionistischen Sprachkraft, die Amelie Thoma im Deutschen nun erlebbar macht:

Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen.

Die Sonne sticht vom Himmel.

Manch einer ist noch am Dreschen.

Rund um die Stangen wächst kegelförmig der Haufen aus Körnern und Spreu. Ansonsten ist der Platz gefegt, das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt.

Maria Borrély – Mistral (S. 54)

Ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt

Sie erzählt vom Jahreskreislauf und findet immer wieder kraftvolle Metaphern, die man aus heutiger Sicht natürlich leicht als Kitsch abtuen kann, aber dabei außer Acht lässt, wie geschickt sie Natur und Sehnen verbindet.

Mistral ist ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt, die auf den ganzen 113 Seiten fast mit den Händen zu greifen ist. Zudem setzt Borrély in vielen Szenen auch auf eine großartig inszenierte Uneindeutigkeit in den Szenen, die verschiedene Lesarten erlaubt (unter anderem in der großartigen Schlussszene), und findet (auch vor allem dank ihrer Übersetzerin Thoma) Sprachbilder, die in ihrer Originalität überzeugen und bei einem bleiben, wie etwa dieses: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge“.

So bleibt nach der Lektüre der Eindruck, hier einer wirklich Wiederentdeckung beigewohnt zu haben, deren Alter von fast hundert Jahren man auch dank Amelie Thomas Neuübersetzung kaum merkt. Schön, dass die weiteren Romane dieser hochinteressanten Autorin mit ihrer Prosa, deren „Reichtum an Farben, (…) eigentümlicher Klang, (…)unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge“ auch Andre Gide rühmte, der Borrélys Werk begutachtete und zur Veröffentlichung im renommierten Gallimard-Verlagshaus empfahl, demnächst im Kanon-Verlag erscheinen sollen!

Fazit

Das Werden und das Vergehen, die Kraft der erwachenden Natur, die auch Marie spürt, die Sinnlichkeit, die das Begehren und das ganze Leben dort am Fuße des Plateaus hat, all das fasst die 1890 in Marseille geborene und später als Dorflehrerin in der Provence lebende und lehrende Autorin konzise zusammen. Natur und Mensch, Gefühl und Jahreszeiten, alles verbindet sich in Mistral auf großartige Weise, gekleidet in eine Sprache, die an vielen Stellen an Impressionismus erinnert, und in der die Sinnlichkeit einen großen Platz einnimmt.

Eine großartige Entdeckung, die Amelie Thoma hier gemacht und gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Diese Wiederentdeckung ist der beste Beweis, dass es sich auch im Urlaub mal lohnen kann, das literarische Angebot vor Ort mal genauer in Augenschein zu nehmen.


  • Maria Borrély – Mistral
  • Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-069-6 (Kanon)
  • 127 Seiten. Preis: 20,00 €
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Robert Menasse – Die Erweiterung

Nach Die Hauptstadt folgt Die Erweiterung. Sechs Jahre nach dem Erscheinen seines gefeierten und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten EU-Romans wagt sich Robert Menasse nun an die Fortschreibung seiner Version der Europäischen Union. Kann das gelingen?


Sechs Jahre sind eigentlich keine allzu lange Zeit. Blickt man allerdings auf die Europäische Union und ihre Entwicklung seit dem Jahr 2017, als Robert Menasses Die Hauptstadt erschien, so kommt es einemdiese Zeitspanne doch eher wie ein Jahrzehnt oder noch deutlich länger vor.

Endlose Diskussionen rund um den Brexit und das finale Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, der Rechtsdrift Polens und Ungarns mitsamt bedenklicher verfassungsrechtlicher Entwicklungen, Diskussionen um illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen, eine EU-Wahl mit zwei Spitzenkandidaten für Vorsitz der EU-Kommission, von denen anschließend keiner gewählt wurde, um lieber in bester Hinterzimmermanier eine deutsche Präsidentin zu installieren, die gar nicht auf dem Wahlzettel stand. Das Erstarken der rechten Kräfte in vielen Ländern, endlose Gipfel mit viel Streit um Themen wie Klimaschutz, Migration und Co. und wenig Ergebnissen sowie fehlende Zukunftsvisionen und Ideen für eine Entwicklung des europäischen Staatenverbundes. Kraftlos angesichts vieler Entwicklungen im Inneren und Äußeren, wenn nicht schon ganz abgehängt, so wirkt die EU dieser Tage.

Umso spannender die Frage, wie Robert Menasse als Verfechter der EU und ihrer Institutionen nun sechs Jahr seit seinem letzten Roman diese Entwicklungen aufgreifen würde und wie sein literarischer Kommentar auf den aktuellen Zustand ausfallen würde.

Albanien in die EU?

Ziemlich lang, überfrachtet und nicht wirklich stringent, so die Erkenntnis nach der Lektüre von Die Erweiterung. Dabei setzt Robert Menasse wie schon im ersten Band seiner EU-Saga auf das Stilmittel des Ensembleromans, um seine Geschichte(n) zu erzählen. Sogar der Auftakt seines neuen Romans kopiert die Monatetechnik des EU-Erstlings. War es damals ein Schwein, das durch Brüssel rannte, so bringt diesmal der Helm des Skanderbeg verschiedene Menschen im Kunsthistorischen Museum in Wien zusammen.

Dieser aus Albanien stammende Kopfschmuck ist es dann auch, der im Folgenden eine zentrale Rolle spielt und der für viel Verwirrung sorgt. Auslöser des Ganzen sind die Pläne der EU, die über Beitrittsgespräche mit Albanien grübelt. Soll man das Land in den europäischen Staatenverbund dazu holen? Keine leichte Frage, über die dann natürlich auch diverse Diplomaten und Technokraten auf verschiedensten EU-Ebenen grübeln müssen und die sich in Gestalt des Diplomaten Karl Auer auch selbst ein Bild der Lage vor Ort machen.

Keine Ahnung. Überhaupt: Tausende Touristen. Das hatte ihn schon in Saranda erstaunt. Wieso war dieses Land so überlaufen, von Touristen aus aller Welt, während es doch das Image hatte, ein schwarzes Loch mitten in Europa zu sein, terra incognita, nach Jahrzehnten der Abschottung völlig unbekannt, und kein Mensch hatte einen Vorstellung, eine Ahnung, und wenn, dann dachte man an Mittelalter oder an Schrullen, wie die Tausenden kleinen Bunker, die ein verrückter Diktator hatte errichten lassen, aber wenn man das erwähnte, galt man schon als Albanien-Spezialist … Es war so rätselhaft wie ermüdend.

Robert Menasse – Die Erweiterung, S. 51

Währenddessen treiben der ehemalige Basketballspieler und jetzige albanische Ministerpräsident Zoti Kryeministër als ZK und sein Einflüsterer, der poetisch veranlagte Fate Vasa, ihre Mission voran. Nach dem Veto Frankreichs gegen EU-Beitrittsverhandlungen wollen sie die EU zu Verhandlungen zwingen. Ihre Idee dahinter – ein potentielles albanisches Großreich als Schreckensvision, das die Verhandlungspartner an den Tisch zwingen soll. Zentrales Machtinstrument in ihrem Plan der Versammlung aller albanischen und albanisch-stämmigen Menschen ist dabei der Helm des Skanderbeg, der seinen Träger als Anführer aller Albanier*innen legitimiert.

Der Helm des Skanderbeg

In der Folge entspinnt sich ein groteskes Verwirrspiel um den Originalhelm und dessen Diebstahl aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, eine von einem Schmied in Tirana angefertigte Kopie des Helms, den Ministerpräsidenten und seinen listigen Einflüsterer auf der einen und die EU-Bürokraten auf der anderen Seite.

Robert Menasse - Die Erweiterung (Cover)

Jene Bürokraten sehen sich zudem an vielen anderen Fronten gefordert. Adam Prawdower, der als Adviser Western Balkans Strategy bei der EU beschäftig ist, stammt aus Polen und ist über die Entwicklung des Landes unter Führung seines Jugendfreundes und Solidarnosc-Gefährten Mateusz hin zu einem autoritären Staat zunehmend beunruhigt. Karl Auer von der Abteilung D.4 Albanien, Bosnien und Herzegowina verliebt sich in die albanische Diplomatin mit dem sprechenden Namen Baia Muniq. Um diese Personen herum gruppiert Menasse noch österreichische Kommissare, albanische Ex-Journalisten und schlussendlich sticht das gesamte Ensemble auf den letzten hundert Seiten dieses mit 650 Seiten wirklich voluminösen Romans dann auch noch in See, an Bord des Staatsschiffs SS Skanderbeg.

Robert Menasse hat sich viel vorgenommen für seinen Roman. So greift er Entwicklungen aus den letzten Jahren mal mehr und mal weniger deutlich auf. Die schleichende Radikalisierung Polens ist bei ihm ein zentrales Thema, die anderen Themen wie der Brexit tauchen nur als kleiner Running Gag auf, etwa wenn der zum Iren gewordene David Charlton des Öfteren als Brite geschmäht wird, woraufhin er sich mit einem Hinweis auf seine irische Nationalität rechtfertigt.

Die Erweiterung des Kosmos von Robert Menasse

Nicht nur in der Montagetechnik dieses Ensembleromans knüpft Die Erweiterung an Die Hauptstadt an. Auch tauchen immer wieder kleine Verweise in Form von Motiven wie einem Schwein, Senf oder den nicht-funktionalen Kaminen in Brüssel auf. All das ist schön gelöst und steht in Tradition von Menasses erstem EU-Roman.

Und doch leidet das Buch unter einer Unwucht und mangelndem erzählerischen Fokus. Immer wieder verliert sich Menasse in Passagen wie etwa der über ein konsequent fehlerhaft befülltes Kreuzworträtsel oder biographische Exkurse etwa über einen namentlichen Doppelgänger Siegfried Lenzens oder die Frage um den Verbleib der SS-Standarte Skanderberg.

Neben solch kleinen den Lesefluss hemmenden Exkursen ist aber auch der große Plot wenig ausbalanciert. So stellt zwar der Klappentext den Konflikt zwischen Mateusz und Adam über das Schicksal Polens in den Mittelpunkt, tatsächlich spielt der Roman aber zum überwiegenden Teil in Albanien und ist eher auf die Beitrittsverhandlungen und deren strategischen Volten denn den polnischen Rechtsdrift fokussiert.

Eine Einführung in die Landeskunde Albaniens

An vielen Stellen wirkt Die Erweiterung wie eine Einführung in Sachen Landeskunde Albaniens. Dieses Land, das man wohl noch am ehesten für das Wüten des Diktator Enver Hoxhas oder als Herkunftsland von Mutter Teresa kennt, Robert Menasse für in seine wechselvolle Geschichte in aller Tiefe ein und beschert dabei viele neue Erkenntnisse, vom Rohstoffreichtum des Landes bis hin zu seiner muslimischen Prägung.

Aber zwischen EU-Beitrittsverhandlungen, dem schon manchmal an Slapstick erinnernden Hin und Her um den Helm des Skanderbeg und das abschließende Chaos auf der Jungfernfahrt des Staatsschiffs, das entgegen der Buchaufmachung einen deutlich geringeren Teil als angenommen einnimmt, mag sich einfach kein Gefühl eines runden Plots und einer stringenten Erzählentwicklung einstellen.

Zwar ist die Schlusspointe und die Metapher des Schiffs ganz grandios (inklusive eines Schiffsarzt, der natürlich, wie könnte es anders sein, auf den Namen Schumann hört), die vorherige erzählerische Unwucht und überbordende Detailfülle kann das aber leider auch nicht gänzlich retten.

Fazit

So gelingt es Robert Menasse in meinen Augen leider nicht wirklich, an seinen grandiosen ersten EU-Roman Die Hauptstadt anzuknüpfen. Allzu viele Themen mag er in seinem Roman verhandeln. Themen, zwischen denen sich keine rechte Balance findet und die in ihrer Fülle neben zu vielen erzählerischen Exkursen leider ein Gefühl der Unwucht und mangelnden gestalterischen Orientierung ergeben. Schade drum – aber als Einführung in die wechselvolle Geschichte Albaniens immerhin großartig!

Andere Meinungen gibt es unter anderem bei SWR und dem Deutschlandfunk.


  • Robert Menasse – Die Erweiterung
  • ISBN 978-3-518-43080-4 (Suhrkamp)
  • 653 Seiten. Preis: 28,00 €
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Gina Schad – Nach einem Traum

Wird das was oder wird es nichts? Die junge Marie verliebt sich in Simon, doch der hat eine Familie und macht ihr nicht wirklich Hoffnung auf mehr. In der Folge entspinnt sich in Gina Schads Debütroman Nach einem Traum ein ambivalentes Verhältnis der beiden, das sich auch im Digitalen fortsetzt.


Zu den auffälligen Trends auf dem Literaturmarkt in diesem Frühjahr zählt die Häufung junger Debütautorinnen, die mit ihren Romanen die Lebenswelt der Millenials ausleuchten und vom Ver- und Entlieben aus weiblicher Perspektive bisweilen auch radikal erzählen.

Esther Schüttpelz wäre zu nennen, die in ihrem Debüt Ohne mich die Geschichte einer jungen Frau beschreibt, die jung heiratete und nun nach der Trennung ihr erstes Jahr als Single erlebt. Caroline Schmitt erzählt in ihrem Debüt Liebewesen von der jungen Mariam, deren Liebe von einem Tinder-Date ausgehend über ein Date in der Badewanne bis hin zu einer Abtreibung alle Facetten einer Liebesgeschichte und Trennung reicht.

Caroline Wahl nimmt in 22 Bahnen die junge Tilda in den Blick, die für ihre Mutter und ihre Schwester verantwortlich ist und für die eine mögliche Promotion in Berlin und die Begegnung mit einem jungen Mann im Schwimmbad Aufbruch aus dem bisherigen Leben verheißt. Und auch Gina Schad fügt sich mit ihrem Debüt Nach einem Traum in diese Riege junger Debütantinnen ein.

Schad ist studierte Medienwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit Netzkultur. Das zeigt sich nicht nur auch auf dem Umschlag des Buchs, auf dem Marcus Beckedahl, der Gründer von netzpolitik.org, mit einem Blurb abgedruckt ist. Auch im Inneren des Buchs spielen Chats und eine App eine zentrale Rolle.

Ein Date im Café nahe der Charité

Doch zunächst beginnt auch in ihrem Roman alles eigentlich recht klassisch. Marie trifft sich mit Simon in einem Café unweit der Berliner Charité. Dort ist er als Belegarzt tätig und hat eine eigene Hausarztpraxis. Nach einem kurzen Abtasten und Smalltalk stellen sie fest, dass sie gut miteinander harmonieren und da durchaus mehr entstehen könnte. Zwar schreckt sie die Mitteilung, dass Simon Zwillinge hat und in einer festen Verbindung steckt etwas ab, aber dennoch beschließen sie, in Kontakt zu bleiben.

Das verstehst du doch hoffentlich, fährt er fort. Wir können uns nicht mehr treffen. Das ist zu gefährlich. Eine kleine Unachtsamkeit in deiner Nähe reicht schon aus, um meine Familie zu zerstören. Aber ich will auf jeden Fall weiter mit dir schreiben! Und darf ich dir noch eine App auf dein Handy laden? Lass uns doch bitte darüber kommunizieren. Das ist sicherer.

Gina Schad – Nach einem Traum, S. 27

Nach dem Date dort in der Charité beginnen die beiden mit ihrer Konversation. Marie teilt ihre Gedanken aus dem Alltag – Schwierigkeiten mit ihrer Mutter, ausstehende Abschlusskonzerte für die Beendigung des Cello-Studiums -, er erzählt von seinem Alltag mit Frau und Kindern. Beide schleichen umeinander herum, man möchte sich wieder sehen, doch das geht nur unter Schwierigkeiten. Marie möchte mehr als nur Küsse – doch Simon kann und will ihr das nicht geben.

Annäherungen und Abstoßungen, digital und manchmal real

In den Chats nähern sie sich an, suchen nach Pausen, stoßen sich wechselseitig an und ab, treffen sich wieder mal kurz real in Berlin oder am Flughafen – eine wirkliche Entwicklung hin zu einem klaren Verhältnis der beiden ist aber nicht absehbar. Marie möchte unbedingt mehr, kreist in ihren Gedanken und ihrem Verlangen um Simon bis hin zu Fantasien, in das Haus von Simons Familie einzusteigen.

Gina Schad - Nach einem Traum (Cover)

Er lockt, macht dann aber auch wieder schmerzhaft klar, dass sie weiter nichts von ihm erwarten kann und die Turteleien enden müssen. Das ambivalente Verhalten der beiden arbeitet Gina Schad im Laufe des Romans sehr gut heraus. Sehnsucht, Begehren an der Grenze zum Stalking, dann aber auch wieder der Versuch der Ablenkung und der Besinnung. Das Überinterpretieren von Bildern, ausbleibenden Nachrichten oder unachtsamen Sätzen, die jeweils passend zur Gemütslage ausgelegt werden oder schlimmste Befürchtungen wecken können. Davon erzählt Nach einem Traum und zeigt dazu in Ansätzen, wie uns die digitalen Medien selbst zu Stalkern light gemacht haben.

Da kann man schon einmal die Gattin des Angebeteten recherchieren, ihre Werke und das im Digitalen abgebildete Familienleben studieren, intime Wünsche via App austauschen oder mit Likes von Bildern dem Gegenüber seine Aufmerksamkeit und dessen Sichtbarkeit demonstrieren. Nach einem Traum zeigt, welche neuen Möglichkeiten uns die digitalen Welten eröffnen, wie das Ganze aber auch in Überwachung und Spionage kippen kann und man aus einem Stalker light schnell zu einem „richtigen“ Stalker werden kann.

Ein ambivalentes Verhältnis

Hier wie auch in der Darstellunge des ambivalenten Verhältnisses der beiden Protagonist*innen hätte Schads Debütroman in meinen Augen noch etwas Tiefe verdient. So fliegt man dank der schnellen Chat-Einsprengsel und kurzen Kapitel rasch durch den Roman – ein wenig mehr Widerhaken in Form von krasserem Verhalten der Beteiligten oder der Mut, die anfängliche Liebesgeschichte noch etwas mehr abgleiten zu lassen hätten dem Text vielleicht gut getan und ihm ein paar mehr erinnerungswürdigere Momente beschert.

Abgesehen davon ist Nach einem Traum ein Roman, der das Hoffen und Bangen, Recherchemöglichkeiten, die uns der digitale Raum ermöglicht, sowie das Abgleiten von unerfüllten Sehnsüchten in übergriffiges Verhalten beschreibt. Viele Leser*innen dürften sich und ihr Datingverhalten in Gina Schads Beschreibungen widergespiegelt sehen – und auch ich kann das nicht verneinen.

Fazit

Vom Daten im Digitalen, von enttäuschten Hoffnungen und Selbsttäuschung, vom Warten auf den nächsten Chat oder ein Like, davon erzählt Nach einem Traum, was ihn zu einem sehr aktuellen und zeitgeistigen Buch der Generation Y macht. Damit schreibt sich Gina Schad in die eingangs erwähnte Riege junger Debütantinnen ein und legt ein schwebendes Buch vor, das viele Sichtweisen und Interpretationen zulässt.


  • Gina Schad – Nach einem Traum
  • ISBN 978-3-8337-4612-3 (Goya Lit)
  • 226 Seiten. Preis: 22,00 €

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Steffen Schroeder – Planck

oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Max Planck dürfte man vielleicht noch aus dem Physikunterricht oder als Namenspate der gleichnamigen Gesellschaft kennen, die Institute für physikalische Forschungen betreibt. Welche Dramatik sein Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs barg, unter anderem davon erzählt Steffen Schroeder in seiner Geschichtsstunde Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor eindrucksvoll.


An der Musik kann man sich aufrichten, hat er seinen Kindern immer erklärt. Und an der Physik. Das mit der Musik haben sie sofort verstanden. Aber was er so liebt an der Physik, hat ihn Erwin als Kind einmal gefragt.

„Die Physik“, hat er geantwortet, „versucht, uns die Welt zu erklären. Was kann es Schöneres und Beruhigenderes geben?“

Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor, S. 308

Doch was ist, wenn die unumstößlichen Grundsätze und Regeln der Physik plötzlich nicht mehr zu gelten scheinen? Wenn sich sicher geglaubte Gewissheiten auflösen, die Rationalität nicht mehr zu greifen scheint und ein ganzes Land verrückt geworden zu sein scheint? Dem spürt Steffen Schroeder in seinem Roman nach, in dem er eine ganze Reihe von Naturwissenschaftler*innen zur Zeit des Nationalsozialismus porträtiert und zeigt, wie sich der Verlust von Sicherheit und Gewissheiten auf sie auswirkt.

Die Physiker

Dabei bildet Max Planck als Titelheld den Hauptpart in Schroeders Geschichtsstunde. Beginnend im Oktober 1944 zeigt er den Nobelpreisträger im Exil. Nach den Bombenangriffen ist er zusammen mit seiner Frau Marga aufs Land nach Rogätz an der Elbe geflohen. Die Nazis erwarten sich von ihm als herausragenden Forscher ein öffentliches Bekenntnis zum Führer, doch Planck kann und will ihnen dieses Bekenntnis nicht geben.

Steffen Schroeder - Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor (Cover)

Ihn treibt der Gedanke um seinen Sohn Erwin um, der im Gefängnis in Berlin Tegel sitzt und seiner Hinrichtung harrt. Dieser hatte sich im Kreis der Verschwörer rund um Carl Friedrich Goerdeler engagiert und schon früh vor den Kriegsplänen Hitlers gewarnt. Als Intimus des früheren Reichskanzlers Kurt von Schleicher war Planck bei den Nazis eh schon nicht wohlgelitten und wurde unter Vorsitz von Roland Freisler vor dem „Volksgerichtshof“ schließlich zum Tode verurteilt.

Planck will seine Kontakte nutzen, um das Todesurteil gegen seinen Sohn in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Währenddessen ist es Erwin Plancks Frau Nelly, die in der Charité unter Wilhelm Sauerbruch unermüdlich Kranke und Verletzte operiert und versorgt. Und auch in der neutralen Schweiz im sogenannten Burghölzli kümmert man sich in diesen letzten Tagen des Jahres 1944 um Versehrte – hierbei handelt es sich aber am psychisch beeinträchtigte Patient*innen, die dort in der heute unter dem Namen Psychiatrische Universitätsklinik Zürich bekannten Klinik mit teils drastischen Methoden „therapiert“ werden. Einer der Patienten: Eduard Einstein, Sohn des weltberühmten Physikers und Vater der Relativitätstheorie, der derweil in Princeton im Exil lebt und einst von Max Planck entdeckt wurde.

Widersprüche und der Verlust von Gewissheit

Um dieses Figurenensemble herum gruppiert Steffen Schroeder seine Erzählung, die die teils widersprüchlichen Figuren eindrucksvoll in Szene setzt. Einstein, der sich von seinen Frauen schnell eingeengt fühlt und in Affären stürzt und trotz aller physikalischen Hellsichtigkeit privat doch bemerkenswert verblendet ist, Sauerbruch, der als hochdekorierter Arzt von Berlin aus ins unterfränkische Amorbach reist und dabei die SS-Schergen am Wegesrand stehen lässt, Planck, dem aller Ruhm nicht nützt, um seinen Sohn aus der Haft der Nazis zu befreien und der sich zudem weigert, an der Entwicklung der „Deutschen Physik“ mitzuwirken.

Steffen Schroeders Buch ist pointiert in seiner Darstellung dieser Physiker, obschon sein Buch nicht davor gefeit ist, in manchen Erklärpassagen etwas zu theoretisch zu werden, etwa wenn er die Hintergründe zur Entdeckung der Röntgenstrahlen oder den Ebert’schen Badehosenskandal noch einmal nacherzählt.

Solche Wikipedia-artigen Exkurse bleiben aber in der Minderheit, weil sich Schroeder neben seinem Panoptikum der Physiker*innen von Lise Meitner bis zu Otto Hahn eben auch auf die Brüche im Leben seiner Hauptfiguren konzentriert. Die Verluste sämtlicher Gewissheiten und den krassen Widerspruch der Verlässlichkeit physischer Regeln und dem erratischen Treiben in den letzten Monaten des Kriegs, Steffen Schroeder arbeitet all das wunderbar heraus – vielleicht auch bedingt durch die eigene biografische Nähe zum Objekt seines Schreibens. Denn der Autor ist entfernt mit Max Planck verwandt und hat für seinen Roman viele zum Teil unbekannte Korrespondenzen und Schriftstücke des Physiknobelpreisträger gehoben und gesichtet.

So entsteht ein Buch, das neben viel Geschichtsstunde und Naturkunde eben auch Raum für die Dramen des Lebens lässt. Wie sich Erwin Planck noch einmal hinausträumt in die Welt, wie Einstein die Verfehlungen seines Lebens räsoniert oder Planck senior Rückschau auf Erreichtes und Verpasstes hält, das ist ausnehmend gut gemacht und geht nahe, ohne auf die emotionale Tränendrüse zu drücken.

Fazit

Steffen Schröder erzählt souverän und hochinteressant vom Verlust der Gewissheiten, vom Widerspruch physikalischer Sicherheiten und erlebtem Chaos und von Fehlern, vor denen nicht einmal ein Nobelpreis bewahren kann. All das verdichtet er auf die letzten Monate des Kriegs, wobei durch die Fokussierung auf sein Ensemble aus Figuren zu keinem Zeitpunkt Langeweile entsteht. Eine packende Geschichtsstunde, die die Zeit von Oktober 1944 bis zum Sieg der Alliierten in den persönlichen Biografien und Schicksalschlägen von Schroeders Naturwissenschaftler*innen noch einmal nacherlebbar werden lässt.


  • Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 174367
  • 320 Seiten. Preis: 21,00 €
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Flynn Berry – Northern Spy

Zwei Schwestern im Nordirlandkonflikt, verstrickt in ein Geflecht aus Spionage, Angst und Gewalt. Davon erzählt die Amerikanerin Flynn Berry in ihrem Thriller Northern Spy. Leider nur so halbwegs überzeugend.


Das Thema des Nordirland-Konflikts ist eines, das auch über das Karfreitagsabkommen von 1998 hinaus die Menschen in Irland und Nordirland beschäftigt. Jüngst wurde im Rahmen des Brexit-Abkommens das Nordirland-Protokoll verhandelt, das dem besonderen Status der Insel Rechnung trägt. Ein Teil dem Vereinigten Königreich zugehörig, der andere unabhängig. Der eine Teil katholisch, der andere protestantisch. Diese Demarkationslinie ist bis heute auf der Landkarte sichtbar und in den Köpfen der Menschen tief eingegraben.

Mag die Hochzeit der Troubles zwar vorbei sein – zur Ruhe gefunden hat Irland allerdings noch lange nicht. Das zeigt auch die Amerikanerin Flynn Berry in ihrem Roman Northern Spy, der in Belfast angesiedelt ist.

Eine Schwester auf Abwegen

Dort arbeitet Tessa als Polit-Redakteurin für die BBC, für die sie Politiker*innen für Interviews anfragt und diese dann vorbereitet und ihren Kolleg*innen zuarbeitet. Privat ist sie vor allem mit der Betreuung und Erziehung ihres Sohnes Finn befasst, den sie so gut wie alleinerziehend versorgt.

Flynn Berry - Northern Spy (Cover)

Ihr überschaubares Leben gerät durch eine Fernsehmeldung allerdings schon bald gehörig aus dem Takt. Denn darin taucht ihre Schwester Marian auf, die sie eigentlich beim Schwimmen glaubte. Zusammen mit anderen Angehörigen der IRA soll sie eine Tankstelle überfallen haben.

Tessa kann diese Radikalisierung ihrer Schwester nicht wirklich glauben, schließlich ist diese in Belfast als Rettungssanitäterin aktiv und hat nie Anzeichen für politisches Engagement erkennen lassen. Warum also soll sie plötzlich in einen Überfall der Irischen Unabhängigkeitsbewegung verwickelt sein?

Bei ihrer Suche nach der Wahrheit hinter der IRA-Nähe ihrer Schwester gerät Tessa in ein verhängnisvolles Gespinst aus Spionage, Angst und Gewalt, scheint die nordirische Provinz doch nach wie vor nicht zur Ruhe zu kommen.

Etwas aus der Zeit gefallen

Wenn man Flynn Berrys Roman so liest, dann könnte man wirklich glauben, dass seit dem Bloody Sunday zur Hochzeit des Terrorismus kein Tag in Nordirland verstrichen ist. Hier werden Tankstellen überfallen, fliegen Häuser in die Luft, werden Waffendepots ausgegraben und leben alle dermaßen in Angst, dass der IRA-Terror immer noch auf dem Höhepunkt scheint.

Dass die Lage aktuell weitaus entspannter ist, man Belfast und Nordirland sehr gut besuchen kann und es zwar von Zeit zu Zeit zu punktueller Gewalt kommt, aber keinesfalls so flächendeckend, wie dies Flynn Berry glauben machen will, das sorgte bei mir Befremden. Auch die vielen eigenwilligen Fiktionen wie Soldaten an der nordirischen Grenze und ein Übertritt ebendieser, gegen den die Einreise in die DDR zur Zeit des Kalten Kriegs wie ein Spaziergang wirkt, das wirkt doch, als sei die Fantasie am heimischen Schreibtisch etwas mit ihr durchgegangen.

Generell würde ich in Abrede stellen, dass sich Flynn Berry als Amerikanerin abseits von Allgemeinplätzen und der Lektüre ein paar alter Artikel besonders eingehend mit der Situation vor Ort in Nordirland beschäftigt hat. Das fällt insbesondere auf, wenn man die Literatur von „echten“ nordirischen Schriftsteller*innen zum Vergleich heranzieht, gegen die Flynn Berry haushoch verliert.

So schrieb Anna Burns mit Milchmann eine eindringliche Parabel über weibliches Aufwachsen in einer von Gewalt dominierten Welt, das auch aufgrund von Burns eigenem Hintergrund als wenig chiffrierte Erzählung über das Aufwachsen in Nordirland während des Bürgerkriegs gelesen wurde. Adrian McKinty zeichnet in seiner Reihe um den katholischen Bullen Sean Duffy ein ebenso eindringliches Bild von Polizeiarbeit, Popkultur und Alltag in Belfast ab dem Höhepunkt der IRA-Gewalt 1981. Während sich Kenneth Branagh im vergangenen Jahr in Belfast filmisch seiner eigenen Kindheit näherte (in der auch die Gewalt und Angst immer präsent war), sind auch in Werken anderer Schriftsteller*innen wie Claire Keegan oder Sebastian Barry diese Erfahrungen immer eingeschrieben, selbst wenn sie nicht explizit erwähnt werden.

Allenfalls literarisches Mittelmaß

Nicht nur in Sachen schriftstellerischer Raffinesse fällt Flynn Berry im Vergleich wirklich deutlich ab. Auch ist diese Gesamtkomposition reichlich flach, die eine der Pointen um die Wahrheit hinter Marians Treiben bei der IRA schon im Titel verrät. Alles hier wirkt eher wie eine nicht wirklich aktuelle Kulisse, vor der zwei nicht wirklich tiefenscharf gezeichnete Frauen um ihr nicht wirklich plausibel geschildertes Seelenheil ringen und dabei Dialoge wie aus einem mittelmäßigen Fernsehkrimi sprechen:

Ich starre meine Schwester an. Ihr Gesicht ist blass und trocken, ihre Lippen sind rissig. „Hast du eine Bombe in St. George’s Market deponiert?“

„Ja.“

„Du hast dabei meinen Sohn im Arm gehalten.“

Marian zieht die Oberlippe zwischen die Zähne. „Ja.“

„Du wirst Finn nie wieder sehen“, sage ich scharf. „Du kommst nicht mal in seine Nähe.“

„Er war nicht in Gefahr. Es…“

„Halt die Klappe.“ Ich bedecke meine Augen mit der Hand und schüttle den Kopf. „Also gut, gehen wir. Wir gehen zur Polizei.“

„Das kann ich nicht, Tessa.“

„Schade.“

Flynn Berry – Northern Spy, S. 128

Von der Nuanciertheit echter, autochthoner nordirischer Krimiliteratur ist das Ganze leider so weit entfernt wie Amerika von der Grünen Insel.

Fazit

Ähnlich wie zuletzt die Naomi Krupitsky zeigt auf Flynn Berry hier zwei Frauen verstrickt in ein System der Gewalt und gefährlichen Loyalitäten. Was bei Krupitsky die Geschichte zweier Freundinnen im Umfeld der amerikanischen Mafia war, ist bei Flynn Berry nun die Welt der IRA, in der sich zwei Schwestern wiederfinden. Und ähnlich wie bei Krupitsky ist auch hier das Ergebnis leider bestenfalls Mittelmaß, wirken beide Bücher doch, als hätten sich die amerikanischen Autorinnen reizvolle Themenfelder ausgesucht, die sie dann aber statt sie in aller Tiefe zu durchdringen lieber vom Schreibtisch mithilfe von etwas oberflächlichen Infos und ohne gesteigerte Milieu- und Ortskenntnis ganz nach ihrer Fantasie ausgestaltet haben.

Für den amerikanischen Massenmarkt mag das genügen (die Washington Post nannte den Roman laut Verlagswerbung einen der besten Spannungsromane des Jahres), für jede*n, der oder die sich auch nur etwas eingehender mit der Geschichte der Troubles und der irischen Literatur selbst befasst, den dürfte dieses Machwerk aber enttäuschen.

Deshalb ist Northern Spy bestenfalls Mittelmaß, in meinen Augen liegt es sogar deutlich darunter. Lieber sollte man zu irischen Originalen greifen, statt mit diesem oberflächlichen Werk seine Zeit zu vertun.


  • Flynn Berry – Northern Spy – Die Jagd
  • Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon
  • ISBN 978-3-7466-3988-8 (Aufbau)
  • 362 Seiten. Preis: 13,00 €
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