Mariette Navarro – Am Grund des Himmels

Endstation Dach. In Mariette Navarros Roman Am Grund des Himmels strandet eine Arbeiterin auf dem Dach ihres Bürogebäudes. Drinnen vermisst sie niemand – aber vermisst sie überhaupt etwas? Einmal mehr schreibt die Französin einen surrealen Roman, der die Arbeitswelt und unser Miteinander in den Blick nimmt – und der doch recht deutlich an den großen Klassiker einer Österreicherin erinnert….


Aus dem Nichts gelang Mariette Navarro und dem herausgebenden Münchner Kunstmann-Verlag im letzten Jahr ein großer Überraschungserfolg mit ihrem Roman Über die See, der von einer ganz besonderen Überfahrt eines Schiffs erzählte. Denn nachdem die Schiffscrew die Kapitänin auf deren Schiff zurückgelassen hat, um eine Schwimmrunde im Ozean einzulegen, kehrt die Besatzung zurück an Bord – hat aber plötzlich ein Mitglied mehr in ihren Reihen. Nicht der einzige surreale Moment der Erzählung, die durch ihre Rätselhaftigkeit viele Leser*innen für sich einnehmen konnte und auch in den sozialen Medien vielfach besprochen wurde.

Mit Am Grund des Himmels liegt nun der zweite Roman der 1980 geborenen Autorin vor, der abermals von Sophie Beese aus dem Französischen übersetzt wurde. Diesmal wendet sich Mariette Navarro der Lebenswelt Büro zu und erzählt schwebend von modernen Arbeitsbedingung und der Vereinzelung am Arbeitsplatz, in der das Individuum trotz seiner Einbindung in komplexe Jobhierarchien und Teamstrukturen so alleine ist wie wohl noch nie zuvor.

Eine Frau auf dem Bürodach

Mariette Navarro - Am Grund des Himmels (Cover)

Ausgangspunkt ist wieder eine dieser ungewöhnlichen Navarro-Ideen. Nach dem Schiff mit seinen ganz eigenen Regeln ist es nun eine Büroangestellte, die der Versuchung einer offenen Dachklappe im Bürogebäude nicht widerstehen konnte. Sie hat sich auf das Dach begeben, doch nun lässt sich die vormals offene Klappe nicht mehr schließen. Und so betrachtet Navarros Heldin Claire das Leben von ganz oben, blickt auf die über sie hinwegziehenden Wolken und Vogelschwärme und bastelt sich aus den übriggebliebenen Folien auf dem Dach eine schützende Hülle, um die Nacht dort oben auf dem Dach zu verbringen, da sie im Gebäude selbst niemand vermisst.

Sie wird sich ihrer eigenen Absonderung und Vereinzelung bewusst, während die Gedanken um sie kreisen wie die Vögel, die den Himmel über ihr Durchpflügen. Der Alltag im Büro, ihre schrittweise Entkapselung von ihrem Tun dort und die unsichtbaren Barrieren sind Thema in ihren Gedanken, die Mariette Navarro auf uns einprasseln lässt.

Eine Frau in Isolation

Dabei weckt die Erzählung über die von allen geschiedene Frau durchaus Erinnerungen an Marlene Haushofers großen Klassiker Die Wand, bei der sich eine Frau ähnlich abgekoppelt von der übrigen Welt wiederfindet. Und auch in Navarros Text ist die unsichtbare Wand ein Thema.

Es stimmt nicht ganz, dass die Mauern, gegen die ich stieß, unsichtbar waren. Manchmal konnte ich sehen, wie sich eine Glasscheibe bildete: Trüb wie eine dünne Eisschicht, kroch sie in mein Sichtfeld und breitete sich dann als einfarbige Fläche vor meinem Gesicht aus. Ich dachte in dem Moment nur, meine Augen wären müde. Oft holte ich dann meine Brille aus der Tasche und putzte sie schnell, aber das änderte nichts. Irgendetwas stimmte nicht. Dann erst wurde mir klar, dass da eine Glasscheibe war, ich prüfte ihre Dicke – ungefähr ein Zentimeter –, ein Rechteck auf Augenhöhe, in dem ich mein Spiegelbild sah, offener Mund, konzentrierter Blick. Ich versuchte mit aller Kraft diese halb transparente Schicht zu durchblicken. Durch das Glas hindurch starrte ich auf den, der weiterredete, lachte und so tat, als hätte er diesen verletzenden Satz gerade eben nicht gesagt, diese noch nicht einmal bewusst geäußerte verächtliche Bemerkung, und ich ließ ihn mir von oben herab Dinge erklären, die ich schon wusste.

Mariette Navarro – Am Grund des Himmels, S. 44

Diese Gedanken und Bewusstseinsströme kontrastiert Mariette Navarro mit einer zweiten Erzählinstanz, einem chorischen Wir bei dem es sich um ein Kollektiv von Claires Kolleg*innen handelt, das im Gegensatz zu Claire in der Büroarbeit seine Sinnerfüllung findet und das damit die Dichotomie von Claire als isolierte Einzelkämpferin und dem arbeitsamen Wir bildet. Immer wieder wechselt Navarro im Lauf des Texts zwischen diesen beiden Instanzen hin und her und verstärkt so den Eindruck des unverstandenen Gegeneinanders.

Viele mögliche Lesarten

Am Grund des Himmels ist trotz dieser nun konkret nacherzählten Motive und Spurenlagen sehr deutungsoffen. Worum geht es in Mariette Navarros Roman?

Reflexion über die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt? Betrachtungen der sozialen Dynamiken und Ausgrenzungen in Bürogemeinschaften? Hinterfragung der Sinnhaftigkeit moderner Erwerbsarbeit oder eine Bebilderung der These des Soziologen Andreas Reckwitz‘ von der Gesellschaft der Singularitäten? Am Grunde des Himmels ist sehr offen, was eine eigene Deutung und Einordnung des Gelesenen anbelangt.

Und auch ich schwanke in der Bewertung des Gelesenen. Kennt man das Ganze nicht schon von Marlene Haushofer und sie die Erkenntnisse in Sachen Sinnlosigkeit modern Bullshitjobs in Büros nicht etwas auserzählt, ohne an dieser Stelle auch noch auf Melvilles Bartleby den Schreiber als Kronzeugen zitieren zu wollen?

Auf der anderen Seite steht natürlich auch die Surrealität des Ganzen, die Mariette Navarro gelungen einfängt und mithilfe des Bewusstseinsstroms und ihrem chorischen Wir ein schon fast universales Bild der Vereinzelung im immer vernetzter werdenden (Arbeits)Alltag zeichnet.

So oder so: Am Grund des Himmels lädt auf alle Fälle dazu ein, sich selbst Gedanken über das Gelesene zu machen und sich von Mariette Navarro zu Assoziationen und Gedanken über das Arbeiten und die eigene Rolle in der Gemeinschaft hinreißen zu lassen.


  • Mariette Navarro – Am Grund des Himmels
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-649-7 (Kunstmann)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €

Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern

Wie es war, als sich das rote Hamburg in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts langsam braun färbte? Aus Anja Kampmanns neuem Roman Die Wut ist ein heller Stern lässt es sich erfahren. In ihrem sprachlich herausragenden Werk schreibt sie eine Art Berlin Alexanderplatz für die Hansestadt Hamburg und erzählt von der Halbwelt, von Varietés, Walfängern und Kaimanen.


Liest man Anja Kampmanns neuen Roman, so tritt es einem wieder unweigerlich vor Augen: Literatur, das ist vor allem ja auch Sprache. Zugegeben ist diese Erkenntnis eine Binse, aber in Zeiten, in denen zu viele deutschsprachige Autor*innen ihr Schreiben in eine recht uniform klingende Sprache hüllen, die zu austauschbar klingt und die auf die Möglichkeit verzichtet, mit dem sprachlichen Fingerabdruck die eigene literarische Marke zu prägen, da macht Die Wut ist ein heller Stern staunen.

Eine solche sprachliche Gestaltungsmacht, ein solch impressionistischer Sprachrausch, sie ist einem hierzulande seit Mariam Kühsel-Hussainis Tschudi oder den ebenfalls sprachlich herausragenden Werken Emanuel Maeß´ nicht mehr untergekommen. Dass hier eine Lyrikerin schreibt, man sieht und fühlt es auf jeder Seite und lässt auch das immer wieder auftauchende Motiv der Puccini-Arie Nessun dorma zur Aufforderung an uns Leser werden, dass niemand schlafe, um diesem Erzählrausch angemessen begegnen zu können.

Eine literarische Vermessung Hamburgs zur Nazizeit

Statt sich mit einer einfachen Beschreibung des Lebens ihrer Erzählerin Hedda zu begnügen, mischt Kampmann Wahrnehmung, Dialogfetzen, Sprachspiele, Gedanken und Sinneseindrücke zu einem berauschenden Ereignis, das als Langedicht wie auch als Roman funktioniert. Zusammen mit Hedda durchmisst man ein Hamburg zwischen Klein-Flottbek, dem Gängeviertel, Altona oder den Wasserwegen, die für manche von Kampmanns Protagonisten zum letzten Ausweg werden, während die Nazis langsam die Macht über die Hansestadt übernehmen.

25. Mai, Tag der deutschen Seefahrt. Bootsrennen auf der Alster mit Ritter von Epp, Vorbeimarsch der Wüstenbraunen, die sich Marine nennen, vor dem Gebäude des HAPAG Seebäderdienstes.
Ich höre die Durchsagen zum Festprogramm vor dem Radio des Grauen. Ein reicher Flaggenschmuck. Abends ist nicht so viel los im Alkazar, alle sind auf den Straßen, wir können früher gehen. Die Nacht ist weich und warm. In London ist Thronjubiläum: Die Straßen wie blühende Gärten.

Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern, S. 278

Hedda arbeitet als Tänzerin im Varieté Alkazar, das von seinem Besitzer Arthur Wittkowski nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Während unten in der Manege zwei Kaimane als Attraktion dienen, wirbelt Hedda in der Kuppel des Varietés am Seil und im Ring umher.

Das rote Hamburg wird braun

Anja Kampmann - Die Wut ist ein heller Stern (Cover)

Doch von Leichtigkeit kann keine Rede sein, denn schon ganz zu Beginn des Buchs wird die vormals weite und glamouröse Welt Heddas immer kleiner. Im Jahr der „Machtergreifung“ durch die Nazis sind es die Kreise, in denen sich Hedda bewegt, die unter Beschuss geraten. Ihre Freunde aus dem Arbeiterturnverein, die kleinkriminellen Finken aus dem Dunstkreis Arthurs oder ihr Schwarm Kuddel, ein Boxer. Sie alle sind die Feinde der neuen Machthaber, die mit Brutalität für die neue Ordnung in Sachen Machtverhältnisse dort sorgen.

Hedda erlebt das aus nächster Nähe mit, wenn die Braunen zur Jagd auf die Roten blasen und Gewalt und Tod Einzug halten in den Straßen Hamburgs.

Auf einmal gibt es einen lauten Knall. Hart, wie ein Schuss. Etwas fällt zu Boden. Schsch. Da ist der Graue, beruhig dich, Mädchen.
Es ist nur ein Stab in der Ecke, der umgefallen ist – ein Schlag, aber alles hat mit dem Handbeil zu tun. Sie schlagen den Kommunisten den Kopf ab wie dem Geflügel, den Kopf, Henker! Der Keiler ist wach, schsch, denk nicht dran.
Der Graue, er nimmt einen tiefen Zug aus der Pfeife und bläst mir den Rauch ins Gesicht wie einem scheuen Tier, er nimmt meine Hand, ruhig, sagt er, hier: Und da ist der Rauch wie eine Himmelsleiter, au der alles aufwärtsstrebt, die große Fahrt, die See, da ist die See, schimmernd und weit.

Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern, S. 404

Doch nicht einmal die See bietet die Möglichkeit zu entkommen. Denn Hedda kann nicht einfach gehen oder eine Schiffspassage ins Exil antreten. Während ihr Bruder Jaan auf einem Walfänger anheuert, mit dem die Nazis Ressourcen für ihr angestrebtes Weltreich gewinnen wollen, muss Hedda ihren kleinen Bruder Pauli verstecken, so gut es geht. Denn dieser ist aufgrund seiner verwachsenen Beine geheingeschränkt und somit ein Ziel für die Eugenik-Pläne der Nazis, die immer unverhohlener auftreten und sich auch von den 1936 in Deutschland stattfindenden Olympischen Spielen in ihrem Rassewahn und Machtstreben einbremsen lassen, im Gegenteil.

Die Verfügungsgewalt der neuen Machthaber

Im Lauf des Romans wird auch Hedda am eigenen Leib die Verfügungsgewalt der neuen Machthaber spüren, während sich die Schlinge um „moralisch verkommener Subjekte“ wie Hedda immer weiter zuzieht und bald nicht nur Arthur oder der Trompeter aus dem Alkazar untertauchen muss, sondern auch sie in große Gefahr gerät.

Das schildert Anja Kampmann durch diese Bewusstseinsstromtechnik ihres Buchs unglaublich packend und nachfühlbar. Das zunehmende Versteckspiel und die steigende Angst um ihre Brüder und Freunde, die Grausamkeit der Nazis und die Ruchlosigkeit der Profiteure, die sich im Kielwasser der neuen Machthaber bequem gemacht haben, Die Wut ist ein heller Stern erzählt davon ebenso anschaulich wie gelungen.

Kampmanns Buch beleuchtet zudem sträfliche vernachlässigte Kapitel der Geschichte wie die unglaubliche Geschichte des Walfangs, der von Hamburg ausgehend den Tod für hunderte der Tiere bedeutete, wie sie auch vom erschütternden Umgang mit Menschen erzählt, die nicht zu den Wahnvorstellungen der Machthaber passten – und dem nicht minder empörenden Umgang mit den damals Verantwortlichen in der Nachkriegszeit.

Fazit

So ist dieses Buch ein sprachliches Ereignis und ein eindringliches Dokument, das die Zeit der „Machtergreifung“ in Hamburg ganz unmittelbar erfahrbar werden lässt. Ein beeindruckendes Stück deutscher Literatur, das Anja Kampmann hier vorlegt und das nicht nur sprachlich zu dem Herausragendsten zählt, was dieses Jahr auf Deutsch geschrieben wurde.


  • Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern
  • ISBN 978-3-446-28120-2 (Hanser)
  • 496 Seiten. Preis: 28,00 €

Mattias Timander – Dein Wille wohnt in den Wäldern

Literaturbegeisterung, Einsamkeit und Holzfällen. In seinem Debüt Dein Wille wohnt in den Wäldern lässt der junge schwedische Autor Mattias Timander seinen Helden und Ich-Erzähler zwischen der Einsamkeit in einer Hütte und dem Dasein als Bohemien in Stockholm mäandern. Aber wo nur ankommen?


Sinkende Absatzzahlen, unabhängige Verlage, die ihr Tun einstellen und dazu Leser, die dem Buchmarkt in Millionenstärke von der Fahne gehen. Wahrlich, um das Lesen und seine Fans ist es nicht allzu gut bestellt. Da sind Nachrichten wie die der Neugründung des Allee Verlags Balsam auf die Seele der geschundenen Literaturseele. Die Übersetzerin und Herausgeberin Veronika Siska will mit ihrem Verlag jenen europäischen Stimmen Sichtbarkeit verschaffen, die im Konzert der üblichen Verdächtigen sonst untergehen.

Der Verlag steht für eine Literatur, die nicht ausgrenzt, sondern einschließt. Für Stimmen, die neue Realitäten zu denken und fühlen geben, vermeintliche Ränder ins Zentrum rücken und Komplexität nicht scheuen. Viele der veröffentlichten Werke wurden national wie international ausgezeichnet, manche fordern sprachlich oder formal heraus.

Der Allee Verlag über seine Programmatik

Verlegerische Monokultur ist Siskas Ding nicht, so hat sie mit dem ersten Programm ihres im vergangenen Jahr gegründeten Verlags gleich einmal zwei ebenso unterschiedliche wie interessante Bäume an den Beginn ihrer Allee gepflanzt.

Ein Roman aus Tornedalen

Neben dem von ihr selbst aus dem Tschechischen übersetzten Roman Die andere Stadt von Michal Ajvaz gibt es mit Mattias Timander Dein Wille wohnt in den Wäldern tatsächlich einen Roman zu entdecken, der von einem vermeintlichen Rand stammt, nämlich dem der Ländergrenze zwischen Finnland und Schweden. Dort ist Mattias Timander zuhause, der der Volksgruppe der Tornedalen angehört, einer Finnlandschwedischen Minderheit.

Timander, der im Alter von 20 Jahren zwei Jahre lang als Bürgermeister die Geschicke der dortigen Kleinstadt Kiruna lenkte, hat sich zumindest geografisch mittlerweile etwas von diesem Randgebiet entfernt und lebt und arbeitet nun in Stockholm.

Dein Wille wohnt in den Wäldern ist sein Debütroman, der im vergangenen Jahr auf Schwedisch erschien und der Timanders Herkunft spiegelt. Der vielfach preisgekrönte und preisnominierte Roman handelt von einem wortkargen und einzelgängerischen Erzähler, der – so viel Schwedenklischees dürfen sein – in einer Hütte in der nordschwedischen Einsamkeit haust. Ein familiäres Netz hat er nicht mehr, ab und an begibt sich der Einzelgänger unter Menschen, aber wirkliche Gesellschaft findet er erst in der Literatur.

Zwischen Waldeinsamkeit und Bohemiens

Mattias Timander - Dein Wille wohnt in den Wäldern (Cover)

Passenderweise ist Thomas Bernhards Holzfällen eines der ersten Bücher, das in ihm die Leidenschaft für Literatur entfacht. Immer größer wird seine Leidenschaft für das Lesen, weshalb er sich später sogar in die Großstadt aufmacht, um dort seiner Leseleidenschaft zu frönen und Anschluss an einen Kreis von Bohemiens zu erhalten. Er wird ein manischer Leser, der vor allem in der Literaturwelt Patrick Modianos eine Bebilderung seiner eigenen, inneren Welt erfährt.

Doch dauerhaft ist dieser Rausch aus Literatur, Feiern, intellektuellem Austausch und Drogen auch nicht, weshalb es den Erzähler später wieder auf den Weg Richtung Waldeinsamkeit ziehen wird.

Timanders Roman geht der Frage nach, wo der eigene Platz im Leben ist und wie man Anschluss findet. Müssen es Menschen sein, mit denen man sich austauscht, oder können nicht auch Bücher und Literaten die besseren Begleiter fürs Leben sein? Dein Wille wohnt in den Wäldern ist trotz seiner Kürze voll mit Gedanken und Zitaten die von Beckett über Proust bis zu Rainer Maria Rilke reichen. Aus der Ferne grüßt dabei auch stets Henry David Thoreaus Walden.

Eine übersetzerische Herausforderung

Übertragen hat diesen literarischen wie literaturreichen Hanna Granz ins Deutsche (generell nennt der Allee Verlag seine Übersetzerinnen vorbildlicherweise gleich auf dem Cover), die sich einer schwierigen Aufgabe stellen musste. Denn im Original kennzeichnet Mattias Timanders Text eine Mischung aus nordschwedischem und tornedalischem Dialekt sowie der Minderheitensprache Meänkieli, wie der Verlag mitteilt.

Eine adäquate Nachbildung dieser sprachlichen Collage kann in eine andere Sprache sowieso kaum funktionieren, stattdessen aber hat Hanna Granz den Gedankenstrom von Timanders Erzähler auf eigene Art und Weise ins Deutsche übertragen, irgendwo zwischen Naturbeobachtung und Innerlichkeit.

Ich ging einen anderen Weg zum Dorf runter als an der Storsturga vorbei. Es gibt da eine Lichtung, wenn man Richtung Roger und Mariann geht, und da ist es irgendwie magisch. Vielleicht, weil das Sonnenlicht von den Bäumen gefiltert wird, außerdem sind da oft Elche. Und wie plötzlich alles so besonders war, saß ich eine ganze Weile dort. Als ich wieder hochwollte vom Moos, von dem ich nass geworden war, flog ein Auerhahn auf. Sein plötzlicher Flügelschlag klang brutal.

Mattias Timander – Dein Wille wohnt in den Wäldern, S. 36

Fazit

So entsteht auch im Deutschen ein faszinierender Text, der einen rastlosen Erzähler zwischen der Sehnsucht nach Anschluss und Verständnis und dem Wunsch nach Einsamkeit und literarischer Gesellschaft zeigt. Das macht Dein Wille wohnt in den Wäldern zu einem literarisch wirklich interessanten Text, mit dem dem Allee Verlag ein tolles erstes Ausrufezeichen gelungen ist.

Es bleibt spannend, mit welchen europäischen Stimmen Veronika Siska die Literaturwelt hierzulande als nächstes bereichern wird. Das Schlendern durch diese literarische Allee, es nimmt sich schon jetzt aber sehr verheißungsvoll aus!


  • Mattias Timander – Dein Wille wohnt in den Wäldern
  • Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
  • ISBN 978-3-911524-00-1 (Allee Verlag)
  • 189 Seiten. Preis: 24,00 €

Vorschaufieber Frühjahr 2026

Das Jahr geht den Tagen mit den längsten Nächten entgegen, die Temperaturen fallen unter die Null-Grad-Marke, das Ende des Jahres rückt näher. Grund genug, sich mit verheißungsvollen Büchern zu beschäftigen, die im Fühling des kommenden Jahes erscheinen, wenn die Tage wieder länger werden und die Temperaturen in angenehmere Höhen klettern.

Wieder einmal ist es eine bunte Mischung geworden, die Titel vorstellt, die die großen Themen des Lebens ebenso wie die kleinen bearbeiten. Es finden sich lange Erzählungen neben der kurzen Form, neue Stimmen stehen neben eingeführten Namen, dazu reicht der Bogen von kleine Independent-Verlagen hin zu den großen Verlagshäusern.

Eingeteilt ist das Ganze wieder einmal in die Kategorien National, International und Krimis. Die Links hinter den Covern und Titeln führen zu den Verlagsseiten, die weiterführende Informationen über die Bücher bereitstellen – verbunden mit der Bitte, im Fall eines käuflichen Erwerbs der Titel den lokalen, unabhängigen Buchhandel anstelle von digitalen Monopolisten zu bedenken.

National

Petra MorsbachOrion (Penguin). Ulrich WoelkHellere Tage (C. H. Beck). Johann Reißer – Pulver (Frankfurter Verlagsanstalt). Nadine Schneider – Das gute Leben (S. Fischer). Cihan AcarCasino (Hanser Berlin).

Lukas RietzschelSanditz (dtv). Thomas Hettche Liebe (Kiepenheuer & Witsch). Hannah Häffner – Die Riesinnen (Penguin). Robert SeethalerDie Straße (Claassen). Walter Fabian Schmid – Schattenwurf (Nagel & Kimche).

Wilhelm Bartsch – Meckels Messerzüge (Wallstein). Gabriele Reuter – Das Tränenhaus (Reclam). Iwan Heilbut – Zugvögel (Claassen). Regina Denk – Der Fährmann (Droemer). Nicola Denis – Wo die Kaffeekirschen leuchten (Friedenauer Presse).

International

Liz MooreDer andere Arthur (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, C. H. Beck). Andrew O’HaganMaifliegen (aus dem Englischen von Manfred Kempf und Gabriele Kempf-Allié, Claassen). Karine TuilDie Liebeshungrigen (aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff und Alexandra Baisch, dtv). Safae el Khannoussi – Oroppa (aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel, Hanser). Pilar Adón – Von Vieh und Vögeln (aus dem Spanischen von Susanne Lange, Wallstein).

R. C. SherriffVor uns die Zeit (aus dem Englischen von Rainer Moritz, Unionsverlag). Radka Denemarková – Schokoladenblut (aus dem Tschechischen von Eva Profousová, Hoffmann & Campe). Megan Hunter – Tage des Lichts (aus dem Englischen von Judith Schwaab, C. H. Beck). Robbie ArnottDusk (aus dem Englischen von Nikolaus Hansen, Piper). Lucie Rico – GPS (aus dem Französischen von Milen Adam, Matthes & Seitz Berlin).

Hal Ebbott – Unter Freunden (aus dem Englischen von Jan Schönherr, Claassen). Carys DaviesDas Pfarrhaus (aus dem Englischen von Eva Bonné, Luchterhand). Elspeth Barker – O Caledonia (aus dem Englischen von Verena von Koskull, Piper). John Horne Burns – Galleria Umberto (aus dem Englischen von Gregor Hens, Die Andere Bibliothek). Xu Zechen – Der große Kanal (aus dem Chinesischen von Daniel Fastner, Matthes & Seitz Berlin)

Rachel Khong – Real Americans (aus dem Englischen von Tobias Schnettler, Kiepenheuer & Witsch). Colin Walsh – Kala (aus dem Englischen von Andrea O’Brien, Gutkind). Alice Brito – Die Frauen der Fonte Nova (aus dem Portugiesischen von Markus Sahr, Weidle). Dario Ferrari – Die Pause ist vorbei (aus dem Italienischen von Christiane Pöhlmann, Wagenbach). Rabih Alameddine – Die wirklich wahre Geschichte von Radscha, dem Gutgläubigen (und seiner Mutter) (aus dem Englischen von Werner Löcher-Larence, C. H. Beck).

Krimis

Garry Disher – Zuflucht (aus dem Englischen von Peter Torberg, Unionsverlag). Daniel Faßbender – Heaven’s Gate (Diogenes). Mary Roberts Rinehart – Die Villa am Meer (aus dem Englischen von Eva Sobottka, Oktopus). Henry Wise – Holy City (aus dem Englischen von Karen Witthuhn, Polar Verlag). Ken Jaworowski – What about the bodies (aus dem Englischen von Lea Dunkel, Pendragon).

Gaspard Koenig – Humus

Gaspard Koenig hat ihn geschrieben, den Roman, der einem unterschätzten Tier endlich den Platz in der Literatur zuerkennt, den es verdient. Die Rede ist vom Regenwurm. Zwei unterschiedliche Freunde haben in ihm den Sinn ihres Lebens ausgemacht. Für die Verwirklichung dieses Lebenssinns zahlen sie allerdings einen hohen Preis, zur Freude der Leser*innen von Humus.


Die Debatten über die agrikulturelle Ausrichtung des Landes und den Konflikt zwischen der Landbevölkerung und den Stadtbewohnern, sie flammten bei uns zuletzt im vergangenen Jahr auf, als die Bauernproteste für Aufsehen sorgten und nicht nur hierzulande Straßen blockierten und erhitzte Debatten auslösten. Bis nach Brüssel führte die Bauernschar der Weg, die dort im Europaviertel (mist)haufenweise Dünger und Gülle verspritzten und so ihrem Unmut auch olfaktorisch Luft machten.

Auch in Frankreich kennt man diese Debatten, die der Philosoph Gaspard Koenig in einen ebenso leichtfüßigen wie gegenwartsschweren Roman verwandelt hat, der auf den Titel Humus hört.

Der Regenwurm als Retter

Von jenem Humus ist allerdings anfänglich noch nichts zu spüren, als die gegensätzlichen Arthur und Kevin sich zu spüren – im Gegenteil. Statt Erde und Äcker bietet sich die nahe Paris gelegene AgroParisTech als großes Stahl- und Betonskelett dar, in der die Natur nur in Vorlesungen Thema ist. So ist es auch in den Vorlesungen des Regenwurmexperten Marcel Combe, der in seinen Vorträgen den Studierenden die Welt unter ihren Füßen aufschließt, die durch Betonversiegelung und kalte Architektur zumindest am Campus kaum mehr erlebbar ist.

Wie Sie wissen, sind es die Regenwürmer, die die Grundlage des Bodenlebens schaffen. Durch ihre ununterbrochene Verdauung, die sie jeden Tag das Äquivalent ihres eigenen Körpergewichts verzehren lässt, zersetzen sie organische Materie in biogene Stoffe, von denen sich wiederum die Pflanzen ernähren. Man schätzt, dass Regenwürmer pro Jahr und pro Hektar dreihundert Tonnen Material verschlingen und wieder ausscheiden. Ja, recht gehört, dreihundert Tonnen! Die Erde, über die Sie laufen, die Erde, die uns mit Nahrung versorgt, besteht in der Tat zu einem Großteil aus so entstanden organisch-anorganischen Verbindungen, mit anderen Worten aus Regenwurmscheiße. Genau deshalb vermutete der große Charles Darwin, dass uns Regenwurm das wichtigste Tier der Evolution ist. Ohne ihn bricht alles zusammen.

Gaspard Koenig – Humus, S. 10

Zwischen bäuerlicher Scholle und Startups

Gaspard Koenig - Humus (Cover)

Bewegt von den Erkenntnissen über die Wichtigkeit des Regenwurms und der von ihm geleisteten Arbeit, beschließen die beiden Freunde, die Kraft des Wurms zu nutzen und ihn zu fördern. Die Wege, auf die sie dieser Gedanke bringt, führt Arthur und Kevin allerdings maximal weit auseinander.

Während Arthur zusammen mit seiner Partnerin Anne den heruntergekommenen Hof seiner Familie naturnah umbauen will und so ein Gegengewicht zu den pestizidgedüngten umliegenden Äckern schaffen will, stolpert Kevin mitten hinein in die Welt der Startups, in die ihn seine Idee eines Wurmkomposters befördert.

Als seine findige Geschäftspartnerin Philippine das Geschäft mit dem von Würmern kompostierten Bioabfalls immer größer aufzieht, kommt Kevin in den Kontakt mit Start Ups und Risikokapitelgebern, wird mitten hineingesogen in sein Projekt namens Veritas, das sich immer größer ausnimmt, Philippine und Kevin bis ins Silicon Valley führt und dem Wurmfreund schon bald über den Kopf zu wachsen droht.

Greenwashing und Vorschriftendschungel

Gaspard Koenig hat einen Roman geschrieben, der die so unterschiedlichen Lebens- und Karrierewege von Arthur und Kevin als Ausgang nimmt, um über unser Verhältnis der Natur, das Greenwashing und unseren Ressourcenverbrauch nachzudenken. Gelungen skizziert und karikiert er die Welt der Hochfinanz und der sinnentleerten Kapitalgeber auf der einen Seite, die bäuerliche Gängelung durch Bürokratie und Vorschriften auf der anderen Seite.

Souverän übersetzt durch Koenigs Stammübersetzer Tobias Roth ist Humus ein Roman, der die ländliche Renitenz feiert und die verfahrene Situation zeigt, in der es weder Arthur im Kleinen auf seiner heimischen Scholle noch Kevin in der Hochglanzwelt der Startups vermögen, ihren eigentlichen Zielen der Förderung des Regenwurms nahezukommen. Im Gegenteil, lustvoll beobachtet Koenig, wie sich seine Figuren immer mehr im undurchdringlichen Dickicht von Vorschriften oder im Spiegelkabinett der hippen Techunternehmer verrennen und aus dem Ganzen einen Ausweg nehmen, der sie mitten hinein in eine Welt führt, gegen die sich die Bauernproteste in Brüssel oder Paris noch sehr harmlos ausnehmen.

Fazit

So ist Gaspard Koenigs Roman ein hochaktuelles Buch, das durch die vordergründige Distanzierung der beiden Freund und die dahinterliegenden Ähnlichkeiten in ihren Lebenswegen viel erzählt über unser Verhältnis zur Natur und die zunehmende agrikulturelle Entgrenzung, der wir kaum wieder Herr werden können. Und auch wenn man Koenigs Hintergrund als Philosoph dem Buch durchaus anmerkt, ist Humus das Gegenteil eines theorieschweren Romans, sondern treibt mit Tempo und flotten Fußes seinem Höhepunkt entgegen, der das Buch nachdrücklich in Erinnerung bleiben lässt.

Sachkundig versteht es Koenig, von der Welt der Kleinbauern wie auch den obersten Ministerkreisen und der Hochfinanz zu erzählen. Nur ob es mit den Regenwürmer gut ausgeht, das darf an dieser Stelle nicht verraten werden…


  • Gaspard Koenig – Humus
  • Aus dem Französischen von Tobias Roth
  • ISBN 978-3-7518-1036-4 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 378 Seiten. Preis: 26,00 €