Category Archives: Kriminalroman

Nicolás Ferraro – Ambar

Roadtrip, Coming of Age und Gangsterballade. Das alles mischt der Argentinier Nicolás Ferraro in seinem Thriller Ambar zusammen, in dem er eine junge Teenagerin zusammen mit ihrem Vater, einem Auftragsmörder, quer durch Argentinien schickt. Nun liegt das Buch in der Übersetzung von Kirsten Brandt im Pendragon-Verlag vor.


Meine Kindheit ist ein unvollendetes Tattoo, weil irgendjemand beim Stechen ständig das Design verändert hat. Oder ich habe beschlossen, es nicht weiter stechen zu lassen, weil ich den Schmerz nicht mehr ertrage.

Nicolás Ferraro – Ambar, S. 230

Das Tattoo, es ist ein Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman des argentinischen Autors und Bibliothekars Nicolás Ferraro zieht. So ziert ein Tattoo mit der Inschrift ÁMBAR den Unterarm von Ambars Vater, der sich die Erinnerung an seine Tochter unter Schmerzen auf seinen Körper hat schreiben lassen. Im Gegensatz zu anderen tätowierten Männer sind es aber auch zahlreiche Narben, die seine Haut zieren, denn Ámbars ist nicht wie andere Väter. Ámbars Vater ist ein Killer.

Die Tochter eines Killers

Ruhe, ein stabiles Zuhause oder Schule, das alles gibt es für seine Tochter nicht, denn mit seiner Tochter an seiner Seite ist ihr Vater unterwegs durch ganz Argentinien. Für seine Aufträge reist er in Autos umher, bringt Menschen um und ist auf der Flucht. Seit Kindesbeinen an sind so die Erinnerungen von Ámbar an ihren Vater von Wunden und der damit verbundenen Gewalt geprägt.

Als ich zwölf war, hat Papá mir beigebracht, Kugeln zu entfernen und Wunden zu nähen. Mit dreizehn habe ich schießen gelernt und ein paar Monate später, wie man ein Auto kurzschließt.

Nicolás Ferraro – Ámbar, S. 8

Doch auch Ámbar hat Ziele, die sich in Form eines Tattoos ausdrücken. Denn darauf spart das Mädchen schon seit langer Zeit, während es mit seinem Vater durch Argentinien zieht und immer wieder die Identität wechselt, mal Alejandra heißt oder auf den Tarnnamen Delfina hört und ihren Vater bei seiner Arbeit unterstützt, indem sie Orte und Menschen ausspioniert oder seine erlittenen Wunden versorgt.

Unterwegs durch Argentinien

Nicolás Ferraro - Ámbar (Cover)

Doch nun ist alles anders. Denn jemand möchte Ámbars Vater tot sehen. Dieser dreht allerdings den Spieß um und macht Jagd auf die Menschen, die seinen Tod wollen. Und so beginnt ein Roadtrip, der von Gewalt. immer neuen Identitäten und Schauplätzen geprägt ist, während das Mädchen und ihr Vater auf der Reise über ihren Musikgeschmack streiten und eigentlich nur aus der Geschichte herauswollen, in die sie geraten sind. Doch dabei rückt eine Frage immer weiter in Ámbars Fokus: kann sie ihrem Vater überhaupt trauen?

Ámbar kennzeichnet eine Mischung aus Elementen eines klassischen Road Novels, die manchmal schon fast spaltterhaften Gewalt vor allem im letzten Teil des Buchs sowie dem Grundmotiv eines Coming of Age-Romans, in dem sich Ámbar zum ersten Mal verliebt und eigentlich andere Ziele hat, als das Überleben ihres Vaters zu sichern. Es ist ein Roman, der an seiner disparaten Motivlage scheitern könnte, es aber nicht tut. Denn all diese Elemente fügen sich sehr gut zusammen und lassen den Roman immer weiter vorantreiben, während Ámbars Vater nacheinander alle Verdächtigen auf seiner Liste abklappert, um seinen Gegnern näher zu kommen.

Und auch wenn sich die Schauplätze Argentinien und Chile nicht ganz die gleichen sind, so ist doch auch die Ähnlich zu María José Ferradas Roman Kramp unübersehbar. War es bei ihr ein Handelsvertreter, der zur Zeit der Pinochet-Diktatur mit seiner Tochter auf Reisen durch das Land ging, ist Ámbar gewissermaßen die große Schwester zu diesem Roman. Auch hier dominiert die Reise eines Vaters mit seiner Tochter und deren Erwachsenwerden den Roman, wenngleich Nicolás Ferraros Erzählung genrebedingt deutlich gewalthaltiger und ohne große politische Bezüge daherkommt.

Fazit

Ein dunkler Roadtrip und das spannungsgeladene Verhältnis einer Tochter zu ihrem Vater stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich aus ganz verschiedenen Genres und Stilistiken speist und doch zu einem wohlgetakteten und pulsierenden Noir findet. Mit Nicolás Ferraros mit dem Premio Hammett ausgezeichneten Kriminalroman ist dem Pendragon-Verlag eine interessante Entdeckung gelungen, deren eher an ein Jugendbuch erinnernde Aufmachung fast ein wenig am Charakter des Buchs vorbeigeht. Das Erscheinen von Ámbar auf der Krimizeit-Bestenliste des Jahres würde mich nicht verblüffen.


  • Nicolás Ferraro – Ámbar
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • ISBN 978-3-86532-901-1
  • 312 Seiten. Preis: 22,00 €
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Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung

Die Klärung der Provenienz eines Gemäldes bringt den Kunstsachverständigen und Bonvivant Lennard Lomberg in Andreas Storms Kunstkrimi Die Victoria-Verschwörung einmal mehr in Kontakt mit einem dunklen Kapitel der Historie. Diesmal ist es die deutsch-britische Geschichte, in die er bei seinen Recherchen tief eintaucht. Die Suche nach den Hintergründen einer möglichen Kunstfälschung führt ihn von den Kreise der Royals bis ins Köln der 1960er Jahre, als die Queen Köln besuchte…


Waren es in seinen beiden vorherigen Einsätzen die eigene Familiengeschichte, in die der Kunstsachverständige Lennard Lomberg nach einem Mordfall in Bonn eintauchte (Das neunte Gemälde) und die Zeit der Franco-Diktatur in Spanien (Die Akte Madrid), so bleibt Andreas Storm seinem Erzählkonzept der Verschmelzung von erzählter Gegenwart und Nachkriegsgeschichte treu. Nach Deutschland und Spanien ist es nun Lombergs zweite Heimat England, in die den Kunstkenner ein Auftrag führt, der nach der Expertise und den Kontakten Lombergs verlangt.

Ein Gemälde mit heikler Provenienz

Abermals löst ein Gemälde mit heikler Provenienz die ganze Handlung des Romans aus. So soll Lennard Lomberg auf Vermittlung seines Freundes Peter Barrington diskret für den Verwalter der royalen Kunstschätze in Großbritannien tätig werden. Denn dieser steht vor einem großen Problem.

McEwan zögerte. Dann wandte er sich Lomberg zu: „Nun ja. Die Wahrheit, Dr. Lomberg, lautet: Wir werden erpresst.“

„Wer ist wir?“

„Der Royal Collection Trust. Letzten Mittwoch, also am 21., wurde ein Brief an den Trust zugestellt. An mich adressiert, ohne Absender. In dem Schreiben behauptet ein Unbekannter, dass es sich bei der Victoria 1845 um eine Fälschung handelt. Das Original würde sich aber nicht in Windsor Castle befinden. Als vorläufiger Beleg für diese Behauptung war dem Schreiben ein Foto beigefügt.“ McEwan deutete auf den Tisch: „Das hier.“

Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung, S. 28

Ein in den Privatgemächern der Queen hängendes Aquarellgemälde, das ihre Amtsvorgängerin Königin Victoria zeigt, es setzt die Handlung in Gang, die zu Teilen in München, in London und Nordrhein-Westfalen spielt.

Die verschwundene Victoria 1845

Andreas Storm - Die Victoria-Verschwörung (Cover)

Lange Zeit war das Gemälde von Königin Victoria verschwunden, ehe es von den Deutschen im Rahmen eines Besuchs von Königin Elizabeth II. im Nachkriegsdeutschland der 60er Jahre an die Krone zurückgegeben wurde. Doch nicht nur, dass den royalen Kunstschatz der Ruch einer Fälschung umweht – auch die Vorgeschichte des Kunstwerks ist mehr als spektakulär und dubios. So befand sich die Victoria 1845 einst im Besitz des früheren Prince of Wales und kurzzeitigen Königs Eduard VIII., der das Gemälde nach seiner Abdankung vom Thron ins gemeinsame Pariser Exil mit seiner Frau Wallis Simpson nahm.

Nach der Besatzung von Paris durch die Deutschen und den Wegzug des abgedankten Königs verschwand das Bild spurlos, ehe es dann pünktlich zum Besuch der Queen im Köln des Jahres 1965 wieder auftauchte. Was ist in der Zwischenzeit mit dem Gemälde geschehen und was hat eventuell die Sympathie des abgedankten Regenten für die Nationalsozialisten mit dem Gemälde und dem anonymen Erpresser zu tun?

Es ist eine höchst delikate Angelegenheit, die viel Fingerspitzengefühl erfordert und für die Lomberg tief eintaucht in die Geschichte des Gemäldes und die verschlungenen Wege, die die Victoria 1845 nahm.

Dafür setzt Storm auf sein bewährtes Erzählkonzept der verschachtelten Rückblenden, die zurückführen nach München und zum britischen Geheimdienst, der im besetzten Paris unter gefährlichen Umständen operierte. Verbunden mit der Spurensuche rund um das Gemälde in der Gegenwart entsteht so ein komplexer Kunstkrimi, der Zeitgeschichte, Spekulation, britisches Lebensgefühl und die Welt der Kunst miteinander gut verzahnt.

Ein formidabler Kunstkrimi

Vielleicht sind es ein paar Zufälle zu viel, wenn sich ausgerechnet eine einstige Münchner Kindergärtnerin aus den 60er Jahren dann als Trauma-Expertin im England der Jetztzeit entpuppt, die die richtigen Diagnosen fällt, um den Zustand jener Kunstrestauratorin zu lösen, die mit der Begutachtung der Victoria 1845 beauftragt war und die in eine tiefe Krisis fällt, da ihr eigenes Schicksal aufs Engste mit dem Gemälde verbunden ist.

Von solchen knirschenden Erzählscharnieren abgesehen ist Andreas Storm auch im dritten Streich wieder ein formidabler Kunstkrimi gelungen, der niveauvolle Unterhaltung mit Savoir Vivre und Spannung bietet und der mit seiner ambitionierten Erzählstruktur keine Langweile aufkommen lässt.

Mit seinen Kunstkrimis ist er zu einer deutschen Antwort auf Martin Suter und dessen Ermittler Johann von Allmen avanciert und bedient so seine eigene Nische auf dem schier unübersichtlichen Krimimarkt. Man darf sich schon auf den vierten Einsatz des Kunstkenners freuen!


  • Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung
  • ISBN 978-3-462-00668-1 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 368 Seiten. Preis: 17,00 €
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Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €
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Louisa Luna – Abgetaucht

In ihrem neuen Fall bekommt es die Privatermittlerin Alice Vega mit einer Bande junger Neonazis im ländlichen Oregon zu tun. Louisa Luna beschert ihrer Heldin mit Abgetaucht einen Fall, in dem sie wieder einmal unter Beweis stellen muss, dass sie hart im Nehmen ist – und dass sie noch härter austeilen kann.


Schon einmal durfte Alice Vega zusammen mit ihrem Partner Max Caplan auf dem deutschen Buchmarkt ermitteln. Tote ohne Namen war er zweite Fall der Reihe, der nun mit Abgetaucht der dritte Fall folgt. Darin bekommt es Vega mit einem kuriosen Fall zu tun. Das betrifft sowohl den Auftraggeber als auch den Fall selbst. Denn am 17.11.1984 wurde der Footballspieler Zeb Williams zum letzten Mal gesehen, als er ein Spiel mit seiner Mannschaft bestritt. Anstelle auf dem Feld in den letzten Sekunden des Spiels wichtige Punkte zu machen, rannte Williams vom Spielfeld und blieb seitdem verschwunden.

Um dieses Verschwinden des vielversprechenden Spielers ranken sich viele Mythen, die sich mit dem zunehmenden Dauer des Verschwindens verselbstständigen. Auch Vega muss sich nun damit auseinandersetzen, denn sie wird heimlich vom jetzigen Gatten der Frau beauftragt, die damals mit Zeb Williams liiert war. Er will endlich Klarheit über das Verschwinden und so begibt sich Vega nun nach Oregon ins kleine Städtchen Ilona, wo sich die Spuren von Zeb Williams verlieren.

Ein verschwundener Footballspieler

Vor Ort stößt sie bei ihren Recherchen auf eine Lehrerin, die Alice Vega bei ihrem Fall nur weiterhelfen will, wenn auch Vega etwas für sie tut. Denn die Lehrerin und der ganze Ort werden von einer Gruppe Jugendlicher terrorisiert, die unter dem Namen Liberty Pure ihren Fantasie einer weißen Übermacht anhängen. Das, was durch die Wahl Donald Trumps und die Verrohung des Diskurses überall in den USA verstärkt zum Vorschein kommt, auch in Ilona ist es inzwischen an der Tagesordnung. Anhänger der Theorie der Übermacht der weißen Bevölkerung, die durch gute Verbindungen zu den Polizeibehörden weitestgehend ungestört ihrer Propaganda und Hetze frönen können.

Louisa Luna - Abgetaucht (Cover)

Doch mit Alice Vega haben sich die Jugendlichen die falsche Gegnerin ausgesucht. Denn wenn sich die Ermittlerin in einen Fall verbissen hat, lässt sie sich auch von Drohungen und Gewalt nicht einschüchtern. Nicht einmal, wenn diese Gewalt auch auf ihren Partner Max Caplan und dessen Tochter übergreift.

Abgetaucht erzählt von neonazistischen Strukturen und dem Gefühl der Überlegenheit, das solche Gruppe wie die im Buch beschriebenen Liberty Pure mit der kruden Mischung aus Libertalismus, Nationalismus und Rassismus inzwischen immer ungehemmter ausleben. Für den Kampf gegen solche Strukturen und Verflechtungen braucht es eine Figur wie Alice Vega, die für die Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht vor Gewalt zurückschreckt.

Eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas

Neben dieser Eine Frau gegen das System-Erzählung ist Abgetaucht auch eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas in der Gegenwart. Eine Betandsaufnahme, die wenig Grund zur Hoffnung gibt. Denn in Lunas Oregon werden wenige Reiche immer reicher, raffen Grundbesitz und Wohlstand, während sich der Rest der Bevölkerung in Trailerparks zurückzieht, Lehrerinnen am System zu verzweifeln drohen und die Polizei korrupt bis überfordert ist.

Nein, wirklich positiv kann man auf die zukünftige Entwicklung Amerikas aufgrund dieser Lektüre nicht schauen – und die politische Realität sieht auch nicht unbedingt vielversprechender aus.

Eine Idee weniger überzeugend als der erste bei Suhrkamp erschienene Roman ist dieser von Karin Diemerling ins Deutsche übertragene Krimi. Denn die Balance zwischen den Ermittlungsfiguren Alice Vega und Max Caplan gerät hier in Schieflage. Während Max in Depressionen und Angst um seine Tochter versunken ist, kämpft Vega weitestgehend alleine gegen das Schweigen über den Verbleib Zeb Williams‘ und die Atmosphäre von Einschüchterung und Angst, die die junge Neonazi-Bande verbreitet. Somit kann von einem Ermittlungsduo hier nur eingeschränkt die Rede sein.

Das ist insgesamt freilich immer noch deutlich besser und überzeugender als das Gros sonstiger amerikanischer Serienkiller-Produktion, die den deutschen Markt überschwemmen. Legt man aber den formidablen ersten, auf Deutsch erschienenen Krimi Tote ohne Namen für einen Vergleich zugrunde, so hat Abgetaucht hier das Nachsehen und fällt etwas gegen jenen Band ab. Dennoch ist auch dieses Buch ein starker Krimi, der im Kleinen der Provinz das findet, was sich im Großen in den USA auch gerade abzeichnet.


  • Louisa Luna – Abgetaucht
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling
  • ISBN 978-3-518-47377-1 (Suhrkamp)
  • 456 Seiten. Preis: 18,95 €
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James Carlos Blake – Red Grass River

Im tiefsten Süden Amerikas, in den Everglades, da leben sie, die Mitglieder der Familie Ashley. James Carlos Blake setzt der kriminellen Bande mit Red Grass River ein ebenso eindringliches wie mitreißendes Denkmal. Ein Epos über Gut und Böse – und die Grenze dazwischen, die sich nicht immer so leicht ziehen lässt.


Falls sich der Teufel je einen Garten angelegt hat, dann die Everglades. Der größte und gemeinste Sumpf, den Sie je zu sehen bekommen – größer als so mancher Staat der USA. All die Kiefernwälder und das Zwergpalmetto-Gestrüpp, die Zypressensümpfe, das ganze Kletterpflanzengewirr. Doch vor allem ist es ein Fluss, ein Fluss, wie es auf der Erde keinen zweiten gibt. Er ist hundert Kilometer breit, fünfzehn Zentimeter tief und verläuft vom Lake Okeechobee bis zum südlichen Ende des Staates über einem Morast ohne festen Boden. Das Ganze ist mit Binsenschneide, einer Art Sauergras, überwuchert, scharf wie ein Rasiermesser. Zwischen diesem schneidend scharfen Gras gibt es weit und breit nichts außer vereinzelten Hammocks – höher gelegene, mit Laubbäumen und Palmen beweachsene Inseln -, die größtenteils noch kein Mensch je betreten hat. Da draußen wirkt die Welt viel größer und der Himmel kennt kein Ende.

James Carlos Blake – Red Grass River, S. 9

So führt uns der sogenannte Liars Club in den Handlungsort des Romans von James Carlos Blake ein. Bei diesem Club handelt es sich um einen amorphen Erzählchor, der sich immer wieder kommentierend in die Geschichte einschaltet, die uns der 1947 in Mexiko geborene Blake erzählt.

Es ist eine Kommentierung, die aus viel Gerüchten und Tratsch besteht. Beim Thema, um das es sich in dem Roman dreht, verwundert das aber nicht. Denn die Familie Ashley, deren schwerkriminelle Mitglieder von Schwarzbrennerei über Alkoholschmuggel bis hin zu Banküberfällen so gut wie alle Schattierungen des Verbrechens im Süden der USA verübten, rief von Bewunderung bis Hass wahrhaftig eine Vielfalt von Gefühlen und Reaktionen hervor. Immer wieder sorgte das Treiben dieser historisch verbürgten Bande für Aufsehen und wurde durch spektakuläre Coups zum Stadtgespräch.

Die Ashley-Gang und ihr kriminelles Treiben

Den Werdegang der Familie, ihr kriminelles Tun und die Rivalität mit der Familie Baker, die als Sheriffs und Deputys auf der gegenüberliegenden Seite des Gesetzes standen, zeichnet James Carlos Blake mit einem sicheren Gespür für Action, Figuren und Lokalkolorit nach.

James Carlos Blake - Red Grass River (Cover)

So vereint Red Grass River Gewalt in Form von Schießereien, Schlägereien und zahlreiche Todesfälle mit Liebe, familiären Zusammenhalt, Momenten der Hingabe und der Lust, Eros und Thanos, Verfolgungsjagden, Gefängnisepisoden bis hin zu unglaublich sinnlichen Schilderungen der Naturlandschaft der Everglades, die als Rückzugsort der Ashleys nicht von ungefähr den Namen The devil’s garden trägt.

Es ist ein intensives Leseerlebnis, das uns James Carlos Blake hier zwischen Galveston und Miami kredenzt. Nicht nur Fans des ausgezeichneten Cowboyspiels Red Dead Redemption 2 kommen hier auf ihre Kosten.

Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung Floridas zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildert Blake Werden und Vergehen, Momente großer Liebe, aber auch Momente ebenso großen Hasses.

Der Reiz von James Carlos Blakes Roman liegt neben dem Erzählbogen mitsamt der meisterhaft geschilderten Szenen von der Flucht per Eisenbahn bis hin zum Schmugglerhandwerk in den Sümpfen auch in der dahinter aufscheinenden Rivalität zwischen Gut und Böse.

Sheriff und Ashley-Gang belauern sich, bekriegen sich – aber wer nun auf welcher Seite von Gut und Böse steht, das ist nicht immer wirklich eindeutig und macht so aus diesem Pageturner auch ein wuchtiges Drama mit Grauschattierungen.

Fazit

Fast meint man die Alkoholausdünstungen, Nebelschwaden und den Pulverdampf während der Lektüre selbst zu riechen. Ein großartiges Gangsterepos in den Sümpfen Floridas zwischen Schwarzbrennern und Fellhändlern, Bankräubern und Sheriffs, Gut und Böse, alter Verbrecherwelt und neuen Betrüger. Das ist ganz große Unterhaltung und wieder mal ein echter Griff, den der Münchner Liebeskind-Verlag hier getan hat!


  • James Carlos Blake – Red Grass River
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • ISBN 978-3-95438-087-9 (Liebeskind)
  • 528 Seiten. Preis: 24,00 €
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