Läuft bei Christian Kracht. Gerade wurde sein vorheriger Roman Eurotrash in der Übersetzung von Daniel Bowles für den International Booker Prize nominiert. Und sein neuer Roman AIR hat es noch vor Erscheinen gleich auf die Nominierungsliste des Preises der Leipziger Buchmesse geschafft. Bleibt nur die Frage – was kann das Buch?
Wenn man Christian Kracht auf etwas festlegen kann, dann wohl die Tatsache, dass man nie so richtig weiß, was einen im nächsten Buch erwartet. Eine wiedererkennbare Sprache, ein über mehrere Bücher hinweg behandeltes Thema, es gibt es kaum.
Stattdessen begründete er mit seinem Debüt Faserland Mitte der 90er Jahre die Popliteratur, schrieb einen historischen Roman über den Nudisten und Kokosnussverehrer August Engelhardt, erzählte in Die Toten von Filmbegeisterung zur Zeit der Weimarer Republik oder griff in seinem letzten Roman das Roadmotiv seines Debüts noch einmal auf, um einen mit den Mitteln der Autofiktion spielenden Text über einen Autor und seine Mutter auf ihrer Reise durch die Schweiz zu erzählen.
Zurück in die Vergangenheit – oder die Zukunft?
Mit AIR begibt sich Kracht nun weit zurück in die Zukunft – oder je nach Lesart zurück in die Vergangenheit. Es sind fast Fantasy-Gefilde, in denen ein Großteil seiner neuen Geschichte spielt, wobei der Text zugleich reichlich antiquiert wirkt. Dabei beginnt alles wie in einem Manufactum-Katalog.
Da ist ein Mann, der fast wie ein moderner Eremit auf einer der Orkney-Inseln lebt. Dort auf der abgelegenen Insel hat er sich in einem Leben eingerichtet, das gut zu den Menschen passt, die dort teuer verkauftes Salz gewinnen, wie man es in einem Manufactum-Katalog finden könnte.
Das Blackthorn Salz wurde durch einen sogenannten Dornenturm gefiltert. Junge Leute hatten eine alte Salzgewinnungsanlage gekauft, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr hatte betreiben wollen, sie hatten beruhigende Fotos gemacht von Kelpsträngen, die auf flache Steine drapiert worden waren, und diese auf Instagram hochgeladen. Dann Schlehdornbüsche in das hohe hölzerne Bauwerk hineingehängt und das Gradierwerk wieder in Betrieb genommen. Das Salz das aus dem Dornenturm unten herausrieselte, wurde in ansprechende schwarze Papierverpackungen gefüllt und in alle Welt verschickt.
Christian Kracht – AIR, S. 21
Der Mann selbst lebt als Inneneinrichter, wird international gebucht für seine Neuinterpretation von Räumen, die sich durch die Radikalität, Exklusivität und den minimalistischen Anspruch seiner Gestaltung auszeichnen. Er radelt unter großen Anstrengungen mit seinem ganglosen Fahrrad aus Schweizer Militärbeständen zur Bäckerei, die einige wenige Sorten Sauerteigbrot und Zimtschnecken im Sortiment führt. Abonniert hat er dort in der Einsamkeit der schottischen Insel das Dekorationsmagazin Kūki, das den Ästhetizismus zur Daseinsform erhoben hat. Eine Anfrage der Kūki-Redaktion führt ihn dabei in ein Abenteuer, das derweil schon im zweiten Erzählstrang des Buchs begonnen hat.
Zwischen den Orkney Inseln und den Ringen der Macht
Darin erzählt Kracht eine archaische Geschichte der Bogenschützin Ildr, die aus Versehen einen namenlosen Mann mit ihrem Pfeil verwundet. Ein Herzog dort im kahlen Land hat zur Jagd auf den Mann geblasen und so stolpern die beiden in ein Abenteuer, das sich schließlich mit Pauls Geschichte verbinden wird, ohne zu viel von dieser Geschichte preisgeben zu wollen.
Was Kracht in seinem neuen Buch präsentiert, ist ebenso rätselhaft wie die Außengestaltung und der Titel seines Romans. Die wahlweise an Alice im Wunderland oder den Plot einer modernen Fantasyserie der Marke Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht erinnernde Geschichte entzieht sich einer klaren Lesart. Elemente der Gegenwart wie 3D-Druckerzeugnisse verbinden sich mit der archaischen Geschichte um den Überlebenskampf der Bogenschützin und des namenloses Mannes, der plötzlich im Wald auftauchte. Auch gebraucht Krachts Text selbst fantastische Bezüge; Merlin und Lanzelot sind ein an mehreren Stellen auftauchendes Motiv. Als Schlüssel für die Geschichte funktionieren sie für mich aber auch nicht wirklich, sodass ich etwas ratlos über eine mögliche vertiefende Aussage von AIR grübele,
Der Wagen führt aus der Stadt hinaus auf eine Autobahn und dann hintereinander über mehrere Fjordbrücken, die Paul meinte, aus irgendeinem Film wiederzuerkennen. Es war überhaupt alles wie in der Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum.
Christian Kracht – AIR, S. 102
Dass Kracht zu schreiben vermag, das steht außer Frage. Egal ob die actionreiche Überlebensfabel im Niemandsland oder die im manierierten Tonfall dargebrachte Geschichte Pauls auf den Orkney-Insel. AIR hat Drive, der von Kracht vorgebrachte Bogen funktioniert. Die aus dem großzügig gesetzten Text herausgenommenen Dialoge mit Spiegelstrichen, die alte Rechtschreibung, die hier angewandt wird. Alles ist von gestern und modern zugleich. Aber doch bleibt die Frage – hat diese Geschichte über ihren Unterhaltungswert hinaus etwas zu bieten? Ist es Erinnerung, Film oder Traum?
Blickt man über die eigene Lesart des Buchs auf die der Expert*innen in den professionellen Feuilletons, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch bei ihnen eine gewisse Ratlosigkeit vorherrscht.
Knut Cordsen findet den Roman in seiner Besprechung für den Bayerischen Rundfunk „airratisch“, Carsten Otte sieht Bezüge zu Game of Thrones und empfiehlt die Lektüre anstelle von Netflix-Konsum und Adam Soboczynski reiste gar drei Tage mit Christian Kracht durch Indien, um das Geheimnis seines neuen Romans zu ergründen. Im Podcast der Zeitschrift diskutieren Ijoma Mangold und Lars Weisbrod eine Stunde lang über das Buch und fassen das Fazit so in Worte: Air ist ein großer Roman, weil er, wie so oft bei Kracht, am Ende eben auch ein rätselhafter, mystischer Roman ist – und ein gegenwärtiger.
Fazit
Macht das Rätselhafte, Mystische Krachts Buch zu einem großen Roman oder ist das alles viel Luft um Nichts? Ich bin mir da nicht sicher.
Um die eingangs aufgeworfene Frage nach der Qualität des neuen Buchs auf persönliche Art zu beantworten: Auf alle Fälle kann man in AIR Absage an den Realitätsfetisch der Gegenwartsliteratur erkennen, ein lustvolles Austoben in Fantasy-Gefilden konzedieren und gar den Versuch der Überführung dieser Genre-Literatur in die Hochliteratur ausmachen. Aber genügt das für einen großen Roman? Es ist und bleibt ein Rätsel.
- Christian Kracht – AIR
- ISBN 978-3-462-00457-1 (Kiepenheuer & Witsch)
- 224 Seiten. PReis: 25,00 €