Category Archives: Literatur

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück

Von einer Familie kommt Anne Rabe in ihrem Debütroman Die Möglichkeit von Glück auf einen ganzen Staat und dessen Nachwirkungen, nämlich die DDR. Deren Nachwirkungen und den Wechselwirkungen von Staat und Bewohnern spürt dieser Roman mit schon fast essayistisch-soziologischen Zügen nach. Vom Kleinen kommt die Autorin so auf das Große – und zielt mitten hinein in unsere Gegenwart.


35 Jahre nach dem Mauerfall beziehungsweise der Wende gibt es wieder einen Boom an Texten und Analysen, die sich mit dem Osten Deutschlands und der Geschichte der DDR beschäftigen. Unlängst wurde Jenny Erpenbeck für ihren Roman Kairos der International Booker Prize zugesprochen – zum Erstaunen einiger Kommentatoren hierzulande. So war dieses Buch bei Erscheinen hierzulande für keinen der großen und aufmerksamkeitsstarken Preise, weder den Preis der Leipziger Buchmesse noch den Deutschen Buchpreis nominiert worden, traf aber nun international den Nerv der Kritikerjury.

Viel Aufmerksamkeit und mindestens ebenso viel Tadel fing sich auch die Historikerin Katja Hoyer mit ihrem Blick auf die DDR unter dem Titel Diesseits der Mauer – eine neue Geschichte der DDR ein. Und dem Germanisten Dirk Oschmann gelang mit dessen Erregung Der Osten – eine westdeutsche Erfindung ein veritabler Longseller, der dem Autor auch viel medialen Raum gab, um seine Thesen zu verbreiten.

Vom aktuellen Boom abgesehen ist die literarische und soziologische Beschäftigung mit dem untergegangenen Staat bis hin zu den Auswirkungen der Wiedervereinigung aber eine dauerhaftes. Oft sind es Bücher mit DDR-Bezug, die beim Deutschen Buchpreis gewinnen (man denke nur an Uwe Tellkamps Der Turm oder Kruso von Lutz Seiler).

Biografisch grundierte Blicke auf die DDR

Auch in Sachen Sachbuch erregt die Beschäftigung mit der DDR viel Aufmerksamkeit, etwa Steffen Maus Untersuchung des Lebens in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, das er 2019 durch die biografische Brille betrachtete. Der vielbesprochene Titel trug jenen Ort im Namen. in dem Mau selbst einst in der DDR aufgewachsen war, nämlich der Rostocker Stadtteil Lütten Klein. Und auch Ines Geipel blickte im selben Jahr biografisch gefärbt auf die DDR und ihre Nachwirkungen, indem sie in Umkämpfte Zone auch die eigene Biografie und Familiengeschichte als Anlass nahm, um mithilfe der Geschichte ihres Bruders auf den Osten und den Hass zu blicken, der sich dort nicht nur in Progromen wie dem von Hoyerswerda oder in Rostock Bahn brach und immer wieder bricht.

Oftmals werden solche Bücher auch als Erklärstücke für die latente Fremdenfeindlichkeit, die Tendenz zu autoritären Regimen und mehr gelesen. Auch Anne Rabes Buch, das mit Ines Geipel nicht nur die Herangehensweise über eine Familie, sondern auch den herausgebenden Klett Cotta-Verlag teilt, funktioniert neben dem erzählerischen Inhalt auch ein Stück weit als Erklärstück für jenen Landesteil, indem es ein Viertel aller Wähler bei einer Landratswahl vertretbar fand, einen einschlägig bekanntem Neonazi die Stimme zu geben.

Was da los im Osten sei ist eine Frage, die die Medien gerne stellen. Wer Die Möglichkeit von Glück gelesen hat, kann das zumindest ein wenig besser beantworten.

Ausgangspunkt ist wieder einmal eine Familie, die auf ihre ganz eigene Art unglücklich ist. Stine, die Erzählerin, blickt in diesem in Erinnerungs- und Betrachtungsfetzen erzählten Text auf ihre eigene Familie, in der die Lieblosigkeit zu einer hervorstechenden Eigenschaften zählt.

Zwar war die Mutter in der DDR Erzieherin, mit den heutigen pädagogischen Konzepten von Bedürfnisorientierung und Kindeswohl hatte die Erziehungsschule der Mutter aber überhaupt nichts gemein. Schläge, Lieblosigkeit, Sprechverbote und Gewalt waren Mittel, derer sich ihre Mutter bediente und die das Aufwachsen von Stine und ihrem Bruder Tim kennzeichneten.

Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir übere unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück, S. 26

Von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie bis zu den Baseballschlägerjahren

Nun, da Stine selbst Mutter ist, blickt sie auf ihre eigene Kindheit, die Familie und die mannigfaltigen Brüche in diesem familiären Verbund. In Rabes Roman lässt sich eine glaubwürdige Linie ziehen von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie über physischen und vor allem psychischen Schmerz in der Schulzeit bis hin zur omnipräsenten Gewalt der Baseballschlägerjahre. Auch der erste Amoklauf auf deutschem Boden, der sich 2022 an einer Schule im thüringischen Erfurt ereignete, fügt sich konsequent in Stines Nachdenken über die Verletzungen, die sie und mit ihr so viele andere Menschen in diesem System namens DDR erlitten haben.

Es sind solche Reflektionen und Erinnerungen, die verdichtet und verklebt die Stärke dieses Textes ausmachen.

Durch die Recherche über ihren eigenen Großvater in Archiven und Stasi-Unterlagenbehörden findet auch so etwas wie ein dramatischer Bogen und eine Entwicklung in diesen Text, den vor allem die starke Introspektion kennzeichnet. Die Verletzungen und Gewalterfahrungen im Kleinen werden hier auch zum Erklärmuster für einen Staat im Ganzen, der von der Bespitzelung der eigenen Bürger bis zur Inhaftierung von nicht-systemkonformen Bürger und Erschießung von Fluchtwilligen keine Unterdrückungsmöglichkeit ausließ.

Fazit

Mit diesem von Erinnerungssplittern und Erkenntnis gespickten Roman mit geschichtlich-soziologischer Tiefe gelingt es Anne Rabe, so etwas wie ein Bindeglied zwischen der Belletristik und den schon erwähnten Arbeiten etwa von Steffen Mau oder Ines Geipel herzustellen. Ein Roman, der auf interessante Art und Weise den Verletzungen einer Familie und deren Kind nachspürt, der in Zeiten des Erstarkens rechter Kräfte besonders im Osten Erkläransätze liefert und der sich nicht mit einfachen Wahrheiten begnügt.

Dass Anne Rabe mit diesem Debüt gleich für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert war, das ist folgerichtig, denn hier lässt eine Autorin zwar ihre Heldin zurücklicken, dieser Blick ist aber zugleich auch einer, der nicht nur die Brüche einer Familie und eines Staates nachzeichnet, sondern eben auch von hoher Aktualität und analytischer Kraft ist.


  • Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück
  • Büchergilde-Nr.: 175223
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre

Eine Villa vor den Türen Nürnbergs, die Geschichte ihrer Bewohner*innen und mittendrin ein psychisch nicht ganz so gefestigter Erzähler, der tief in die Historie der Villa und der Umgebung eintaucht. Davon handelt Monika Zeiners Roman Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre, in dem die Unschärfe nicht nur im Titel regiert.


Bayern und Franken, das ist eine althergebrachte Antipathie. Grundsätzlich stolz auf ihre Identität – oder besser Idendidäd – ist, klafft zwischen den Franken und dem Rest des Freistaats im Süden nicht nur sprachlich eine Kluft. Während der Süden prosperiert, erfolgreichen Fußball spielt und sich einer reichhaltigen Kulturszene rühmen kann, ist es um Franken nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in der Kunst nicht ganz so rosig bestellt. Abgesehen von Bestsellerautor Ewald Arenz gibt es wenig Literaturschaffende, die das Land zwischen Weißenburg und Würzburg, Coburg und Bamberg auf das literarische Tapet heben. Die Großtat von Fitzgerald KuszSchweig Bub ist nun auch schon wieder fast ein halbes Jahrhundert her – seitdem hat die Literatur das Frankenland fast vergessen, wie es manchmal scheint.

Monika Zeiner, selbst gebürtige Würzburgerin, macht sich nun daran, das zu ändern. Sie, die 2013 für ihren Debütroman Die Ordnung der Sterne über Como für den Deutschen Literaturpreis nominiert war, liefert nun elf Jahre später mit Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre ihren zweiten Roman ab. Handlungsort ist das fiktive Städtchen Gründlach in der Nähe Nürnbergs. Dort, eingebettet zwischen den Fabriken von SchwanStabilo, Faber-Castell, Staedtler und der Lyra-Bleistiftfabrik liegt sie, die Villa Sternbald, der der Erzähler Nikolas Finck entstammt.

Ein Familienroman aus Franken

Der Reichtum seiner Familie gründet auf einer Firma, die sich in diesen Landstrich reich an Schreibmaterialien produzierendem Gewerbe hervorragend einfügt. Denn Niklas Ururgroßvater Ferry erfand einst ein Schulmöbel namens Columba-Schulbank. Bis in die deutschen Kolonien reichte die Verbreitung dieses Möbels, für das er 1897 auf der Erfindermesse in Paris sogar einen Preis zugesprochen bekam und den Grundstein der Schulmöbelfabrik Finck legte.

Monika Zeiner - Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre (Cover)

Weitere Möbel-Innovationen anderen Generationen von Fincks sollten folgen, darunter etwa ein Kufenstuhl, der den Erfolg der Fincks in neuere Zeiten überführte. Nun steht sogar ein potentieller Börsengang ins Haus, Unternehmensberater sind in der Villa Sternbald zu Gast – und auch Nikolas kehrt heim in das mittlerweile etwas abgewohnte Zuhause mit Blüthner-Flügel und weggeschlossenen Fotografien und Erinnerungen in der Dachkammer.

Während Nikolas sich nach einem Vorfall an einem Filmset zurückgezogen hat und ein Drehbuch-Treatment aus seiner Feder gerade beim Bayerischen Rundfunk liegt, ist er nun zurück nach Gründlach gekehrt, um ein Wochenende im Schoß der Familie zu verbringen. Doch nicht nur an dieser Stelle grüßt Thomas Manns Zauberberg, wenn sich der eigentlich als kurzer Aufenthalt gedachte Besuch im Haus auf dem Hügel sich zusehends verlängert.

Die Zeit dort im Fränkischen nutzt Nikolas nun, um sich in die Geschichte der Fincks einzugraben, die von anderen Gründlachern auch „Erzgauner“ geheißen wurden. Es überlagern sich Episoden der Großväter und Ur-Großväter – und nicht nur die Unternehmensberater tauchen in die Zahlen und Geschichte der Firma ein. Auch Nikolas blickt im Lauf des Buchs genauer auf das familiäre Erbe und die eigenen Defekte, die das Erbe bei ihm gezeitigt hat.

Ein geschärfter Blick und viel Unschärfe

Dabei ist es ein durchaus bemerkenswerter Widerspruch in diesem Roman, dass sich zwar auf den letzten Seiten dieses Buchs der Blick von Nikolas auf die eigene Geschichte und die Basis des wirtschaftlichen Erfolgs der Schulmöbelfabrik schärft – das Buch aber weitestgehend auf die titelgebende Unschärfe als Erzählkonzept setzt. Denn so etwas wie einen klaren Fokus oder eine erzählerische Stoßrichtung weist Monika Zeiners über 660 Seiten starkes Buch nicht auf. Im Gegenteil.

Vielleicht hört Emmy ungern Wagner, weil sie ihm darin nicht begegnen will. Einmal, vor langer Zeit, hat er ihr einen Klavierauszug des „Tristan“-Vorspiels geschenkt. Er stellte ihr die Noten hin. War das noch vor dem Großen Krieg? Sie spielte die ersten Töne, den Tristan Akkord, wie fragend tastete sie sich in die Musik, die sich unter ihren Fingern dehnte, immer weiter dehnte sie die Harmonik, die Ordnung der Töne, die Sehnsucht, sodass ihr Körper vom tosenden Klang hin und her geworfen wurde wie von einem Sturm und sich alles zu überschlagen schien, weiter, höher, noch höher taumelte die Musik, ins Unendliche, bis Emmy mitten im Spiel abbrach.

Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre, S. 424

Jener hier anklingende Tristan-Akkord, den Richard Wagner in seinem Musikdrama Tristan und Isolde in das Vorspiel hineinkomponiert, beschäftigt in seiner Uneindeutigkeit bis heute die Musiktheoretiker. Monika Zeiner ist nun das Kunstwerk gelungen, mit Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre eine Art literarischen Tristan-Akkord vorzulegen.

Überlagerungen und Interferenzen

Denn auch hier überlagert sich alles und lässt sich nicht wirklich eindeutig zuordnen. Erzählte Vergangenheit und Gegenwart, Generationen, innere und äußere Handlung, alles steht miteinander in Wechselwirkung und sorgt für Interferenzen und Irritation.

Nikolas taucht in seine Erinnerungen an seine eigene Kindheit ein, ruft in Erinnerungen sein Aufwachsen in der Villa Sternbald auf und blick auf die psychologische Zerrüttung, die sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. So erfand er sich ein Alter Ego als Aerophonautiker, erging sich in Lügen und bewahrt bis heute ein schwankendes Verhältnis zur Realität, was Monika Zeiner gekonnt zu schildern vermag.

Überhaupt ist es die psychologische Komponente, die die Autorin in ihrem Roman noch viel mehr als Äußerlichkeiten oder eine klar konturierte Gestaltung ihrer Figuren interessiert. Egal ob zeitweise Affäre mit seiner Schwägerin und die noch existente Anziehung für eine Kindheitsfreundin, ein medizinischer Eingriff und das Ende von Nikolas einstiger Beziehung, alles bleibt so ungefähr wie auch die ökonomische Gegenwart der Firma, die von den Unternehmensberatern aktuell durchleuchtet wird.

Erzählerischer Nebel

Villa Sternbald oder die Unschärfe der Jahre ist voller Nebel, der sich hier zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Schweigen und Betrachtungen ausbreitet. Das ist sehr stimmig, ist dieser Nebel doch auch erprobtes Mittel der Familie, um sich selbst den Blick auf die eigene Geschichte und der Herkunft des Familienvermögens eben zu „vernebeln“.

Durchblick bekommt man als Leser so allerdings auch nicht unbedingt, insbesondere wenn sich Nikolas in manischen Monologen in Gesprächen ergeht, die sich über Seiten erstrecken. Mir schien während der Lektüre an vielen Stellen, als ob Monika Zeiner selbst etwas der Durchblick ob der ganzen Stoff- und Motivfülle verlorengegangen wäre.

Will Villa Sternbald oder die Unschärfe der Jahre nun eine Familienchronik einer fränkischen Familie seit dem Beginn des 19 Jahrhunderts sein oder soll der Roman die psychologischen Verwundungen einer Unternehmerdynastie nachspüren – oder will der Roman gar ein Bild der Pädagogik und Erziehung vom Kaiserreich bis in die Gegenwart hinein zeichnen? Alles ein wenig – aber nichts so wirklich überzeugend, wie es sich für mich nach der Lektüre der knapp 700 Seiten darstellt.

Klarerer Fokus hätte mir den Zugang zu Monika Zeiners Roman erheblich erleichtert. Das Buch fordert in seiner opaken Gestaltung heraus und weiß seinen erzählerischen Punkte, allen voran der kritischen Aufarbeitung von Unternehmensgeschichte im Dritten Reich, leider auch nicht viel Neues hinzuzufügen.

Fazit

So ist Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre leider nicht der große Wurf, der Franken zurück auf die literarische Deutschlandkarte bringt, obgleich zwischen Waischenfeld und strömender Pegnitz, Sebalduslegende und Nürnberg-Spaziergang jede Menge Lokalkolorit auch kritischer Natur enthalten ist. Etwas weniger Unschärfe, mehr Fokus und eine klarere Erzählabsicht wären hier zumindest für mich die Gestaltungsmittel gewesen, die Monika Zeiners Buch mehr literarische Durchschlagskraft verliehen hätten.

Eine ausführliche Analyse von Jan Drees findet sich auf dessen Blog Lesen mit Links.


  • Monika Zeiner – Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre
  • ISBN 978-3-423-44496-5 (dtv)
  • 672 Seiten. Preis: 28,00 €
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Tony Burgess – Idaho Winter

Wer bislang gezögert hat, LSD auszuprobieren, für den gibt es nun gute Nachrichten. Denn wer Idaho Winter des US-amerikanischen Autors Tony Burgess liest, der braucht keine Drogen, um einen halluzinogenen Rausch zu erleben. Die Lektüre dieses Romans reicht vollkommen aus, um einem Fiebertraum irgendwo zwischen postmodernen Erzähltheater und absurdem Drogentrip beizuwohnen.


Schon die ersten Seiten lassen einen leichten Zweifel am dort zu Erlebendem aufkommen. Eine nicht näher benannte Kleinstadt wird da inszeniert. Es ist eine Kleinstadt, in der sich alle gegen den Jungen Idaho Winter verschworen haben. Reell scheint durch die überzeichneten Grausamkeiten schon hier nichts. Denn nicht genug, dass der Vater den Jungen zwingt, zum Frühstück einen toten Waschbären zu verspeisen und sich mit dessen Schwanz die Zähne zu putzen. Die Schulweghelferin wartet gezielt auf Idaho, um diesen vor die vorbeikommenden Autos zu stoßen – und als das keinen Erfolg zeitigt, steuert sie kurzerhand selbst einen LKW, um Idaho zu überfahren.

In dieser wunderbaren alten Stadt, in der Kinder in selbstgebauten Seifenkisten die sanften Hänge sicherer Straßen hinabsausen und lächelnde Großmütter auf den Fensterbänken ihre Kuchen abkühlen lassen, wird einem Jungen so viel Böses gewünscht – und zwar von allen und jedem – dass eine vollkommene Harmonie finsterer Abneigung entsteht.

Tony Burgess – Idaho Winter, S. 33 f.

Kleinstadtbewohner züchten gezielt Hunde, die Idaho zerfleischen sollen, der Schulhausmeister bewahrt extra zwei Beile in seiner Besenkammer auf, um Idaho damit zu zerstückeln. Polizisten, Klassenlehrerin, sie alle scheinen im Sadismus vereint und wollen Idaho mindestens quälen, am besten töten.

Die Jagd auf Idaho Winter

Tony Burgess - Idaho Winter (Cover)

Schon hier scheinen Zweifel auf, schließlich fallen diese ersten Seiten des Romans insbesondere durch ihre Überzeichnung auf. Der märchenhaft-cartooneske Ton des Erzählens enthebt Idaho Winter schon hier eigentlich jeglichen Realismus´, schließlich nähme man nicht einmal einem besonders düsteren Noir eine solche Überdrehtheit ab.

Dies folgenden Seiten lösen dann diese auf den initialen Seiten angedeutete Überdrehtheit vollkommen ein. Denn der Erzähler, der sich zunächst nur dezent aus dem Hintergrund in die Erzählung eingemischt hat, fällt plötzlich aus der Geschichte und sieht sich selber den Gefahren jenes Kosmos ausgesetzt, den er zuvor Idaho zugemutet hatte.

Es ist ein Kosmos, der einem Fiebertraum gleicht. Zitiert der Klappentext des im Wagenbach-Verlag erschienenen Buchs Roald Dahl und Lewis Carroll, so ist das durchaus zutreffend. Denn ähnlich wie bei den beiden britischen Autoren reizt auch Anthony Burgess die Fantasie und Kreativität in Sachen skurrilem Worldbuilding ganz aus.

Ein Erzähler im erzählerischen Taumel

So bekommt es der Erzähler, nun selbst zu einer Figur in diesem Erzähltheater geworden, mit Dinosauriern in der Form von Velociraptoren zu tun. Seltsame Fabelwesen, Mombats genannt, chimärenähnliche Mutter-Fledermäuse, flattern umher, Flüsse voller Blutegel und anderer Gefahren gilt es zu durchqueren.

Es tauchen Figuren der bisherigen Geschichte auf, darunter auch die sadistische Klassenlehrerin oder das Mädchen Madison, das Sympathie für Idaho hegte und nun als Figur wiederkehrt, die in einem Bett schläft und der man sich nicht ganz nähern kann, ohne von abgrundtiefer Trauer erfasst zu werden. Zu allem Überfluss gesellen sich dann auch noch die Mitglieder der Band Greenday zum Gestaltenensemble, die hier ebenfalls ein Eigenleben führen. Der Erzähler durchwandert skurrile Welten, die wiederum von der Vorstellungswelt Idahos beeinflusst scheinen.

Alles gleicht einem Albtraum wie ihn Idaho auf den ersten Seiten des Buchs selbst durchleben musste. Ist es nun eine Rache oder ein Traum im Traum, der den Erzähler peinigt? Da hilft es alles nichts, wenn er uns als Lesende an einigen Stellen im Buch auffordert, die Lektüre abzubrechen oder zu anderen Seiten weiterzuspringen – gemeinsam ist man in dieser Welt gefangen und erlebt auf gut 130 Seiten einen wilden Rausch, der die Einnahme von LSD oder anderen halluzinogenen Substanzen mühelos ersetzt.

Fazit

Es ist ein wildes Erzähltheater, auf das man sich wirklich einlassen muss und das sicherlich nicht jedermanns Sache ist. Dem Realismus verhaftete Leser*innen dürften an Idaho Winter sicherlich nur wenig Freude finden. Allzu abgedreht und überbordend sind diese Welten, die Tony Burgess hier entwirft und durch die er seine Figuren jagt.

Wer Freude an postmodernem Erzählen hat, wie es beispielsweise Matthias Senkel in seinem Roman Dunkle Zahlen oder Petra Piuk und Barbara Filips in ihrem Vegas-Trip Wenn Rot kommt dargeboten haben, der dürfte auch mit Idaho Winter seinen Spaß haben. Günstiger und risikoärmer kommt man der Erfahrung eines halluzinogenen Trips nicht näher!


  • Tony Burgess – Idaho Winter
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-8031-3370-0 (Wagenbach)
  • 144 Seiten. Preis: 18,00 €
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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Was ist nicht schon alles über die Ewige Stadt geschrieben worden. Als Ziel der Grand Tour, Magnet für Touristen, Bildungsreisende und Künstler*innen seit jeher ist eine schon eine unmöglich zu überblickende Fülle an Büchern über die italienische Hauptstadt geschrieben worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch über die Faszination Rom? Unbedingt, wenn der Verfasser des Ganzen Golo Maurer heißt.

Denn er legt mit Rom – Stadt fürs Leben einen persönlichen Blick auf jene Stadt vor, die ihn ebenso begeistert, wie sie ihn mit ihren Eigenheiten manchmal schier den Verstand zu kosten scheint. Aber selbst alle Verzweiflung ist hier doch auch nur eine etwas geartete Form von Rom-Liebe, an der er seine Leserinnen und Lesers enorm vergnüglich und sprachlich burlesk teilhaben lässt und mit der er auf den Spuren von Ferdinand Gregorovius wandelt.


Strenggenommen ist ja schon eigentlich fast alles über die Stadt am Tiber geschrieben worden, mit ihren Nebeneinander von Kirchen, Kunstwerken, dolce vita und sprezzatura. Alleine in diesem Herbst erscheinen dutzende Publikationen, die sich – besonders bedingt durch den Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse – mit dem Zauber Roms befassen. Auch Golo Maurer fügt sich in diese Riege an Titeln ein, ragt aber zugleich mit seinem persönlichen Blick auf die Stadt aus dieser Riege heraus.

Denn ihm gelingt mit Rom – Stadt fürs Leben eine großartige Einführung in das, was es heißt, Römer zu sein in einer Stadt, die mit ihren Eigenheiten von Zeit zu Zeit herausfordert, verzweifeln lässt, aber am Ende immer beglückt. Kundig und mit einem bewundernswerten Sinn für Sprache, Timing und Übertreibung lässt er uns alle an diesen Emotionen teilhaben, die die Ewige Stadt hervorzurufen im Stande ist.

Parolacce, ÖPNV und Marmortische

Golo Maurer - Rom - Stadt fürs Leben (Cover)

Dabei lässt Maurer bei seinem persönlichen Blick so gut wie nichts aus. Einführung ins Parolacce, den Gebrauch von Schimpfwörtern, über die Tücken des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt bis hin zum Lebensgenuss, reichend vom Zauber der Marmortische in Trattorien bis hin zum Barbier.

Acht Kapitel nebst Vor- und Nachrede bilden den Korpus dieses Buchs, das beginnend mit dem Historie Roms und ihren Hügeln über Themen wie die römische Politik bis hin zu den „Römischen Idyllen“ führt. Darin beschreibt Maurer seinen eigenen Blick auf das Leben in Rom in einem sprachlich höchst eleganten und mit Humor punktenden Erzählstil.

Mal ist es die Verzweiflung, wenn der Bus Assoziationen zu Herman Melvilles Moby Dick weckt, gleicht schließlich das Ausharren nach dem legendären Wal an Bord der Pequod dem Warten auf der Haltestelle, wenn sich keine Sichtung des begehrten Fahrzeugs einstellen mag. Mal lässt er sich über die unerschütterliche Liebe der Italiener zum Plastik und dessen Nicht-Entsorgung aus. Sein Groll über das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen, sondern ebendiese gleich in Plastik eingestretcht werden, ist nicht nur durch den Blick des Deutschen auf die Eigenheiten der Römer höchst komisch.

Abrechnung und Hommage

Rom – Stadt fürs Leben ist so nicht nur eine Abrechnung und Hommage an das Leben in der Ewigen Stadt, es ist auch ein schönes Mittel, sollte man von einem akuten Anfall von Sehnsucht auf das Dolce Vita in der italienischen Hauptstadt heimgesucht werden. Man schlendert mit dem Autor durch die Trattorien oder wird bei einer wagemutigen Wanderung von Rom nach Neapel (die in Ton und Gestus an die großen Abenteuer der Grand Tour vergangener Zeiten gemahnt) sogar gefährlichen Raubtieren ansichtig.

Liest man Maurers Buch, mag man zwar von manchen Aspekten des Lebens dort auf den Hügeln Roms abgeschreckt sein – umso größer ist aber die Begeisterung für die Stadt, hat man dieses Buch beendet. Es weckt Sehnsucht und zeigt uns Deutschen auf, wie es gehen kann, mit der Kunst des schönen Lebens.

Unterhaltsam, sprachlich elegant, hochkomisch, ehrlich sind die Betrachtungen von Leben und Leben Lassen, vom Wandel in der Stadt und der Faszination für sie, die sich doch seit jeher erhalten hat und dies gewiss noch lange tun wird. Nicht nur im Zuge des Gastlandauftritts als Einführung in das römische Leben dieses modernen Gregorovius ist dieses Buch höchst lesenswert!


  • Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
  • ISBN 978-3-498-00380-7 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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