Category Archives: Literatur

Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €
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Nathan Hill – Wellness

Wie kann sie aussehen, die moderne Ehe? Nathan Hill unternimmt in seinem zweiten Roman Wellness einen vielschichtigen Erkundungsversuch und spürt ihr in den Weiten Kansas‘, im gentrifizierten Chicago und sogar im Swingerclub nach. Ein großartiges und abwechslungsreiches Leseerlebnis, trotz seines Umfangs keineswegs zu lang!


Kommst du? Mit diesen Worten beginnt die Liebesgeschichte, die im Mittelpunkt von Nathan Hills neuem Roman steht.

Erwies sich Hill mit seinem Erstling Geister als hellsichtiger Prophet, der noch vor der Wahl Donald Trumps am Rande seines Romans von einem egoistischen und wenig präsidialen republikanischen Präsidentschaftsbewerber erzählte, so hat er sich für seinen zweiten Roman die Gabe des genauen Blicks bewahrt. Dies stellt er unter Beweis, indem er von Jack Baker und Elizabeth Augustine erzählt, die sich schon seit geraumer Zeit als anonyme Beobachter ihrer gegenüberliegenden Wohnungen im Chicagoer Stadtviertel Wicker Park vertraut waren.

Nathan Hill - Wellness (Cover)

Aber erst ein Abend im Jahr 1993 sorgt dafür, das aus den Voyeuren ein wirkliches Paar wird. Denn Jack fotografiert in der vielfältigen Musikszene, als er an einem Abend bei einem Gig aufstrebender Bands seine so häufig beobachtete Nachbarin Elizabeth entdeckt. Mit einem „Kommst du?“ lockt er diese zunächst in die Chicagoer Nacht hinaus und wenig später in ein gemeinsames Leben hinein.

Dieses Leben steht im folgenden reichlich wilden, aber erzählerisch höchst durchdachten Montagegewitter im Mittelpunkt und wird von Hill von allen Seiten betrachtet. Dafür springt er in der Zeit nach vorne, zeigt Elizabeth und Jack als Eltern eines Sohnes, um dann auf die Herkunft der beiden zu blicken und vom Aufwachsen Jacks als schwächlichem Farmerkind in Kansas und Elizabeth als Erbin alten Geldes zu erzählen. So geht es in diesem Roman hin und her, der auch wie schon in Hills erstem Roman mit seinem Formenreichtum und den erzählerischen Einfällen überzeugt, wodurch sich die 730 Seiten deutlich kurzweiliger anfühlen, als es die schiere Zahl glauben machen will.

Die Frage nach der modernen Ehe

Die Widersprüchlichkeit in der Herkunft ist in Wellness genauso Thema wie die allesüberlagernde Frage, wie eine Ehe heute aussehen kann und wie das überhaupt gelingt, ein Paar zu sein.

Elizabeth hörte zu, während Kate sagte, das Problem moderner Ehen sei eigentlich das ständige Zusammensein, all die Vertrautheit, dieser dumme Drang, vollständig mit dem anderen zu verschmelzen, dabei könne eine Ehe nur die Jahrzehnte überdauern, wenn man ihr etwas Mysterium, Distanz und Eigenständigkeit injiziere, und als Elizabeth das hörte und sich ein Leben in völliger Unabhängigkeit ausmalte, gelegentlich gewürzt mit einer vergnüglichen und ethisch vertretbaren Affäre mit einem gut aussehenden Fremden in einer von allen Verantwortungen der Ehe oder der Elternschaft befreiten Nacht, wusste sie augenblicklich: Das war endlich eine Geschichte, die sie glauben konnte.

Nathan Hill – Wellness, S. 452

Wie Umgehen mit Routine und Vertrautheit? Welchen Konzepten als Paar kann man folgen und wie viel Freiheit bedarf das eigene Zusammensein? Soll es eher das Konzept der offenen Ehe sein, wie von Bekannten praktiziert, oder gleicht das eigene Miteinander eher dem Konzept, wie es etwa der Maler Grant Wood in seinem ikonischen Werk American Gothic zeigt?

Nicht nur an diesem Punkt müssen Elizabeth und Jack erkennen, dass sie eigentlich an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen und dass sie trotzdem zusammengefunden haben.

Wie zu einem Konsens finden, wie leben?

Als sich die beiden entschließen, ihr Erspartes in den Traum eines gemeinsamen Zuhauses zu stecken, treten auch hier große Differenzen und Herangehensweisen zutage. Während Elizabeth offene Fronten in der Küche und zwei verschiedene Eingänge in die Wohnung präferiert (eine gemeinsames Zuhause hat man ja schließlich für immer, die gemeinsame Beziehung nicht automatisch), ist Jack von einem solchen Ansinnen und solchen Überlegungen vollkommen befremdet.

Dabei stehen seine beiden Figuren nicht nur qua Herkunft für Antipoden. Während sich Jack in seiner Tätigkeit als wenig erfolgreicher Künstler und Dozent eingerichtet hat, strebt seine Frau nach mehr, nicht nur in der Erziehung des Sohnes, den sie als Psychologin studiengestützt bestmöglich erziehen will. Sie die neugierige und experimentierfreudige Placeboforscherin, er der Stoiker, den nur der Chat mit seinem verschwörungsgläubigen Vater in Rage zu versetzen vermag. Wie können die beiden zu einem Konsens finden – und geht so etwas überhaupt?

Immer tiefer bohrt sich Nathan Hill in die Psyche und die Beziehung seiner beiden Hauptfiguren hinein, lotet ihr Zusammensein aus und legt Schicht um Schicht die beiden gegensätzlichen Charaktere und deren Formungsgeschichte offen. Neben diesen achronologischen Tiefenbohrungen gelingen ihm darüber hinaus auch immer wieder grandiose Pointen und ebenso grandiose Passagen wie die Nacherzählung des Abgleitens des eigenen Vaters in die Verschwörungswelt des Internets, dargeboten in Form von sieben Algorithmen. Hier blitzt wieder die Aktualität und Passgenauigkeit für unsere Tage auf, die Hill schon in Geister an den Tag legte.

Fazit

Schrieb ich vor acht Jahren im Rahmen meiner Kritik zu Geister, dass sich hier ein verheißungsvoller junger Literat am Spielfeldrand aufwärme, um den altgedienten Recken des Great American Novel bald den Rang abzulaufen, so ist er mit Wellness für meine Begriffe nun wirklich im Spiel und mischt vollends bei den Großen des Genres mit.

Seine höchst unterhaltsame Schilderung der Ehe eines gegensätzlichen Paars vermag durch genaue Beobachtungsgabe, literarischen Formenreichtum und eine klug gewählte Montagetechnik zu überzeugen. Das ist Literatur auf der Höhe der Zeit, die Herz und Hirn gleichermaßen anspricht und nur so durch die Seiten fliegen lässt. Eine echte literarische Wellness-Behandlung, und das garantiert Placebo-frei!


  • Nathan Hill – Wellness
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-492-07214-4 (Piper)
  • 736 Seiten. Preis: 28,00 €
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Gaea Schoeters – Trophäe

Menschenjagd in Afrika. In ihrem Roman Trophäe fragt sich die flämische Autorin Gaea Schoeters, was passiert, wenn sich ein Jäger bei seiner Jagd sprichwörtlich nicht mehr nur auf Tiere einschießt. Ein Roman mit einer spannenden Fragestellung, der auch die Leserinnen und Leser vor moralische Dilemma stellt und der gut in die Riege ethischer Grenzauslotungen in privilegierten Milieus á la Saltburn passt.


Hunter White. Gibt es einen besseren (wahlweise auch platteren) Namen, um einen Großwildjäger in eine Geschichte zu verpflanzen? Die Niederländerin Gaea Schoeters schickt den Jäger, der diesen Namen trägt, auf Großwildjagd in Afrika. Seine Biografie bleibt dabei ebenso nebulös wie sein Name funktionell. Außer Andeutung erfährt man wenig über ihn. Sein Job, die familiären Verhältnisse, alles schmückende Beiwerk bleibt hier recht schematisch auf das Nötigste reduziert – ebenso wie der Handlungsort irgendwo in Afrika, bei dem Schoeters ebenfalls auf eine genaue Verortung verzichtet. Vielmehr sind die Jagdgelüste des Mannes beziehungsweise die Motivation für sein Tun die beherrschenden Themen in ihrem Roman.

Seit zwei Jahren treibt diesen Hunter White schon der Plan des Abschusses eines Nashorns um. Viel Geld hat er berappt, um dort in Afrika endlich ein Exemplar vor seine Büchse zu bekommen. Und nun ist es endlich soweit. Zusammen mit dem Jagdleiter van Heeren und ein paar Spurensuchern macht er sich auf die Suche nach einem alten Nashornbullen, der von seiner Herde ausgestoßen wurde und dessen Existenz das Gleichgewicht der Nashornsippe bedroht (so zumindest die Argumentation, die den Abschuss des Tieres in der freien Wildbahn mit gutem Gewissen rechtfertigt).

Die Männer streifen im Busch umher und machen das Tier schnell aus – und nach einigen Verwicklungen und unvorhergesehenen Ereignissen ist das Tier dann auch erlegt. Bei einer reinen Beschreibung dieser Jagd und der argumentativen Stützung ihres Treibens dort belässt es Schoeters allerdings nicht. Denn etwa in der Mitte des Buchs legt van Heeren Hunter ein unmoralisches Angebot vor.

Die Grenzen der Jagd – und darüber hinaus

Warum sollte sich dieser nur auf den Abschuss eines Nashorns oder auf Löwen, also Teile der legendären Big Five beschränken? Warum das Ganze nicht um eine menschliche Komponente erweitern? Der Mensch als gefährlichstes Raubtier der Welt müsste ja genau genommen eigentlich auch Aufnahme in die Liste der tödlichsten Raubtiere der Welt finden und so würde aus den Big Five die Big Six. Warum diesen dann nicht auch einfach einmal jagen?

Gaea Schoeters - Trophäe (Cover)

Vor diese Frage stellt Gaea Schoeters Hunter White – und damit auch uns als Leserinnen und Leser. Denn Trophäe lotet die moralische Fragwürdigkeit der Jagd aus und blickt auch auf die letzten Konsequenzen des Tuns. Der Roman greift dabei auch in einigen Momenten Debatten auf, etwa die, die sich um den Abschuss des Löwen Cecil durch einen jagdnärrischen Zahnarzt aus den USA entspann.

Daraus bastelt Schoeters in ihrem von Lisa Mensing aus dem Niederländischen übertragenen Roman eine temporeiche Erzählung, der von der kolonialistischen Überlegenheit und weißem Suprematismus erzählt, der hier aber beständig mit Argumenten der Beteiligten schöngeredet und als notwendig dargestellt wird. Dies macht uns ein Stück weit auch zu Mittätern, die das Treiben dort in der Savanne und dem Buschland gespannt verfolgen.

Mit einem klareren Schwerpunkt auf Handlung denn auf psychologische Feinheiten erinnert das Ganze in Ansätzen an den Krimi Die letzte Jagd, in dem Jean-Christophe Grangé zuletzt eine solche Menschenjagd (beziehungsweise dort die Pirsch) im Milieu der Reichen und Schönen im Schwarzwald zwischen Frankreich und Deutschland inszenierte. Die Erhebung des einen Menschen über den anderen, die Rechtfertigung des Treibens und die Einbindung in die lokalen Bräuche, das sind Themen, die in Gaea Schoeters Trophäe im Mittelpunkt stehen.

Fazit

Es lässt sich hier mitfiebern und überlegen – auch wenn dem Roman noch ein wenig mehr an Tiefenschärfe in Sachen Figurenzeichnung gutgetan hätte, um wirklich in der letzten Konsequenz die Bitternis dieses Romans zu schmecken. So ist Trophäe ein interessantes, moralisch herausforderndes Buch, das vom Rausch der Jagd erzählt und das nach Afrika versetzt, auch wenn die genauen Umstände der Geschichte und Figuren im Dunkeln bleiben.


  • Gaea Schoeters – Trophäe
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • ISBN 978-3-552-07388-3 (Zsolnay)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Daniel Mason – Oben in den Wäldern

Der kleine Garten am Rande der Welt. In seinem neuen Roman Oben in den Wäldern erzählt Daniel Mason literarisch clever verzahnt von der wechselvollen Geschichte eines Gartens im Hinterland von Massachusetts – und vom Werden und Vergehen im Lauf der Zeit. Literatur, die sich unterschiedlicher literarischer Erzählformen bedient und damit zu überzeugen weiß.


Zwei Romane sind von Daniel Mason bereits in deutscher Übersetzung erschienen. Auf Der Wintersoldat und Der Klavierstimmer Ihrer Majestät folgt nun das von Cornelius Hartz ins Deutsche übertragene Oben in den Wäldern. Von allen drei Büchern ist dies hier Masons bislang bester Roman, weil auch literarisch am überzeugendsten. Denn Daniel Mason gelingt hier ausgehend von einem Garten als erzählerischen Herzstück eine kunstvoll miteinander verbundene Geschichte, die durch ihre stilistische Collagentechnik und Formenvielfalt einen großen Reiz entfaltet.

Geschichte in Massachusetts

Ausgangspunkt des Ganzen ist ein junges Paar, das sich in den Tagen der ersten Siedler nach der Flucht vor ihren Häschern auf dem Grund des neu entdeckten Kontinents niederlässt. Er kam als Immigrant aus England nach Amerika, sie verliebte sich in Neuengland in ihn, beide schwören sich in einem fast heidnischen Ritual den Bund fürs Leben und leben fortan in den Wäldern Neuenglands, um sich dort die Erde untertan zu machen.

Schon nach wenigen Seiten bricht diese Erzählung zugunsten eines „Todesengel-Briefs“ ab, in dem eine Frau in einem altertümlichen, elliptischen Ton erzählt, wie sie mit ihrem jungen Kind vor Mord und Totschlag floh, bei einer Frau in deren Hütte Unterschlupf fand und wenig später selbst zu Axt und Muskete griff, um mehrere Soldaten zu töten, die ihrer habhaft werden wollten.

Diese beiden kurzen Geschichte in einem jeweils ganz eigenen Erzählton bilden die Anfangskapitel eines Reigens, dem viele weitere Episoden folgen werden, die von der Zeit der Gründungstage der USA bis in die Gegenwart hineinschreiten (für die Cornelius Hartz ein ebenso variantenreiches und spielerisches Deutsch findet).

Ein Netz an Themen und Figuren – mit einem Garten im Zentrum

Viele Motive und Figuren schälen sich aus den nun folgenden gut vierhundert Seiten allmählich heraus. Die größte Bedeutung als einer Art Ureltern-Generation aller folgenden Ereignisse kommt dabei den Osgood-Schwestern zu.

Daniel Mason - Oben in den Wäldern (Cover)

Diese übernahmen einst von ihrem Vater die Apfelplantage, die dieser nach seiner Zeit als Soldat begründet hatte. Dieser hatte in einer ruhelosen Suche, die ihm von seinem Umfeld schon als Wahn ausgelegt wurde, nach dem perfekten Apfel gesucht. Fündig wurde er durch Zufall im Hinterland von Massachusetts, wo er ein altes Haus vorfand, das ihm Heimstatt wurde und von dem aus er an seinem Plan der Zucht des perfekten Apfels arbeitete.

Die Schwestern widmeten ihr ganzes Leben nun der Hege und Pflege des von ihrem Vater hinterlassenen Erbes. Sie lassen in einer geradezu bukolischen Idylle Schafe zwischen den Bäumen weiden, kultivieren den angrenzenden Garten – und doch ist auch diesem Erzählstrang schon das eingeschrieben, was im Folgenden eines der großen Vorzeichen ist, unter dem die mühsam aufgebaute Idylle steht, nämlich der Verfall.

Denn was damit beginnt, als eine der Schwestern nicht nur sprichwörtlich die Axt an einige der Apfelbäume legt, wird sich im Folgenden fortführen. Hotelbesitzer, Liebespaare, Insekten und Pilzsporen, sie alle tun ihr Übriges, um die einstige Pracht der Plantage zu Fall zu bringen.

Hundert Jahre sind vergangen, seit der Berglöwe alle Schafe der Osgoods gerissen und Veränderungen in Gang gesetzt hat, die die Landschaft rund um das Haus stark geprägt haben. Das Weideland ist Brombeergestrüpp gewichen, das Brombeergestrüpp Unterholz und das Unterholz Birken und Kiefern, Aus den Vorräten, die das Eichhörnchen angelegt hatte, das eines winterlichen Morgens von einer Eule erbeutet worden ist, sind Eichen, Buchen und Kastanien gewachsen. Im Lauf der Jahre sind in dieses zweite Stück Wald mehrere kleinere Lichtungen geschlagen worden: ein Gemüsegarten, ein Krocket-Rasen für Hotelgäste, die niemals kamen. Am Rande ebenjenes Rasens steht eine Buche, die geschwächt ist durch einen Riss, den ein morgendlicher Frostanfall verursacht hat, sowie durch die Übergriffe von Spechten und Miniermotten, die kryptische Runen in die Blätter geritzt haben.

Daniel Mason – Oben in den Wäldern, S. 239

Das Werden und Vergehen als große erzählerische Motive

Ähnlich wie Annie Proulx interessiert sich auch Daniel Mason hier für die langen Zeitläufe, das Auf und Ab im ökologischen Gleichgewicht und die Mitwirkung des Faktor Mensch über die Jahrhunderte hinweg.

Ein Maler, dem das Haus und der angrenzende Wald später als Rückzugsort und für Inspiration dient, einfallende Liebespaare, die die Hütte nutzen, ein Jäger, der aus dem Gelände rund um das baufällige Haus, in dem seit den Anfangstagen des Landes immer wieder Menschen Zuflucht fanden, ein Hotel machen will (es dann aber mit Geistern zu tun bekommt): immer wieder tauchen Figuren und Motive als Widergänger auf, hat das Erbe, das einst mit dem „Todesengel“ und des jungen Paars auf der Flucht begann, Auswirkungen auf die Gegenwart, spinnen sich frühere Motive und Schicksale fort, bilden erzählerische Fäden ein ganzes Knäuel aus Bezügen.

Der Apfel als Symbol der Pracht und des Begehrens, eine alte Bibelausgabe mit Notizen, die Osgood-Schwestern mitsamt der von ihnen verfassten Balladen, die immer wieder zwischen den insgesamt etwa zehn Kapiteln und Geschichten auftauchen, ein irrlichternder Berglöwe – alles ist hier mit allem verbunden, wie es auch im konzeptionell ähnlichen strukturierten Roman Der Wolkenatlas von David Mitchell heißt.

Eine Fülle an Erzählformen

Besonders schön an diesem Roman ist neben aller erzählerischen Verzahnung von Motiven und Figuren über die Jahrhunderte hinweg auch die bewundernswerte Fülle an Erzählformen und -weisen.

Neben den schon erwähnten Balladen und Briefen gibt es die herzzerreißende Korrespondenz zwischen einem Maler und Dichter, bei dem sich alles Entscheidende nur zwischen den Zeilen abspielt. Ein Redemanuskript zu einem Vortrag, eine Studie zum psychischen Status eines Patienten, der großartig parodierte Stil eines Revolvermagazins aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (das mit seinem Titel True Crime schon heutige Sensationslust und Gewaltfaszination vorwegnimmt). All das und noch so viel mehr steckt in dieser literarischen Wundertüte namens Oben in den Wäldern.

Bei so viel erzählerischer Kreativität verzeiht man Daniel Mason auch die unfreiwillig komische Perspektive eines Ulmensplintkäfers, dessen sexuelle Begierde den Niedergang des einstigen Prachtgartens beschleunigt. Hier einmal etwas zu sehr verrutscht zeigt das Buch aber ansonsten in einer wirklich großartigen Qualität, wie sich Nature Writing, konzeptionelle Finesse und erzählerische Fabulierlust zu einem großartigen und kurzweiligen Leseerlebnis vereinen. In diesen literarischen Garten darf man sich gerne wagen – und immer wieder kommen. Es gibt nämlich so viel zu entdecken!


  • Daniel Mason – Oben in den Wäldern
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-81381-8 (C. H. Beck)
  • 429 Seiten. Preis: 26,00 €
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Isaac Rosa – Ein sicherer Ort

Hoch stapeln und tief graben. In seinem Roman Ein sicherer Ort rückt der Spanier Isaac Rosa drei Generationen an windigen Geschäftsmännern in den Mittelpunkt und erzählt von der Endzeitfaszination, die Prepper und ökologische Aussteiger umtreibt.


Tunnel und Bunker, sie faszinieren die Menschen seit Generationen. Setzte zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine der von mir Bunker-Journalismus getaufte Trend ein, hierzulande stillgelegte Bunker und deren Rettungspotential wieder journalistisch zu beleuchten, sorgte unlängst die TikTokerin Karla alias Tunnelgirl für Aufsehen. Ihr Kurzvideos wohldokumentiertes Vorhaben: unter ihrem Haus einen Tunnel mit dem Ziel eines Sturmschutzbunkers zu bauen. Ein Vorhaben, das die Behörden vereitelten, der jungen Frau aber jede Menge Aufmerksamkeit bescherte.

Isaac Rosa - Ein sicherer Ort (Cover)

Die Möglichkeit eines exklusiven Rückzugsortes in die Tiefe der Erde, ob in Folge von Krieg oder anderer Katastrophen, sie ist virulent. Auch Segismundo García, der Ich-Erzähler in Isaac Rosas neuem Roman, hat dieses Bedürfnis nach Abschottung und Sicherheit erkannt.

Er bietet seinen Klienten einen sogenannten „Sicheren Ort“, in den sie sich im Notfall zurückziehen können, um alle möglichen apokalyptischen Szenarien zu überleben. Eine Firma als Geschäftspartner für sein Vorhaben hat er auch schon an der Hand, Kunden stehen Schlange – nur mit dem Kredit für sein unternehmerisches Vorhaben mag es nicht so richtig klappen.

Und so tingelt er von Termin zu Termin, lässt sich von begeistern Ehemännern und skeptischen Ehefrauen Kellerabteile vorführen, besichtigt ausgeschalte Pools der Oberschicht oder Tiefgaragen in Neubaugebiete, immer mit dem Ziel, eine Vorfinanzierung für einen Sicheren Ort herauszuschlagen. Es ist ein mehr als windiges System, mit dem er endlich auf seinen großen Durchbruch hofft.

Abgestürzt mit dem gesellschaftlichen Fahrstuhl

So gut es geht, verschweigt er dabei aber den Familiennamen, denn dieser lässt nichts Gutes hoffen. Schließlich war es sein Vater Segismundo García, der mit ähnlich windigen Konzepten und der Vision einer Zahnarztketten mit Dumpingpreisen erst hoch stieg, um dann tief zu fallen. Bis hinab ins Gefängnis.

Wir werden immer besser. Steigen immer weiter auf. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl, weißt du noch? Ein Ausdruck nach deinem Geschmack. Kaum gehört, machtest du ihn dir zu eigen. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl! Wir waren das beste Beispiel dafür, dass es ihn gab und dass er gut funktionierte. Garcías wie so viele andere, 08/15-Garcías, Garcías von ganz untern, aus dem Nichts, die sich durch Arbeit, durch harte Arbeit, Stockwerk um Stockwerk hochgekämpft hatten, in die oberen Etagen, auf dem Weg ins Penthouse. Bis es plötzlich eine Panne gab und unter unseren Füßen der Boden des Aufzugs wegbrach; du fielst durchs Loch, und ich blieb hängen, klammerte mich mit den Fingerspitzen fest, mit Nägeln, und da bin ich immer noch, rutsche Millimeter um Millimeter ab, ein Finger nach dem anderen löst sich, aber noch bin ich nicht gefallen.

Isaac Rosa – Ein sicherer Ort, S. 50 f.

Zweifelhafte Geschäftemacherei liegt quasi in der DNA dieser Familie, in der Segismundo II. zwar kämpft, seine Bemühungen aber auch zum Scheitern verurteilt sind. Denn obwohl er sich abmüht, seinen Sohn Segismundo III. an einer elitären Privatschule zu parken und dem Sohn so Anschluss an die Kreise zu verschaffen, zu denen sein Vater und er längst den Anschluss verloren haben, zeigt auch der jüngste Spross, dass sich die DNA des Riskos und des Hochstapelns auch bei ihm vererbt hat.

Drei unterschiedliche Generationen an Hasardeuren, vereint durch ihren Namen und das Streben nach dem großen Geld. Isaac Rosa zeigt sie, indem der einen erzählerisch engen Rahmen wählt. Einen einzigen Tag umfasst die Handlung von Ein sicherer Ort. An diesem Tag erleben aber alle drei Generationen ihre großen Momente, die Rosa in einer Mischung aus Rückblenden und vorwärtstreibender Handlung erzählt. Ein Tag, bei dem Segismundos sich festklammernde Hände ein Stück weit mehr abrutschen vom gesellschaftlichen Parkett und ein Tag, an dem der finale Absturz noch ein ganzes Stück näher rückt.

Drei Generationen von Hasardeuren

Während sich der Ich-Erzähler Segismundo mit Terminen für Bunkerbegeisterte herumschlägt und auf eine Kreditzusage seiner Bank hofft, sitzt der junge Segismundo an der Privatschule gehörig in der Tinte. Und der demente, mit Du adressierte Patriarch dieses halbseidenen Clans, er wird von einer Pflegekraft betreut, schafft es aber dennoch, von zuhause auszureißen und macht sich auf den Weg durch die nicht näher benannte Stadt.

Um diese Verquickung dreier Generationen und deren individuellen Problemen herum baut Isaac viele Reflektionen des erzählenden Segismundo ein. Allmählich ergibt sich ein klares Bild der Familie und ihrer Hintergründe. Auch blickt Ein sicherer Ort auf die Bunkerfixierung und das Bedürfnis nach Sicherheit und Abschottung. Der Roman umkreist die Faszination des Endes, auf das sich Prepper und ökologische Aussteiger mit unterschiedlich, dann aber doch wieder ähnlichen Strategien vorbereiten.

Überhaupt. Auf die ökologischen Gemeinschaften hat es Segismundo abgesehen. Spätestens, seitdem ihn seine Frau verlassen und sich als Sympathisantin der Aussteigerbewegung erwiesen hat, pflegt Segismundo seinen Hass auf die von ihm „Tonkrügler“ getauften Ökos, die sich für ihn auch nicht nennenswert von den egoistischen Preppern unterscheiden. Seine Tiraden strukturieren diesen Roman – und liefern dann sogar noch einen subtilen Anknüpfungspunkt an Rosas letzten Roman.

Fazit

Insgesamt gelingt Isaac Rosa in diesem von Luis Ruby ins Deutsche übertragenen Roman ein durchaus komisches Porträt dreier Generationen von Hochstaplern und Luftikussen, der auch von unserem Sicherheitsbedürfnis und der Lust nach Blendung erzählt.

Ein sicherer Ort ist ein gelungener Schelmenroman zwischen Bunkern und „Tonkrüglern“, Blendern und Geblendeten. Dargeboten wird dieser Kreuzweg einer Desillusionierung in einer wilden Suada aus Stream of Consicousness, der von Luis Ruby gelungen ins Deutsche übertragen wurde. Nicht nur für Sichere Orte eine hervorragende Lektüre!


  • Isaac Rosa – Ein sicherer Ort
  • Aus dem Spanischen von Luis Ruby
  • ISBN 978-3-95438-174-6 (Liebeskind)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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