Category Archives: Sachbuch

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michael Maar – Leoparden im Tempel

Ob Elias Canetti, der Oger, das wechselhafte Gemüt Virginia Woolfs oder der Teufel bei Thomas Mann – in seinem wiederveröffentlichten Werk Leoparden im Tempel widmet sich Michael Maar abwechslungsreich den von ihm verehrten Schriftsteller*innen und nimmt ihr Werk und ihre exzeptionelle Bedeutung für die literarische Welt in den Blick.


Man könnte es sich leicht machen mit dem eigentlich nicht ganz so neuen Buch Michael Maars. Nach einer Erstveröffentlichung im Berenberg-Verlag vor sechzehn Jahren erscheint Leoparden im Tempel nun als Neuauflage im Rowohlt-Verlag, gehalten im Design seines 2020 erschienen Stil-Opus Magnum Die Schlange im Wolfspelz.

Schon der Blick auf die schmale Seitenzahl macht klar, dass es sich mitnichten um ein Werk handelt, dass an Maars ebenso voluminöses wie kenntnisreiches Literaturbergwerk anschließt. Vielmehr will er sich den von ihm verehrten Schriftstellern widmen, wobei ein Gendern des Untertitels tatsächlich fast überflüssig scheint. Denn von zwölf Schriftstellerporträts ist lediglich eines einer Frau gewidmet, nämlich Virginia Woolf.

Hier zeigt sich, dass in der den sechzehn Jahren seit Erscheinen des Buchs viel Sensibilisierung gegenüber der hier im Speziellen wie auch im Allgemeinen zuvorderst männlichen Kanonbildung stattgefunden hat. So sei nur an die Aktion #frauenzählen, das daraus entstandene Sachbuchprojekt Frauen Literatur von Nicole Seifert oder die hervorragende Kurzporträtsammlung Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann erinnert, die dem Maar’schen Männerüberschuss und Geniekult entgegenwirken, der sich in diesem Buch äußert.

Porträts von Schriftstellern

Sollte man es sein lassen? Diese offensichtliche Ungleichbehandlung von Schriftstellerinnen als Anlass nehmen, das Buch in die Ecke zu stellen? Das wäre tatsächlich ein Fehler, denn obgleich die nicht zu leugnende maskuline Schlagseite ebenso wie die veraltete Rechtschreibung des Buchs rückwärtsgewandt scheint, gelingt es Maar vorzüglich, seine Verehrung der offensichtlicheren (Thomas Mann, Franz Kafka) und die hierzulande noch immer zu unbekannten Autoren (Anthony Powell, Gilbert Keith Chesterton) begeisternd vorzubringen und Lust auf ihr Schreiben zu machen (obgleich natürlich Größen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Gabriele Tergit oder vergessene Autorinnen wie die gerade wieder neu entdeckte Helga Schubert durchgehend fehlen).

Michael Maar - Leoparden im Tempel (Cover)

Neben solchen Leerstellen merkt man auch den Aufsätze an, dass einige ihrer aufgegriffenen Punkte in der Zwischenzeit etwas anders betrachtet werden müssen. So ist beispielsweise Maars Frage, ob man Giuseppe Tomasi di Lampedusa vielleicht noch mit einer Labelung als Geheimtipp postum die Ehrung verschaffen könnte, die ihm für sein Werk Der Leopard gebührt, in meinen Augen hinfällig. Denn die glänzende Neuübersetzung von di Lampedusa Meisterwerk durch Burkhart Kroeber vor vier Jahren hat doch erheblich Staub von diesem Werk gepustet und dieses neu ins öffentliche Bewusstsein gebracht.

Genauso ergeht es den Klagen, die Maar in seinem Kapitel über Anthony Powell äußert. Dort beklagt er, dass Powell hierzulande völlig unbekannt sei und man ihm dem deutschen Publikum kaum schmackhaft zu machen vermag. Während letztere Beobachtung wahr zu sein scheint, ist die Vermittlungsarbeit doch in der Zwischenzeit weiter geraten (dem Maar auch in dem leicht angepassten Quellenverzeichnis Rechnung trägt, da er dort die 2015 begonnene Neuausgabe von Powells Gesamtwerk unter dem Titel Dance aufführt). So wurde diese Neuausgabe des Werkes im Februar 2016 von Maxim Biller an maximal prominenter Stelle im deutschen Fernsehen vorgestellt, nämlich beim Literarischen Quartett.

Sich verändernder literarischer Zeitgeist

Es sind einige Punkte dieser Art, an denen man feststellen kann, dass sich der literarische Zeitgeist gewandelt hat. So sind neue Blicke und Maßstäbe auf Literatur eingezogen, der Geschmack hat sich gewandelt, kurz: die Zeit seit dem ursprünglichen Erscheinen des Buchs ist nicht stehengeblieben. Das merkt man bei dem Blick auf die Äußerlichkeiten des Buchs durchaus.

Davon unberührt ist aber der Kern von Michael Maars Buch, dem man in seiner ganzen Begeisterung und dem sprudelnden Stil auch Stilblüten wie die folgende gerne verzeiht:

Man merkt seiner [Anthony Powells] Prosa nicht an, dass sie nach Joyce entstand. Um Modeströmungen hat dieser Autor sich nie geschert. Erst jetzt, nachdem sich deren Wasser verlaufen haben, kann man erkennen, wie einsam er herausragt.

Michael Maar – Leoparden im Tempel, S. 111

Jener Kern seiner kurzen Porträts, er gleicht nach wie vor einem brodelnden Magmakern voller heißglühender Lava (um hier einmal den bildhaften und blumigen Stil Maars aufzugreifen). Überraschend seine Erkenntnisse, wenn er etwas die Bedeutung des Teufels im Werk Thomas Manns herausarbeitet oder die ewige Rätselhaftigkeit im Werk Franz Kafkas beschreibt, der es mit seinem Bild der Leoparden im Tempel auch auf den Titel von Maars Buch geschafft hat.

Literaturverehrung, die begeistert

Gelungen stellt Maar auf nur wenigen Seiten die Besonderheiten im jeweiligen Werk der Autoren heraus und erklärt, was ihr Werk so faszinierend und über alle Zeiten erhoben macht. Das tut er in gut lesbaren und nachvollziehbaren Aufsätzen, von denen die Porträts Mann, Nabokov und di Lampedusa in meinen Augen zu den gelungensten zählen.

Aus allen Zeilen spricht die Verehrung Maars, der mit seinen Porträts wie auch später in der Schlange im Wolfspelz seine immense Belesenheit herausstellt. Seine Einführung in das Schaffen der oftmals alles andere als umgänglichen und bescheidenen Autoren macht Lust, sich mit den Werken genauer zu beschäftigen. Er gibt einen Eindruck, wie Literaturvermittlung zu begeistern vermag, wie ein genauer Blick beim Lesen den unverkennbaren Stil zutage treten lässt – und wie man mitreißend davon zu erzählen vermag.

Das wiegt in meinen Augen die klar benennbaren Kritikpunkte an Leoparden im Tempel auf alle Fälle wieder mehr als auf, sodass ich für dieses Büchlein eine große Empfehlung aussprechen möchte. Gerne sei der Band auch als Geschenk allen Literaturfans empfohlen, Ich empfehle im Anschluss an die Lektüre danach dann die Lektüre von Dichterinnen & Denkerinnen, denn dann hat man auch einen ausgewogenen Eindruck von Schriftstellerinnen, die es durchaus auch mit den hier vorgestellten Männern aufnehmen können!


  • Michael Maar – Leoparden im Tempel
  • ISBN: 978-3-498-00398-2 (Rowohlt)
  • 144 Seiten. Preis: 22,00 €
  • Zum Buch bei Yourbookshop
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Niklas Maak & Leanne Shapton – Durch Manhattan

Es gibt Bücher, die haben eine ebenso einfache wie bestechende Grundidee. Durch Manhattan von Niklas Maak und Leanne Shapton zählt zu dieser Kategorie. Denn hier treffen sich eine Künstlerin (Shapton) sowie ein Architektur- und Kunstkritiker (Maak), um gemeinsam Manhattan zu durchqueren, von der Südspitze auf einer annähernd geraden Linie bis in den Norden zum Ende der Halbinsel. Auf ihrem Weg begegnen ihnen Menschen, Bauten und kleine Momente, die sie in Schrift und Bild einfangen. Ein schön gestaltetes Werk und das Zeitdokument eines New York kurz nach dem Umbruch, den die Präsidentschaft Donald Trumps bedeuten sollte.


STATEN ISLAND FERRY TERMINAL I

Wir fingen ganz unten an. Wir trafen uns am Staten Island Ferry Terminal. Wir hatten keinen genauen Plan, nur die Idee, das zu tun, was alle, die nach Manhattan kamen, seit Jahrhunderten taten: an der Südspitze ankommen und dann nach Norden gehen.

Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt, wenn man sie nicht nur nach Punkten absucht, an denen sich etwas Bedeutendes oder Bekanntes befinden soll; was findet man, wenn man nicht einfach Orte aufsucht, von denen man gehört hat, und so einen vorgezeichneten Weg folgt – sondern wenn man einfach losgeht, vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichen Ende, wenn man eine Linie zieht vom Staten Island Ferry Terminal nach oben und dann hinaufwandert entlang dieser Linie bis zur 220th Street, wo der Harlem River Manhattan von der Bronx trennt, entlang einer Linie, die keiner Regel, aber auch nicht dem Zufall folgt, sondern die Bewegung der Besiedlung Manhattans nachzeichnet?

Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan, S. 6

Von Süd nach Nord durch Manhattan

So beschreibt Maak das gedankliche Konzept, das Durch Manhattan zugrunde liegt. Ein Stadtplan, der zur groben Orientierung dient, ist mit im Gepäck, und schon geht es los mit den ersten Metern Manhattan, die Maak und Shapton in nuce den rasanten Wandel zeigen, den New York und insbesondere Manhattan seit den ersten Einwanderern erfuhr, die hier an der Südspitze Manhattans ankamen, nachdem sie auf Ellis Island die Erlaubnis zum Aufenthalt im Land of the free erhielten.

Niklas Maak, Leanne Shapton - Durch Manhattan (Cover)

Telefonzellen, die dort am Hafen in Zeiten von WhatsApp und Smartphones schon wieder reichlich anachronistisch wirken. Hausnummer, die auf den Türen der Häuser anstelle einer dauerhaften Montage nur geklebt werden und so einen Eindruck der Schnelllebigkeit geben. Schaukelnde Ampeln im Wind. Es sind kleine Beobachtungen, die Durch Manhattan ausmachen.

Aber auch bekannte Landmarken wie die Wall Street oder der Trump Tower werden von den beiden Flanierenden besucht. Während Maak über die Einsamkeit der Familienmitglieder Donald Trumps sinniert (der zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade sein erstes Jahr der Präsidentschaft begann), lässt sich auch vor allem an der Wall Street die unglaubliche Schnelllebigkeit beobachten, wenn Maak noch einmal der Occupy Wall Street-Bewegung nachspürt, die heute schon wieder so ziemlich in Vergessenheit geraten ist.

Immer wieder gibt es neben den kleinen und größeren Beobachtungen auch biographische Skizzen, die Maak in den Spaziergang einflicht. Diese erzählen Einwandererschicksale oder bisweilen auch skurrile Begebenheiten, etwa die eines möglichen Seitensprungs, der durch Google Maps bezeugt wurde.

Ein vielstimmiges Portraits Manhattans

Wenn es ein Wort gibt, mit dem sich dem sich Stil und Inhalt von Durch Manhattan charakterisieren lassen, dann ist es das Wort Polyphon. Denn Maak und Shapton gelingt es, die ganze Vielstimmigkeit New Yorks in diesem Buch einzufangen. So finden alle Bevölkerungsschichten und Ethnien Widerhall in diesem Buch, neben den bekannten Sehenswürdigkeiten sind es auch Orte wie Hancock Place oder der Bryant Park, die die Popkultur Manhattans sonst eher ausspart.

Und auch thematisch offenbart Maaks und Shaptons Kollaboration eine unglaubliche Bandbreite, die von Überlegungen zum Reiz der Hamptons über die Bildwelten Edward Hoppers bis hin zur Beschreibung der Funktionsweise amerikanischer Fenster reicht. Hinter all dem scheint immer wieder die Herkunft Niklas Maaks als Gastprofessor für Architekturgeschichte und Architekturliebhaber durch, der mit seinem Wissen unangestrengt die ebenso eleganten wie präzisen Schilderungen von Gebäuden und deren Bewohner*innen grundiert.

Blick ins Buch nebst beigefügter Karte.

Und auch in den von Leanne Shapton aquarellierten Bildwelten drückt sich diese Vielstimmigkeit aus. Ihre Skizzen und Sketches treten mit Maaks Schilderungen in einen Dialog und ergänzen und umspielen die meist zweispaltigen Textkörper. Sie zeigen Shaptons Blick für die Besonderheiten abseits des Offensichtlichen und bieten Bildwelten, die von konkret bis abstrakt reichen und denen stets eine Erklärung des Dargestellten beigegeben ist.

Fazit

So entstanden ist ein Buch, der dem Flanieren huldigt, ähnlich wie das auch Teju Cole in seinem ebenso empfehlenswerten Roman Open City tat. Niklas Maaks und Leanne Shaptons zweitägige Tour mündet in einem Buch, das die Widersprüche und unterschiedlichen Facetten Manhattans gelungen porträtiert. Das Buch verbindet ein Auge für Architektur und stilistische Varianz. Kleine biographische und künstlerische Skizzen ergeben ein Buch, das dem Geist Manhattans nachspürt und diesen Geist Anfang des Jahres 2017 auch tatsächlich treffend einfängt. Mit viel Beobachtungsgabe und dem Auge für die Details abseits des Weges wissen die beiden über das Große im Kleinen viel über diese Halbinsel zu erzählen, die ebenso Sehnsuchtsort wie Albtraum sein kann.

Dieser Dialog von Stadt und Kunst ist ein großartiges Geschenkbuch, von dem man freilich keine tiefschürfende Analyse zu den Zuständen der USA erwarten soll. Aber als will Durch Manhattan auch gar nicht. Vielmehr ist es eine gelungene Lehntstuhlreise, die eine*n mitnimmt in die Häuserschluchten dort und ein Gefühl für den Puls dieses Stadtteils vermittelt und in dem man sich immer wieder festlesen kann!


  • Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan
  • ISBN 978-3-446-25666-8 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
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Teresa Bücker – Alle Zeit

„Wir sagen: die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.“

Thomas Hettche – Pfaueninsel

So bringt das kleinwüchsige Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon in Thomas Hettches famosen Roman Pfaueninsel die ganze Absurdität unseres Umgangs mit der Zeit auf den Punkt. Sie beobachtet das Werden und Vergehen dort auf der Insel, sieht Königinnen kommen und Könige gehen, ein ganzes neues Jahrhundert heraufdämmern – nur die Zeit, sie sieht sie nicht. Es sind nur Besucher*innen von außen, die dort ein Gefühl der Existenz von Zeit auf die Insel bringen, wenn sie sich etwa nur eine bestimmte Dauer dort zugestehen oder wenn im Altern der Besucher*innen das Verstreichen von Zeit offenbar wird.

Und tatsächlich ist die Beobachtung aus dem Roman ja eine durchaus richtige. So wirklich greifbar ist die Zeit nicht, sie kann nur mit Hilfsmitteln erfasst werden und ihr Vergehen lässt sich nur über das Voranschreiten von Verfall oder Fortschritt erkennen. Doch ist die Zeit der alles entscheidende Taktgeber der Moderne geworden. Was uns im Umgang mit der Zeit dabei eint, ist meist das Gefühl, zu wenig von ihr zu haben. Zu wenig Zeit für Freunde, Familie, Hobbys, drohende Deadlines im Job und oftmals ein Gefühl der Erschöpfung, wenn der Tag wieder zu wenig Stunden hat.

Doch es könnte auch ganz anders sein. Wie eine gerechtere Zeitpolitik aussehen könnte, was sich für uns und die Gesellschaft ändern könnte und was plötzlich möglich wäre, das ergründet Teresa Bücker in ihrem durchdachten und weitgreifenden Manifest, das mit Verve für eine neue Zeitpolitik plädiert. Denn was wäre, wenn wir sie plötzlich hätten – Alle_Zeit?


Es ist eine einfache Frage, die sich wohl viele schon einmal gestellt haben und die Teresa Bücker an den Anfang des vierten Kapitels in ihrem Buch stellt: Was würden Sie machen, wenn Ihr Tag plötzlich 25 Stunden hätte? Eine Stunde mehr, die man auf ganz individuelle Art und Weise nutzen könnte. Ein verlockender Gedanke, den Bücker als Ausgangslage für das Nachdenken über freie Zeit nutzt.

Denn obschon wir Zeiterfassungen zufolge über mehr freie Zeit verfügen, immer länger leben, die Arbeitszeit sank und die Urlaubstage stiegen, so sind es doch über 26 Millionen Menschen, die den Erfassungen nach angeben, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben. Druck in der Arbeit, überforderte Familien und allgegenwärtiger Stress sind nur ein paar Faktoren, an denen sich das Gefühl des Zeitmangels ablesen lässt. Doch es könnte alles anders sein, folgt man Teresa Bückers faktengesättigten Überlegungen und Denkansätzen. Denn es wäre möglich. Wir könnten auch in einer entspannteren, gerechteren und auf vielfältige Art und Weise reicheren Gesellschaft leben, wenn wir denn nur wollten.

Zeitgerechtigkeit herzustellen bedeutet radikale Umverteilungspolitik.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 231

Diese Umverteilungspolitik, ihre Ansatzpunkte und Chancen erläutert Bücker über insgesamt sechs Kapitel, bevor sie die Kernthesen im Schlussteil (K)eine Utopie noch einmal prägnant vorstellt und formuliert.

Niemals genug Zeit

So geht Teresa Bücker zunächst der Frage nach, warum uns die Zeit in einer Gegenwart von 24/7-Verfügbarkeit doch niemals reicht und warum auch die freie Zeit, die doch eigentlich der Erholung dienen sollte, so oft vom Beruf durchdrungen ist. Dem folgt im Kapitel Arbeits_Zeit die Betrachtung unserer Gesellschaft, die sich zum überwiegenden Teil über die Erwerbsarbeit definiert. Unsere Anerkennung von Vollzeitarbeitenden und die Geringschätzung von häuslichen Tätigkeiten oder gar Arbeitslosigkeit sind Themen des Kapitels, das Bücker hier auch aus ihrer persönlichen Perspektive betrachtet.

Teresa Bücker - Alle_Zeit (Cover)

Ihre Rolle als Mutter, das Unwohlsein in Gesprächen, sich als arbeitslose Erziehende zu erkennen zu geben, statt einem „geregelten“ Auskommen nachzugehen, dies ist eine der wenigen persönlichen Anekdoten, die sie zur Illustrierung ihrer These vorbringt. Derlei Einsprengsel bleiben im Text allerdings auf ein Minimum reduziert, vielmehr arbeitet Bücker überwiegend studiengestützt faktual und arbeitet mit vielen Quellen und Zitationsnachweise – fast 500 Fußnoten umfasst der Anmerkungsapparat.

In den weiteren vier Kapiteln von Alle_Zeit spürt die Autorin dann der Care-Arbeit und einer neuen Aufteilung derselben nach, stellt die Frage nach der Bedeutung und dem Platz von Kindern in unserem Konzept von Zeit und kommt vom Privaten und dem damit verbundenen Feld der freien Zeit (in dem beispielsweise auch so etwas wie der Begriff des Zeitkonfetti aufgegriffen wird) zum Politischen. Denn auch politisches Engagement in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen zählt zu Bückers Idee einer neuen Zeitkonzeption, kann diese doch auch bedeuten, dass bislang unterrepräsentierte Vertreter*innen unserer Gesellschaft wie Alleinerziehende, Menschen aus unteren Lohngruppen, Nicht-Weiße oder Menschen mit Migrationshintergrund besser als bislang für ihre Belange eintreten könnten.

So schlägt Teresa Bücker den Bogen von der Problembeschreibung über eine maximalbreite Skizzierung eines neuen Zeitkonzepts bis hin zu Umsetzungsideen und den damit verbundenen Möglichkeiten, die der Idee einer neuen Form von Umgang mit der Zeit beinhalten.

Auf der Höhe der diskursiven Gegenwart

Das Buch ist, obschon im letzten Jahr erschienen, absolut auf der Höhe der diskursiven Gegenwart. Die Debatten um eine 4-Tage Woche greift Bücker genauso auf, wie sie für eine fairere Verteilung der Care-Arbeit und „privaten“ Lasten eintritt. Warum gilt es immer noch als neoliberales Ideal, alle Menschen in Vollzeit-Beschäftigung zu bringen? Bücker argumentiert für ein Teilzeit für alle, die Ressourcen schon, Potenziale eröffnet, freie Zeit für sich, die Gemeinschaft und den sozialen Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft ermöglicht. Mit ihrer Theorie einer neuen Zeitverteilung erschafft sie einen Denkansatz, der in so gut wie alle Lebensbereiche hineinragt und viele heutige Mangellagen berührt.

Die unzureichende Pflegesituation, die aktuell durch die Schwächung anderer Länder in Form von Abwerbung von Arbeitskräften funktioniert. Fehlende Kitaplätze und Erzieher*innen, die zu überlasteten Familien führen, denen als Antwort auf fehlende Entlastung und die schwierige Vereinbarkeit von Vollzeit und Kinderbetreuung oftmals entgegengehalten wird, das man sich das mit dem Kinderbekommen vorher einmal besser überlegen hätte sollen. Die ökologische Transformation, die ein solche Konzept mit weniger Arbeit und mehr Gesellschaftszeit unterstützen würde – an vielen Punkten zeigt sich, wie ausgearbeitet und konkret die Thesen Bückers sind, die unsere unmittelbare Gegenwart betreffen. Was sich von Familien- und Umweltpolitik bis hin zur Arbeitspolitik ändern und verbessern würde, das führt sie mit viel Verve aus:

Eine Arbeitspolitik für das 21. Jahrhundert muss aber sehr viel mehr tun, als sich nur mit den Bedingungen und der Sicherheit von bezahlten Arbeitsplätzen zu befassen. Sie muss dafür Sorge tragen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten auf zumutbare Weise übernommen werden können und dass sie honoriert werden. Es ist Aufgabe der Arbeitspolitik, alle Formen von Arbeit so zu verteilen, dass sie niemanden zeitlich oder gesundheitlich überlastet, denn freie Zeit ist ein Menschenrecht.

Die Länge der Arbeitstage und mit ihr die Menge der freien Zeit müssten sich annähern, damit alle Menschen die gleichen Chancen haben, sich jenseits der Arbeit frei zu entfalten. Dass Menschen trotz Arbeit arm sind, dürfte nicht akzeptiert werden. Eine Arbeitspolitik von heute muss außerdem klima- und umweltschädliche Arbeit regulieren und die Entstehung emissionsarmer Jobs fördern, damit Arbeit nicht unsere Lebensgrundlage zerstört. So verstanden, wäre Arbeitspolitik nicht nur Zeitpolitik für unsere Alltagszeiten, sondern auch Politik für die globale Zukunft.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 54 f.

Eine neue Form von Wohlstand

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Folgt man Bückers bestechender Argumentation könnte eine fairere Gesellschaft entstehen, die nicht mehr auf Wachstum, denn auf sozialen Reichtum setzt. Wofür dann aber auch die Übermacht des Patriarchat beendet werden muss, denn Zeitwohlstand bedeutet auch eine faire Lastenaufteilung zwischen Partner*innen (dabei vergisst Teresa Bücker auch queere Lebensentwürfe in Alle_Zeit nicht und denkt diese explizit mit).

Eins ist ihre Idee einer neuen Aufteilung der Macht und Freiheit dabei allerdings nicht, wie Bücker am Ende des Buchs noch einmal nachdrücklich klar macht. Denn Alle_Zeit will keine Utopie sein, die man so betitelt leicht ins Reicht der Fantasie verschieben könnte. Vielmehr bietet das Buch neben der Problembeschreibung einen konkreten Handlungsfaden, der schon jetzt zur Umsetzung kommen könnte, wenn wir alle – Politik und Zivilgesellschaft eingeschlossen – denn nur wollten.

Sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Erwerbsarbeit einen wesentlich kleineren Teil des Lebens einnimmt und stattdessen mehr Zeit für andere Dinge bleibt, fällt vielen Menschen schwer. Sie deuten diesen Gedanken als Träumerei, die wir uns ab und an erlauben können, nicht als reale Möglichkeit, anders zu leben. Schließlich gibt es als Sehnsuchtsort den Ruhestand, mit dem wir angeblich in ein Meer aus freier Zeit hinübertreten. Wir werden ja weniger arbeiten: nur später.

Freie Zeit als neuer, als anderer Lebensabschnitt. Um weniger arbeiten zu können, muss die Zeit für uns erst neu beginnen. Diese Beruhigungstaktik, dass wir irgendwann all die Zeit haben werden, um das zu tun, wonach wir uns sehnen, schadet uns jedoch in der Gegenwart, da wir unsere Bedürfnisse damit nicht als etwas Unmittelbares, Wichtiges begreifen, sondern stattdessen verinnerlichen, dass sie etwas Zukünftiges sind: Wir dürfen etwas anderes wollen, überhaupt etwas wollen, aber nicht jetzt. Später. In der Gegenwart sollen wir bedürfnislos sein.

Wir sollen uns mit den Gegebenheiten arrangieren und das Beste aus ihnen machen. Die Gegenwart ist damit nur eine Übergangsphase, bis das richtige Leben beginnt. Wenn wir unsere Gegenwart jedoch nicht als relevant betrachten, sondern als Vorstufe zu etwas, das erst noch kommen wird, dann entpolitisieren wir sie. Wir trainieren uns darauf, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Aber wann beginnt die richtige Zeit? Unendliche Geduld und sanft formulierte Ideen werden zur Tugend, konkrete Ideen, Forderungen und Warnungen hingegen als Aktivismus diffamiert. Es gilt als zu radikal, in der Gegenwart zu handeln. Doch wenn das Jetzt nicht zählt, wie steht es dann um unsere zukünftige Gegenwart?

Teresa Bücker – Alle_Zeit, S. 128 f.

So entsteht ein runder Text, an dem es aufgrund seines Anspruchs und der damit Schritt haltenden Argumentation und theoretischen Unterfütterung nichts auszusetzen gilt. Dass ein Inhaltsverzeichnis inklusive Unterkapiteln und eine nach Kapiteln gegliederte Ordnung der fast 500 Zitationsnachweise im Anhang des Buchs die Übersichtlichkeit etwas erhöht hätten, sind Petitessen, die angesichts des ansonsten mehr als überzeugenden Ganzen nicht ins Gewicht fallen.

Fazit

Der Reichtum und die Schlüssigkeit von Bückers neuem Zeitmodell und die vielfachen Anknüpfungspunkte an die Debatten verbunden mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft machen aus Alle_Zeit eine unbedingte Empfehlung, der eine maximal große Leserschaft und Diskurs über die Thesen zu wünschen ist. Es handelt sich bei Bückers Buch um eine gute Wahl für die Nominierung zum Deutschen Sachbuchpreises 2023 und in meinen Augen auch um einen würdigen potentiellen Siegertitel, beweist Bücker hier doch Mut zu einer klugen Vision und liefert darüber hinausgehend auch Umsetzungsstrategien hin zu einer gerechteren und besseren Gesellschaft.

Alle_Zeit ist ein holistisches Gedankengebäude, das dem Gedanken für ein zeitgerechteres Miteinander in allen Konsequenzen und der gebotenen Tiefe nachgeht. Für die Lektüre dieses bedenkenswerten Buchs sollte man sich auf alle Fälle eines wirklich nehmen, nämlich Zeit!


  • Teresa Bücker – Alle Zeit
  • ISBN 978-3-550-20172-1 (Ullstein)
  • 400 Seiten. Preis: 21,99 €
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