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Die Literaturkritik und der Nachwuchs

Wo ist er, der Nachwuchs in Sachen Literaturkritik? In etablierten Formaten und Medien findet er zumindest kaum statt, was zu einem echten Problem werden kann. Denn die Ignoranz von literaturkritischem Nachwuchs gräbt dem zusehends versickernden Gespräch in der literarischen Öffentlichkeit zusätzlich das Wasser ab. Dabei ginge es auch anders…


Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse fand auf der Bühne von ARD, ZDF und 3sat eine Diskussion zum 50. Geburtstag der SWR-Bestenliste statt. In dieser Liste stimmen Monat für Monat 30 Literaturkritiker und Literaturkritikerinnen über Neuerscheinungen ab und erstellen so zehn Plätze umfassende Empfehlungsliste als literarische Alternative zur rein auf Verkaufserfolg blickenden Spiegel-Beststellerliste.
Das Fortdauern dieser literarkritischen Institution dauert nun schon ein halbes Jahrhundert an. In Frankfurt wurde das im Gespräch mit den drei KritikerInnen und Jurymitgliedern Iris Radisch, Helmut Böttiger und Cornelia Geißler dementsprechend gefeiert. Als Rückblick alleine auf Vergangenes sollte das Gespräch aber nicht funktionieren, vielmehr stand die Veranstaltung unter der Fragestellung Wie sieht die Zukunft der Literaturkritik aus?

Ja, wie sieht sie aus? Darüber herrschte auf der Bühne Uneinigkeit. Haben junge Menschen angesichts prekärer Bezahlungen und unsicherer Zukunftsaussichten überhaupt noch Lust auf eine Karriere in den Medien? Sind TikTok und Co nicht vielmehr die Plätze, an denen das Gespräch über Bücher lebt und die Buchkultur Blüten treibt? Braucht es die Literaturkritik überhaupt noch, wenn doch die Lust auf Kritik und ästhetische Auseinandersetzung mit Büchern und Thesen sinkt, sich das literarische Gespräch in der Öffentlichkeit in Hausbesuchen und Spaziergängen mit AutorInnen erschöpft, um allzu kritische Worte zu vermeiden?

Fragen in Frankfurt

Die Runde griff viele Fragen auf und war doch auch in ihrer Zusammensetzung bemerkenswert. Denn obschon man sich viele Gedanken über die Zukunft der Literaturkritik machte, so war sie zumindest personell auf der Bühne nicht vertreten. Unter den arrivierten KritikerInnen (Jahrgänge 1956 bis 1965) stach Moderator Carsten Otte (Jahrgang 1972) als Jungspund in der Runde heraus. Dementsprechend schwer tat sich auch mancher mit den Begrifflichkeiten der neuen Medien und ihrer vielfältigen Ausprägungen. Jemanden, der aus dem eigenen Tun heraus eine Perspektive auf den Themenkomplex beisteuern hätte können, er fehlte.

Diskussion zur Rolle der Literaturkritik und des Nachwuchses, Jury der SWR-Bestenliste
Bildquelle: Screenshot SWR/SWR Bestenliste

Nun soll an dieser Stelle keineswegs ein plumpes Altersbashing betrieben werden. Die Gedanken der Runde waren ja durchaus bedenkenswert und auch in Bezug auf neue Medien in Teilen bemerkenswert kundig. Doch die Tatsache, coram publico über den Generationenwechsel in der Literaturkritik zu sinnieren, ohne die nächste Generation überhaupt ins Gespräch einzubinden, es ist zumindest ein bemerkenswerter Umstand.

Mit diesem Widerspruch einer Klage über den Niedergang der Literaturkritik und eine gleichzeitige Nicht-Einbindung nachwachsender Kräfte ist die Veranstaltung aber nicht alleine. Auch bei der SWR-Bestenliste selbst lässt sich dieser Abriss zwischen den Generationen gut beobachten. LiteraturkritikerInnen unter 50 Jahren sind im Gremium Mangelware.

Natürlich ließe sich argumentieren, dass eine solche Jury nur arrivierte Kritikerinnen und Kritiker in ihren Reihen einlädt, die über ein über die Jahre herausgebildetes literaturkritisches Wissen und Sensorium verfügen. Wenn man die jungen (jung hier im Sinne von U40, wenn nicht gar U50) Stimmen, allerdings gar nicht einbindet und ihnen die Möglichkeit nimmt, sich in solchen Runden zu ebenso arrivierten KritikerInnen heranzureifen und ihnen die Chance zum literaturkritischen Wachsen und Ausbilden ihrer Urteilskraft verwehrt, gräbt man sich und seiner Zunft letzten Endes selbst das Wasser ab.

Eine Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem Erfahrungsschatz arrivierter Kräfte wäre wichtig

Hier wie überall sonst wäre die Balance zwischen Nachwuchsförderung und dem geteilten Erfahrungsschatz etablierter Mitglieder im Sinne einer Zukunftsfähigkeit wichtig, um nicht den Anschluss zu verpassen und fürderhin die eigene Relevanz zu wahren. Auch entginge man so der Gefahr einer Überalterung einer Jury, die bei einem solchen Strömungsabriss der Generationen irgendwann droht.

Auch andere Gremien tun sich schwer damit, Nachwuchskräfte einzubinden. Das reicht von Jurys wie der des Büchner-Preises oder der Jury des Deutschen Buchpreises bis hin zu literaturkritischen Formaten wie dem Literarischen Quartett. Sie alle fremdeln damit, junge Stimmen zu fördern und in ihr Tun einzubinden.

Letztgenanntes Format öffnet sich zwar immer wieder in Form von U21- und Zuschauerspezials, die im Rahmen der Leipziger und Frankfurter Buchmesse auf der Bühne mit Gastgeberin Thea Dorn stattfinden, in die Mediathek schaffen es die Ausgaben nur selten. Und noch seltener schafft es ein junger Gast von diesen Ausnahmeveranstaltungen in die reguläre Sendung. Einzig in der Ausgabe vom September 2023 lud man eine Teenagerin aus der U21-Ausgabe ins die „echte“ Fernsehaufzeichnung ein. Bis heute ein Ausnahmefall.

Mit den Jurys von Literaturpreisen ist es nicht anders. So sind aktuell BookTok und dessen junge KonsumentInnen zwar der einzige Anker, die den schrumpfenden Buchmarkt noch halbwegs stabilisieren. In Jurys und den wenigen noch existenten Literaturformaten in Funk und Fernsehen werden sie aber nicht einbezogen. Blogger und Instagrammer sollen Buchpreise eher werbend flankieren und ihnen über ihre Kanäle Aufmerksamkeit verschaffen, denn sie wirklich in die Entscheidungsfindung einzubinden (und wenn das beim Deutschen Buchpreis tatsächlich passiert, dann stellen die Porträts fast immer erst die Profession als BuchhändlerInnen nach vorne, um dann noch kurz ihre Social Media-Präsenz zu erwähnen).

Anschlussfähigkeit an nachkommende Generationen wahren

Viele ambitionierte Nachwuchskritiker*innen hat dieser zweifelhafte Umgang und die Abwertung durch das etablierte Feuilleton und andere Schaltstellen des Literaturbetriebs schon vergrault. Dabei sollte man angesichts der schrumpfenden Plätze für Literaturkritik solche Bemühungen doch ernster nehmen, junge Stimmen einbinden, ihnen die Chance zu Entwicklung zu geben und damit auch die Literaturkritik breiter in der Masse zu verankern.

Natürlich muss man auch Differenzierungskraft an den Tag legen. Nicht jedes BookTok-Buch ist ein literarisches Gespräch wert, nicht jeder BookToker, der ein Buch vor die Kameralinse hält, gleich ein neuer Marcel Reich-Ranicki. Aber es gibt sie eben doch, literarisch versierte, rhetorisch kundige und in ihrem Urteil konsistente Stimmen, die sich nun vermehrt auch BookTok, aber immer noch auch auf Instagram mit seinem Bookstagram, in Podcasts oder gar dem schon wieder recht verwaisten Feld der Literaturblogs tummeln.

Junge LiteraturkritikerInnen, die sich in ihrer Arbeit mit vernachlässigten Phänomenen wie etwa der Literatur aus Osteuropa beschäftigen oder die neue Formen für ein literarisches Gespräch ausprobieren und in der Vermittlung andere Wege gehen; man sollte sie nicht belächeln oder lediglich als unerwünschte Konkurrenz für das eigene Tun zu begreifen. Im Gegenteil: es kann nur guttun, diese Stimmen einzubinden und ihre Perspektiven auf Literaturkritik wahrzunehmen, ganz im Sinne der Anschlussfähigkeit von Literaturkritik an nachwachsende Generationen.

Fazit

Es wäre an der Zeit für Jurys und Formate, sich jungen Talenten zu öffnen und diese aktiv zu suchen und zu fördern. Statt bei den üblichen Verdächtigen zu verharren und jungen Literaturkritikerinnen damit die Chance zur Entwicklung und Etablierung zu verwehren, wäre es höchst dringlich, diese in Formate und Gremien einzubinden, um so nicht am eigenen Ast zu sägen. Schon alleine deshalb, damit wohlgeschätzte Institutionen wie die SWR-Bestenliste auch in 50 Jahren noch Relevanz und Einfluss genießen. Der Generationenumbruch, er müsste jetzt eingeleitet werden, um ihn dann gestaltend zu begleiten und sich so für die Zukunft zu rüsten.

Mit einer kontinuierlichen Förderung junger, kritischer Stimmen könnte es gelingen. Weiter in eine Zukunft zu gehen, in der Literaturkritik Einfluss und Ansehen genießt, das erscheint mir ein Ziel, das uns alle als Literaturinteressierte doch einen sollte. So müsste einem dann auch angesichts der in Frankfurt diskutierten Frage nach der Zukunft der Literaturkritik etwas weniger bang sein und es ließe sich zuversichtlicher nach vorne schauen.


Bildrechte Titelbild: Frankfurter Buchmesse/Anett Weirauch

Vorschaufieber Herbst 2025

Wie jedes Jahr ganz antizyklisch hier wieder meine Vorschau auf die Bücher, die uns in der zweiten Jahreshälfte 2025 erwarten und die mich neugierig gemacht haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der ein oder andere Titel dann auch schon bald hier in der Buch-Haltung besprochen findet.

Wie immer gilt: der Link auf die Buchtitel im Text führt zu den dahinterliegenden Verlagen, die mehr Infos zu den entsprechenden Büchern bereithalten. Und sollte sich jemand mit dem Gedanken eines späteren Kaufs des ein oder anderen hier vorgestellten Buchs tragen, so empfehle ich dringend den Erwerb im lokalen, inhabergeführten Buchhandel, wider die Monotonie von Großkonzernen, die Vielfalt des Buchhandels bedroht.

National

Anselm OelzeDie da oben (Wallstein). Raphaela EdelbauerDie echtere Wirklichkeit (Tropen). Bijan Moini – 2033 (Atrium). Tim Staffel – Wasserspiel (Kanon). Sophia Klink – Kurilensee (Frankfurter Verlagsanstalt).

Angela SteideleIns Dunkel (Suhrkamp). Christoph PoschenriederFräulein Hedwig (Diogenes). Berit GlanzUnter weitem Himmel (Berlin Verlag). Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch (Ars Vivendi). Bernhard Heckler – Die beste Idee der Welt (Kunstmann).

Dora Zwickau – Gesellschaftsspiel (Piper). Christoph NußbaumederDas Herz von allem (Rowohlt Berlin). Annette Selg – Das Jahr bevor ich verschwand (Schöffling). Caroline SchmittMonstergott (park x ullstein). Lina Schwenk – Blinde Geister (C. H. Beck)

International

Anjet Daanje – Das Lied von Storch und Dromedar (aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Friedenauer Presse). Percival EverettDr. No (aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser). Mariette Navarro – Am Grund des Himmels (aus dem Französischen von Sophie Beese. Kunstmann). Bret Anthony Johnston – We Burn Daylight (aus dem Englischen von Sylvia Spatz. C. H. Beck). V. V. Ganeshananthan – Der brennende Garten (aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz. Tropen).

Benoit d`Halluin – Ein Schrei im Ozean (aus dem Französischen von Paul Sourzac. Karl Rauch). Mirinae Lee – Die acht Leben der Frau Mook (aus dem Englischen von Karen Gerwig. Unionsverlag). Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten (aus dem Französischen von Karin Segerer Ben Shattuck – Die Geschichte des Klangs (Hanser). Maria MessinaSterne, die fallen (aus dem Italienischen von Christine Pöhlmann. Friedenauer Presse).

Priya Hein – Das Lächeln von Riambel (aus dem Englischen von Mirjam Nuenning. Gutkind). Ian McEwan – Was wir wissen können (aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes). Arturo Pérez-Reverte – Der Italiener (aus dem Spanischen von Carsten Regling. Folio Verlag). András Visky – Die Aussiedlung (aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp) E. M. Forster – Die längste Reise (aus dem Englischen von Niklas Fischer. Nagel und Kimche).

Hiroko Oyamada – Die Fabrik (aus dem Japanischen von Nora Bierich. Rowohlt). José Rizal – Noli me tangere (aus dem phlippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth. Insel). Kate Chopin – Das Erwachen (aus dem Englischen von Melanie Walz. Dörlemann). Christine Dwyer HickeyAlle unsere Leben (aus dem Englischen von Kathrin Razum. Unionsverlag). Ken Kesey – Seemanslied (aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adam. Märzverlag)

Callan WinkBärenzähne (aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp) Katrina Tuvera – Die Kollaborateure (aus dem philippinischen Englisch von Jan Karsten. Wagenbach). Claudia Lanteri – Die Insel und die Zeit (aus dem Italienischen von Verena von Koskuss. Folio). Kamel Daoud – Huris (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Matthes & Seitz). Gustavo Faverón Patriau – Unten leben (aus dem Spanischen von Manfred Gmeiner. Droschl).

Krimis

Xenophon Kontiades – Die Nacht, in der Pavlos starb (aus dem . Mariana Travacio – Ein Mann namens Loprete (aus dem Spanischen von . Seishi Yokomizo – Die Spatzenmorde von Onikobe (aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Blumenbar). Andreas PflügerKälter (Suhrkamp). Alan Parks – Möge Gott dir vergeben (aus dem Englischen von Conny Lösch. Polar).

Meine besten Bücher 2024

Schnell ging dieses Jahr zu Ende – und auch wenn die weltpolitische Lage von zerbrochener Regierung hierzulande über die Wiederwahl Donald Trumps in den USA bis hin zum gescheiterten Klimagipfel in Baku nur wenig Hoffnungsstiftendes hervorzubringen wusste, so ist doch wenigstens literarisch gesehen dieses Jahr wieder ein höchst vielfältiges und bereicherndes gewesen.

Reinen Eskapismus sollte man dabei allerdings nicht betreiben, denn auch der Buchbranche geht es nicht gut. Schlagzeilen über renommierte Häuser wie den Suhrkamp-Verlag, der einen neuen Eigner bekam, um wieder in sichereres ökonomisches Fahrwasser zu gelangen, weiter schrumpfender mediale Berichterstattung über die Kultur und das Aus von etablierten Fernsehsendungen wie Lesenswert (und damit auch verbunden das Versanden von Debatten über Literatur) dazu noch schrumpfende Kulturetats und damit auch weniger Geld für die wichtige Arbeit von Bibliotheken und Co. – all das lässt nicht unbedingt zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Dennoch will ich mich auch 2025 weiterhin bemühen, so gut ich das neben meiner eigentlichen Arbeit schaffe, hier auf dem Blog der Literatur ein Schaufenster zu geben, auch wenn ich an den Abrufzahlen merke, dass hier ebenfalls das Interesse an der vorgestellten Literatur merklich schrumpft.

Dass sich meine Versuche dennoch eines gewissen Interesses in Form von knapp eintausend Abonnentinnen und Abonnenten erfreuen, motiviert mich weiterhin, dieses Projekt hier nicht einzustellen.

Nach diesen Präliminarien aber nun Vorhang auf für das, um das es anstelle von mir wirklich gehen soll, nämlich die Literatur in Form von diesjährig erschienenen Titel, die für mich ganz besonders herausgeragt haben. Der Klick auf die Cover führt zu den ausführlichen Besprechungen.

Paul Murray – Der Stich der Biene

Paul Murray - Der Stich der Biene (Vorschaubild)

Will man noch einmal eine voluminöse Familiengeschichte lesen, die das Tolstoi’sche Diktum der Familien, die alle auf ihre eigene Art traurig sind, bestätigt? Unbedingt, wenn der Autor dieser Geschichte Paul Murray heißt. Denn er erzählt in Der Stich der Biene literarisch markant von den vier Mitgliedern der Familie Barnes, die im Laufe des Romans höchst lesenswert auseinanderdriften bis hin zur Frage, ob das wirklich noch eine Familie ist, die hier im Mittelpunkt steht.

Nathan Hill – Wellness

Nathan Hill - Wellness (Cover)

Von der ganzen Familie reduziert Nathan Hill in seinem zweiten Streich namens Wellness in seiner erzählerischen Grundkonstellation auf eine Paarbeziehung herunter. Der unterschiedliche Blick auf die Ehe und die Frage, wie eine gelungene Ehe im 21. Jahrhundert aussehen kann, dieser Frage geht der US-amerikanische Schriftsteller in seinem Roman nach, der neben dem genauen Blick auf die Figuren auch durch die stilistische Fülle an Erzählansätzen überzeugt.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Nicole Seifert - Einige Herren sagten etwas dazu (Cover)

Ilse Schneyder-Lengyel, Ruth Rehmann, Christine Koschel oder Elisabeth Plessen – nie gehört? Kein Wunder, wie Nicole Seifert in ihrem Sachbuch Einige Herren sagten etwas dazu zeigt. Denn obwohl sie alle auf den Tagungen der Gruppe 47 lasen, kennt heute kaum jemand ihre Namen. Warum das so ist, das führt die Literaturwissenschaftlerin Seifert in ihrem Buch sehr lesens- und bedenkenswert aus und zeigt, was uns durch die Marginalisierung dieser Autorinnen alles entgangen ist.

Lucy Fricke – Das Fest

Angesichts der Polykrisen unserer Zeit kann man schon einmal die Hoffnung verlieren. Wie schön, dass es da noch Lucy Fricke gibt. Mit ihrem unnachahmlichen Talent für Menschenzeichnungen macht sie einen Regisseur zu dessen 50. Geburtstag selbst zur Figur in einem von einer Freundin wohlorchestrierten Spiel. Diese bereitete ihm einen Fest-Tag, der eindrücklich unter Beweis stellt, dass es nie zu spät ist, sein Leben zum Guten zu ändern.

Ann Napolitano – Hallo, du Schöne

Ann Napolitano - Hallo du Schöne

Ein modernes Update des Klassikers von Little Women von Louisa May Alcott liefert die Autorin Ann Napolitano in ihrem Buch Hallo du Schöne. Sie erzählt darin von und den vielfältigen Herausforderungen, die das Leben für die vier Töchter einer Chicagoer Familie im 21. Jahrhundert bereithält. Was hält eine Familie im Inneren zusammen? Wie tief kann Verbundenheit reichen und wann stößt sie an Grenzen? Das erkundet Ann Napolitano mit ihren Little Women aus Chicago gelungen.

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Uwe Wittstock - Marseille 1940 (Vorschaubild)

Was Flucht eigentlich bedeutet und welchen Einsatz es Fluchthelfer und Flüchtende abverlangte, ihre Leben zu retten, das zeigt Uwe Wittstock in seinem erzählenden Sachbuch Marseille 1940 eindrücklich. Mit Sinn für Komposition und Rasanz schildert er die Schicksale von Franz Werfel, Anna Seghers, Klaus Mann und vielen anderen, deren Fluchtrouten größten teils in Marseille kulminierten – und an deren Rettung ein Mann entscheidend beteiligt war: Varian Fry

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner

Der Wolf kommt – oder sind es eigentlich nicht fremde Menschen, die die dort in der Lüneburger Heide auf Ablehnung stoßen? Markus Thielemann hat einen eminent politischen Roman geschrieben, der die bäuerliche Lebenswelt auf dem Land ebenso beleuchtet wie völkisches Siedlungsdenken. Für mich persönlich mein Favorit auf den Gewinn des Deutschen Buchpreises 2024, der dann aber an Martina Hefter ging. Auch in Ordnung, aber dieser literarische Donner, er grummelt immer noch nach.

Samantha Harvey – Umlaufbahnen

Samantha Harvey - Umlaufbahnen (Vorschaubild)

Eine schwerelos schwebende Erzählstimme, die die Astronaut*innen an Bord einer Raumstation begleitet und der es gelingt, fast immersiv das Leben in der Schwerelosigkeit und die doch unentrinnbare Erdanziehungskraft dort oben zu beschreiben. Dieses Kunststück vollführt Samantha Harvey in Umlaufbahnen, die es damit nicht nur zum Gewinn des Booker Prizes, sondern auch zu einem Platz hier in der Liste geschafft hat.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road

Andrew O'Hagan - Caledonian Road (Vorschaubild)

Mein Favorit des Jahres, der alles das mitbringt, was ich zu schätzen weiß: ein großer Schmöker, vielschichtiges Romanpersonal von Lords bis zu Möchtegern-Gangstern, dazu der über ein Jahr beschriebene Niedergang eines Public Intellectual, der auch als Niedergang des Britischen Weltreichs gelesen werden kann. Das alles bietet Andrew O’Hagan in seinem famosen Roman Caledonian Road, der mich diesen Sommer wunderbar unterhalten hat und mit dem der britische Autor auf den Spuren großer englischer Gesellschaftsromane wandelt.

Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Rom, die Sehnsuchtsstadt, aber auch als Grund für Verzweiflung und das Mittel der Ironie als letzter Rettungsweg: Ihn beschreitet Golo Maurer in seinem ebenso komischen wie liebevollen Blick auf die ewige Stadt. Müll, nicht erscheinende Busse und dann auch noch Klobrillen, die sich allen Fixierungsversuchen verwehren. Das sind Themen, die den Kunsthistoriker und Bibliothekar umtreiben – und mich grandios unterhielten und dem Abgleich mit der römischen Realität im Sommerurlaub standhielten.

Daniel Mason – Oben in den Wäldern

Daniel Mason - Oben in den Wäldern (Vorschaubild)

Ein Grundstück in Massachusetts ist es, das im erzählerischen Mittelpunkt von Daniel Masons drittem und bislang besten Roman steht. Literarisch klug miteinander verzahnt kombiniert Mason Geschichten von der Zeit der Siedler bis in unsere Gegenwart hinein – und verpackt diese Geschichten in ganz unterschiedliche Stile, die von Übersetzer Cornelius Hartz gekonnt ins Deutsche übertragen werden. So entsteht Oben in den Wäldern ein literarischer Garten, der reiche Frucht bringt.

Maike Albath – Bitteres Blau

Maike Albath - Bitteres Blau (Vrschaubild)

Italien als Gastland der Buchmesse präsentierte sich bemerkenswert rückwärtsgewandt und verbannte die Bücher in eine kleine Kammer am Rande der großen Piazza. Wie staunenswert und präsentabel die Fülle an Stimmen und Themen eigentlich ist, das zeigt Maike Albath, indem sie in Bitteres Blau die neapolitanische Literaturszene in den Blick nimmt und durch diesen kleinen Ausschnitt auf das Große Ganze von der Mafia bis Elena Ferrante blickt.

Tana French – Feuerjagd

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Mit soziologisch scharfem Blick erzählt Tana French von dem, was ein kleines Dorf im irischen Hinterland zusammenhält. Doch lässt ein möglicher Goldrausch das komplizierte Gefüge aus Lügen, gegenseitiger Kontrolle und Misstrauen implodieren? Dem geht Tana French in ihrem Roman Feuerjagd nach und gönnt ihrer jugendlichen Heldin Trey und dem pensioneten Polizisten Cal einen zweiten Auftritt, diesmal im glutheißen Sommer, bei dem nicht nur die Sonne vom Himmel brennt.

Percival Everett – James

Percival Everett - James (Vorschaubild)

Welche Chancen in Neuinterpretationen bekannter Kunstwerke liegen, das stellt Percival Everett in James eindrücklich unter Beweis. James erzählt Mark Twains Klassiker Huckleberry Finn noch einmal – allerdings mit einem entscheidenden Kniff. Diesmal steht der Sklave Jim im Mittelpunkt, der von Percival Everett nicht nur seinen richtigen Namen James zurückerhält, sondern vor allem auch eine eigene Stimme. Mit dieser erzählt er uns eine Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde

Leo Vardiashvilis Roman Vor einem großen Walde ist eine hervorragende Einführung in ein Land, das in diesem Jahr die Schlagzeilen dominierte: Georgien. Dessen wechselvolle Geschichte und Zerrissenheit scheint in Vardiashvilis Roman auf, der zugleich von einer Schnitzeljagd auf den Spuren von Hänsel und Gretel erzählt. Nur gibt es hier nicht unbedingt eine Hexe, aber familiäre Geheimnisse, die entdeckt werden wollen.

Scott Preston – Über dem Tal

Ein Jahr, das mit Bauernprotesten begann, endet für mich auch mit einem enorm starken Text aus dem Agrarmilieu, genauer gesagt der Schafzucht. Das Leben von Schafzüchtern am Rande der Legalität ergründet Scott Preston in seinem Debüt Über dem Tal, das mit einer beeindruckenden Sprachmacht aufwartet (übersetzt von Bernhard Robben). Sein Cumbria ist in düstere Farben gepinselt, was das Buch umso eindringlicher macht. Eine echte Überraschung aus dem Nichts, die das Jahr literarisch wirklich enorm stark abgeschlossen hat!

Vorschaufieber Frühjahr 2025

Nur mehr gut 30 Tage, bis das alte Jahr vergangen ist. Grund genug, eine Vorausschau auf die kommenden Bücher zu wagen, auf die ich mich im Frühjahr des kommenden Jahres besonders freue.

Wie immer ist eine handverlesene Auswahl entstanden, die große und kleine Häuser, internationale wie nationale Stimmen und Genres in sich vereint. Hinter den Covern verbergen sich weiterführende Infos zu den Büchern auf den entsprechenden Verlagsseiten. Ein Klick genügt!

Vielleicht ist ja auch für euch der ein oder andere Titel dabei, auf den ihr euch freut. Lasst es mich gerne wissen!

National

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung (Hanser). Tommy Goerz – Im Schnee (Piper). Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin (Klett-Cotta). Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg). Steffen Schröder – Der ewige Tanz (Rowohlt).

Steffen KopetzkyAtom (Rowohlt). Burkhard Spinnen, Charles Wolkenstein – Erdrutsch (Kanon). Antje Rávik Strubel – Der Einfluss der Fasane (S. Fischer). Arno Frank – Ginsterburg (Klett Cotta). David Finck – Der Schwindel (Piper).

Annegret Liepold – Unter Grund (Blessing). Ricarda Messner – Wo der Name wohnt (Suhrkamp). Katharina Köller – Wild Wuchern (Penguin). Rebekka Frank – Stromlinien (S. Fischer). Annett Gröschner – Schwebende Lasten (C. H. Beck).

International

Charlotte McConaghyDie Rettung (aus dem Englischen von Jan Schönherr, S. Fischer). Cristina Henriquez – Der große Riss (aus dem Englischen von Maximilian Murrmann, Hanser). Rachel Kushner – See der Schöpfung (aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt). Jente Posthuma – Woran ich lieber nicht denke (aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Luchterhand). Niall Williams – Das ist Glück (aus dem Englischen von Tanja Handels, Ullstein).

Susan Barker – Old Soul (aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Suhrkamp nova). Taffy Brodesser-Akner – Die Fletchers von Long Island (aus dem Englischen von Sophie Zeitz, Eichborn). William Boyd – Brennender Mond (aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, Kampa), Tan Twan Eng – Das Haus der Türen (aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Dumont). Yael van der Wouden – In ihrem Haus (aus dem Englischen von Stefanie Ochel, Gutkind).

Aurélien Bellanger – Die letzten Tage der Linken (aus dem Französischen von Frank Weigand, Claassen). Gabriela Wiener – Unentdeckt (aus dem Spanischen von Friederike von Criegern, kanon). Colum McCann – Twist (aus dem Englischen von Thomas Überhoff, Rowohlt). Nenad Veličković – Nachtgäste (aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak, Jung und Jung). Jean-Baptiste del Amo – Der Menschensohn (aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes und Seitz).

Liz Moore – Der Gott des Waldes (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, C. H. Beck). Lai Wen – Himmlischer Frieden (aus dem Englischen von Judith Schwaab, Claassen) María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier (aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag). Hugo Lindenberg – Die imaginäre Nacht (aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus). Emma Pattee – Auf der Kippe (aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Piper).

Alan Murrin – Cost Road (aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, dtv). Camilla Barnes – Keine Kleinigkeit (aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Piper). Angie Kim – Happiness Falls (aus dem Englischen von Wibke Kuhn, hanserblau). Amanda Peters – Beeren pflücken (aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit). Essie Chambers – Swift River (aus dem Englischen von Simone Jakob, Eichborn).

Krimi

Andreas Storm – Die Victoria Verschwörung (Kiepenheuer Witsch). Eli Cranor – Ozark Dogs (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, Atrium). Samuel W. Gailey – Tiefer Winter (aus dem Englischen von Andrea Stumpf, Polar Verlag). Louise Doughty – Deckname: Bird (aus dem Englischen von Astrid Arz, Suhrkamp). Nicolás Ferraro – Ámbar (aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, Pendragon).

Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2024

Morgen in einem Monat ist es schon wieder soweit und die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 erscheint. Auch dieses Jahr beteilige ich mich wieder an der wilden Spekulation zum Thema Deutscher Buchpreis. Wie immer versammele ich 20 Bücher, denen ich einen Platz auf der Longlist zutraue.

Nachdem ich meinem Versuch im letzten Jahr, hoffe ich diesmal, meine Tippquote weiterhin stabil zu halten. Etwas schwer getan habe ich mich dieses Jahr tatsächlich, preiswürdige Titel auszumachen. Zumindest bislang war für meinen Geschmack in diesem Lesejahr noch nicht allzu vieles dabei, das sich auf den ersten Blick für eine solche Liste prädestiniert wäre. Und auch unabhängige Verlage fehlen in der Aufstellung in erheblichem Maße. Entschieden habe ich mich für viele höchst gegenwärtige Romane, die inmitten unsere Gegenwart zielen.

Was dann die finale Auswahl aber tatsächlich ausfallen wird – und ob die Jury alle Erwartungen und Vorhersagen unterläuft, das wissen wir erst am 20. August um 10:00 Uhr. Dann nämlich erscheint die diesjährige Longlist zum Deutschen Buchpreis. Bis hierhin meine Tipps:


Was sind eure Tipps? Was könnte sich auf der Liste finden?